• Impressum
  • Über uns
Psychologie im Alltag nutzen

Ein Blog der ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften

-->

Browsing Category Psychotherapie

← Older

Corona-Quarantäne – eine Belastungsprobe für Paare?

Posted on 31. März 2020 by Redaktion

***Neue Mini-Blog-Serie***

Beziehungen sind ohnehin nicht einfach. Und in Zeiten von Corona noch schwieriger. Was kann man tun, wenn einen der Alltagsstress auffrisst und man sich mehr und mehr voneinander entfernt? Unsere Dozentin Marlène Vogt stellt eine Methode vor.

Text: Marlène Vogt
Bild: Daniel Cheung

Nicht nur gesundheitlich, wirtschaftlich und organisatorisch stellt uns der Coronavirus vor grosse Herausforderungen, sondern auch beziehungsmässig fordert er uns einiges ab. Haben wir bis vor kurzem noch selbstbestimmt unseren Alltag gestaltet, mussten wir quasi über Nacht auf häusliche Quarantäne umsteigen. Speziell für Paare stellt diese Sondersituation eine Belastung dar.

Unter Stress reagieren wir weniger freundlich und souverän

Weshalb ist das so? Der Grundauslöser für Konflikte, welche im schlimmsten Fall zur Trennung führen können, ist gemäss dem Beziehungsexperten Guy Bodenmann fast immer Alltagsstress. Er führt dazu, dass oft nur noch sachlich/organisatorische Themen miteinander besprochen werden, wie, wer schaut auf die Kinder, wer organisiert den Einkauf, und man den Partner oder die Partnerin wenig daran teilhaben lässt, wie es einem wirklich geht. Es findet kaum noch emotionale Kommunikation und tiefgründiger Austausch zwischen dem Paar statt.
Stress erhöht zudem das Risiko, körperliche oder psychische Probleme zu entwickeln (Rückenschmerzen, depressive Phasen etc.), was eine zusätzliche Belastung darstellt. Und als letzter Faktor kommt dazu, dass wir unter Stress weniger freundlich, souverän und grosszügig reagieren. Unter Stress zeigen wir eher unsere problematischen Persönlichkeitsanteile, wie Rigidität, Gereiztheit, weniger Empathie, Zynismus oder Geiz, welche wir unter normalen Umständen gut unter Kontrolle haben.

So kommt es zu Unzufriedenheit in der Paarbeziehung, weil sich Erwartungen – «wir könnten es doch so schön miteinander haben» – nicht erfüllen. Dies wiederum führt dazu, dass man sich zurückzieht oder anderen Dingen zuwendet und damit die Unterhöhlung der Partnerschaft zusätzlich begünstigt. Eine kontinuierliche Abnahme der Zufriedenheit in der Paarbeziehung ist die Konsequenz davon, was John Gottman und Bodenmann in verschiedenen Längsschnittstudien untersucht und eindrücklich belegt haben.

Die Lösung – ein simples, aber wirkungsvolles Zwiegespräch

Was also tun? Eine gute Möglichkeit, um aus der Negativspirale heraus zu kommen, bietet die Methode des Zwiegesprächs nach Michael Lukas Moeller. Der Ansatz des Arztes und Psychoanalytikers ist simpel und gleichzeitig wirkungsvoll. Er geht davon aus, dass es nicht die eine, richtige Wahrheit in der (Paar-)Beziehung gibt, sondern jede/r von uns eine eigene hat. Um die Wahrheit unseres Gegenübers kennen- und verstehen zu lernen, müssen wir miteinander reden. Dabei geht es aber eben nicht um normale, sachliche Alltagskommunikation, sondern um einen emotionalen Austausch. Das Paar soll sich bewusst Zeit füreinander nehmen und sich gegenseitig mitteilen, wie es einem geht. Normalerweise dauert ein solches Gespräch 60 oder 90 Minuten. In Anbetracht der eingeschränkten Zeiten im Corona-Modus ist es jedoch auch schon bei 15 oder 30 Minuten wirksam.
Hauptsache Sie nehmen sich überhaupt Zeit als Paar.

