Von Martin Vetterli (Aus «Horizonte» Nr. 109 Juni 2016)
Sprachen sind nützlich, wenn es darum geht, sich zu verständigen. Doch sie sind weit mehr als das. Sprachen, insbesondere Fremdsprachen, dienen auch als Archiv wertvoller Informationen. Dies war zum Beispiel im Mittelalter der Fall, wo der grösste Teil der antiken, griechischen Texte unlesbar wurde und aus der fortgeschrittenen, arabischen Wissenschaftswelt wieder ins Latein übersetzt werden musste.
Sprachen erweitern aber auch unser Denken, da gewisse Konzepte nicht in allen Sprachen vorkommen und nur durch diese verstanden werden können. Ein schönes Beispiel ist das Wort Weltanschauung, das auch im Englischen auf Deutsch geschrieben wird. Auch physische Dinge existieren in unserer Wahrnehmung oft erst, wenn sie ein eigenes Wort in unserer Sprache erhalten. Ich denke zum Beispiel an die vielen Vogelarten, welche die europäischen Naturforscher im 18. Jahrhundert in Amerika entdeckten und benamsten (die Vögel existierten natürlich auch vor der Namensgebung und erhielten von den lokalen Völkern ebenfalls Namen).
Von den Neurowissenschaften wissen wir, dass Muttersprachen und Fremdsprachen nicht in denselben Regionen des Hirns verarbeitet werden. Eine Sprache früh zu lernen ist nicht dasselbe für unser Hirn, wie sich diese Sprache später im Leben anzueignen. Keine Überraschung also, dass Kinder, die zweisprachig aufwachsen, fremde Konzepte, Dinge und sogar Menschen scheinbar einfacher “verstehen”.
Die Schweiz besteht aus vier offiziellen Landessprachen. Hinzu kommen viele weitere gesprochene Sprachen, zum Beispiel Englisch, Serbokroatisch oder Portugiesisch. Das Land hat eine lange Tradition und einen subtilen Umgang gefunden, um mit all diesen Sprachen umzugehen, bis rauf in die Bundespolitik, wo jeder Politiker seine eigene Sprache spricht. Diese weltoffene Sprachenpolitik hat übrigens zu vielen, weltweit geschätzten Diplomaten geführt. Sprachen sind in unserem Land eine Art natürliche Ressource. Was andere Länder mühselig versuchen, eine Regenbogennation zu werden, ist bei uns eine gelebte Realität.
Ich bin fest der Überzeugung, dass die Schweiz diesen einzigartigen Ausgangspunkt als Chance nutzen sollte. Klar, es ist nicht aller Ding, mehrere Sprachen zu erwerben. Zudem dominiert das Englische in der Wissenschaft immer mehr. Doch die Möglichkeit, mehrere Sprachen zu lernen, besteht in unserem Land, und wir sollten sie fördern, via interkantonale (und später internationale) Austauschprogramme und die aktive Nutzung der vorhandenen Immigrationssprachen. Die Schweiz sollte sich öffnen, denn mit ihrem Sprachenreichtum ist sie bestens dafür vorbereitet, der vielfältigen Sprachen- und Gedankenwelt zu begegnen und uns dadurch mit neuen Theorien, Innovationen und technologischen Fortschritten zu überraschen. Mit andern Worten: Die Sprachenvielfalt gehört zu unserer nationalen DNA, und wie in der Biologie führt dieser Reichtum an Ideen für unser Land langfristig auch zu einer höheren Widerstandsfähigkeit – oder, um ein präziseres Fremdwort zu benutzen, resilience.