Am 5. März 2021 protestierten 78 Journalistinnen gegen eine sexistische Arbeitskultur in den Redaktionen von Tamedia. Sie taten dies in einem offenen Brief an die Chefredaktion*. Die Frauen halten darin unter anderem fest, dass ihre Themen-Inputs nicht ernst genommen oder übergangen werden und dass sie weniger zu Wort kommen als ihre männlichen Kollegen, weil ihre Äusserungen in Sitzungen abgeklemmt werden. Ob sich das negativ auf die empfundene Entscheidungsfreiheit bei Journalistinnen auswirkt, wurde anhand der Daten der «Worlds of Journalism»-Studie untersucht.
Von Jana Giger, Alina Kilongan, Sophie Ambühl, StudentInnen Bachelorstudiengang Kommunikation am IAM Institut für Angewandte Medienwissenschaft
«Du bist hübsch, du bringst es sicher noch zu was.»
Zitat aus dem Brief von 78 Journalistinnen an die Chefredaktion von Tamedia vom 5. März 2021
Gleichberechtigung schreiben sich viele Unternehmen auf ihre Fahne. Doch dass die auf Papier gebrachten Ansätze im Alltag oft nicht umgesetzt werden, zeigt das Beispiel bei Tamedia vom vergangenen März: 78 Journalistinnen unterzeichneten einen öffentlichen Brief an die Chefredaktion, in dem sie mehr Gerechtigkeit, mehr Lohn und neue Standards forderten. Auf sieben von zwölf Seiten beschreiben die Frauen die Situation in den Redaktionen von Tamedia mit konkreten Beispielen. Die Liste ist lang: Beleidigungen, sexistische Bemerkungen, Umgangston, Arbeitsklima, Themeninputs und Geschichten, die nicht aufgenommen werden, erschwerte Entwicklungsmöglichkeiten sowie Lohnungleichheit.
Aber nicht nur bei Tamedia wurde mit dem Brief die Diskussion um die Gleichberechtigung am Arbeitsplatz angeregt. Auch bei anderen Medienschaffenden und in den sozialen Netzwerken fand das Schreiben Gehör. Viele nahmen dazu Stellung und bestärkten die Frauen in ihren Anliegen.
«Es gibt hier was zu Frisuren. Die Frauen im Team wären gefragt.»
Zitat aus Tamedia-Brief
Männer entscheiden vier Mal so viel wie Frauen
Anlässlich des Tamedia-Briefs stellt sich die Frage: Wie empfinden Schweizer Journalistinnen eigentlich ihre Entscheidungsfreiheit bei der Themenwahl? Mit Hilfe der Daten aus der «Worlds of Journalism» Studie lässt sich diese Frage beantworten. Für den Schweizer Datensatz wurden im Jahr 2015 rund 1000 Journalistinnen und Journalisten befragt. Ihnen wurde unter anderem die Frage gestellt, welche Funktion sie momentan innehaben, mit folgender Dreiteilung:
- “Leitungsfunktion”
- “Teilleitungsfunktion”
- “keine Leitungsfunktion”
Sobald man diesen Bereichen noch die jeweilige Entscheidungsfreiheit zuschreibt, sticht bei den Ergebnissen ein besonders markanter Unterschied ins Auge: Frauen ohne Leitungsfunktion, zum Beispiel Praktikantinnen, haben laut der Studie eine rund vier Mal kleinere Entscheidungsfreiheit als ihre männlichen Kollegen in der gleichen Position. Nur knapp fünf Prozent aller befragten Frauen finden, dass sie komplette Entscheidungsfreiheit haben. Bei den Männern hingegen sind es knapp 17 Prozent. Sobald die Funktionen mit mehr Leitung verbunden sind, gleicht sich der Unterschied zwar fast aus, ist bei den Männern jedoch weiterhin stärker ausgeprägt. Nicht überraschend ist, dass die Freiheit bei Personen mit einer Leitungsfunktion grundsätzlich deutlich höher ist.
«Das muss dann aber schon sehr, sehr gut geschrieben sein, sonst bringen wir die Geschichte nicht.»
Zitat aus Tamedia-Brief
Die Männer bestimmen häufiger den Fokus
Neben der Entscheidungsfreiheit ist auch der Schwerpunkt eines Artikels ein ausschlaggebender Punkt für dessen Veröffentlichung. Ein Beispiel: Sagen wir, eine Redaktion entscheidet sich, einen Artikel über die Corona-Impfung zu publizieren. Nun kann dieses Thema auf unterschiedliche Arten beleuchtet werden. Ein möglicher Fokus könnte die Finanzierung der Impfdosen in der Schweiz sein. Der Schwerpunkt der Geschichte läge dann auf dem wirtschaftlichen Aspekt. Erfahren die Lesenden mehr über die Einstellungen der Menschen gegenüber der Impfung, stünde der moralische Aspekt im Zentrum. Welcher Schwerpunkt hervorgehoben wird, hängt von der Verfasserin oder des Verfassers des Beitrages ab. Oder eben nicht. Hier zeigt sich laut der Studie der Unterscheid zwischen den Geschlechtern besonders stark: Männer entscheiden im Vergleich zu ihren weiblichen Kolleginnen doppelt so häufig selbst, welchen Aspekt einer Geschichte sie berücksichtigen.
«Ein Thema mit Kindern. Da sollen sich doch die Frauen drum kümmern.»
– Zitat aus Tamedia-Brief
Weniger Lohn für mehr Verantwortung
Aus den Ergebnissen der Studie lässt sich zudem herauslesen, wie oft Frauen und Männer mit Aufgaben betraut werden, die nicht ihrer Funktion entsprechen. Heisst, sie müssen für Aufgaben die Verantwortung übernehmen, obwohl sie dafür gar nicht qualifiziert sind, geschweige denn bezahlt werden. Erfreulich zu sehen ist hier die Tatsache, dass sich bei diesem Vergleich zwischen den Geschlechtern keine grossen Unterschiede feststellen lassen. Laut der Studie geben 11.3% der Frauen und 10.3% der Männer ohne Leitungsfunktion an, dass sie immer mit leitenden Aufgaben betraut werden. Das ist dann doch jede:r zehnte Journalist:in.
Der Weg zum Ziel ist noch lang
Obwohl die Medien rege über das Thema der Gleichberechtigung von Frauen und Männern berichten, gehören auch sie zu einer Branche, die selbst teils noch weit von einer Gleichstellung entfernt ist. Meist sind ungleicher Lohn oder fehlende Beförderungen ein Thema. Dass sich die Gleichberechtigung aber auch in der Art und Weise spiegelt, was die Leserin oder der Leser schlussendlich in der Hand hält, war bisher kaum bekannt. Der Brief der Tamedia-Frauen spricht nun auch diesen Aspekt der fehlenden Gleichberechtigung an. Frauen müssen sich weiterhin Gehör verschaffen, wenn sie eine ungleiche Behandlung aufgrund ihres Geschlechts erfahren. Es muss klar werden, dass das Problem nicht aus der Welt geschaffen ist, nur weil es im Leitbild und der Vision eines Unternehmens festgehalten ist.
Die Studie «Worlds of Journalism» ist eine internationale JournalistInnenbefragung, die 2007 erstmals durchgeführt wurde. Die hier verwendeten Daten stammen aus der zweiten Phase von 2015 bis 2016, bei der 67 Länder und über 27’500 JournalistInnen teilnahmen. Für die Schweiz erheben Journalistik-Professor Vinzenz Wyss (IAM Institut für Angewandte Medienwissenschaft der ZHAW) und sein Team die Daten.
Jana Giger, Alina Kilongan und Sophie Ambühl studieren im vierten Semester im Bachelorstudiengang Kommunikation am IAM. Im Rahmen des Projektseminars «Datenjournalismus» werteten sie zum Thema Gleichberechtigung im Schweizer Journalismus den Schweizer Datensatz der Studie aus.
Quellen:
*Tamedia – Brief: https://drive.google.com/file/d/1s_maErEQ_2AL8CEAw0eH8xyRRDbRF7bZ/view
Persoenlich.com (2021): “78 Tamedia-Journalistinnen protestieren.“ In https://www.persoenlich.com/medien/78-tamedia-journalistinnen-protestieren (5.6.2021)
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