Was es zwingend braucht:

  1. einen verbindlichen Termin
  2. einen fixen Ablauf
  3. feste Regeln

Der verbindliche Termin: Auch wenn man beim Zwiegespräch sofort Resultate erzielt, ist dieses als langfristiges Projekt zu betrachten. Sinnvoll ist deshalb ein Termin pro Woche immer am gleichen Tag zur gleichen Zeit. Er hat höhere Priorität als alle anderen Termine.

Der fixe Ablauf:  Jede/r Partner/in hat den gleichen Redeanteil. Also wenn sie sich für 30‘ entscheiden, sind das 15‘ am Stück für eine Person, die mit dem Timer gestoppt werden. Danach ist die andere Person dran. Sehr wichtig sind dabei die innere Haltung und Einstellung: Setzen Sie sich offen und zugewandt gegenüber, schauen Sie sich in die Augen und lassen Sie sich weder durch ihr Handy, Ihre Gedanken oder sonst etwas ablenken. In diesem Moment konzentrieren Sie sich voll und ganz aufeinander.

Die festen Regeln: Eine/r spricht, eine/r hört zu.
Regeln für die zuhörende Person: keine Unterbrechungen, Einwürfe, Fragen – auch wenn es noch so verlockend, sinnvoll oder unfair erscheint.
Der/die Sprecher/in spricht nur über sich selbst und wie es ihm/ihr gerade in der Beziehung geht. Achten Sie unbedingt darauf, dass Sie mit ‚Ich-Botschaften‘ sprechen. Widerstehen Sie der Versuchung, Ihre Anliegen in Vorwürfe wie «Nie hilfst du mir» zu verpacken. Die entsprechende Ich-Botschaft könnte z. B. lauten: «Ich fühle mich allein gelassen, ich wünsche mir mehr Unterstützung».  
In der Redezeit ist auch Stille zum Nachdenken möglich und sinnvoll. Sie sollte genau so wenig wie der Redefluss unterbrochen werden. Jede Person entscheidet selber worüber sie sprechen möchte. Wer als zweite/r dran ist kann auf die vorherigen Aussagen Bezug nehmen, muss aber nicht. Es geht in erster Linie um das Gehört werden und erst in zweiter, Probleme zu lösen.

Liebesbeziehungen funktionieren nicht magisch von selbst

Interessanterweise sind viele Menschen der Ansicht, dass eine Beziehung einfach funktioniert, wenn man den oder die richtige/n Partner/in gefunden hat. Das ist natürlich Humbug. Für fast alles andere in unserem Leben besuchen wir Kurse und lassen uns ausbilden, bloss bei Liebesbeziehungen haben wir die romantische Vorstellung, dass diese ganz magisch von selbst funktionieren. Um eine gute Paarbeziehung zu führen, muss ich wissen, wie ich gut kommunizieren kann, wie ich Konflikte austrage, ohne dass dabei zu viel Geschirr zerschlagen wird und ich muss mich selbst gut genug kennen, damit ich weiss, wie ich z. B. unter Druck und Stress reagiere. Das sind alles Kompetenzen, die man unter anderem durch die oben beschrieben Methode erlernen kann und welche die wenigsten Menschen einfach so beherrschen.
Diese Art zu kommunizieren wirkt zu Beginn vielleicht etwas komisch. Man gewöhnt sich aber schnell daran und der Aufwand lohnt sich.

Ich wünsche Ihnen von Herzen gutes Gelingen beim Ausprobieren. Bleiben Sie dran, vielleicht hilft Ihnen die Corona-Krise sogar, Ihre Paarbeziehung im Generellen zu verbessern. Und das wäre definitiv eine erfreuliche Nebenwirkung.

Marlène Vogt ist Psychologin und arbeitet als Beraterin im Bereich Diagnostik, Verkehrs- & Sicherheitspsychologie am IAP Institut für Angewandte Psychologie. Darüber hinaus ist sie als Trainerin, Coach und Paartherapeutin tätig.


Literatur
–Bodenmann, G. (2002). Stress und Coping bei Paaren, 2. Auflage, Bern: Hogrefe.
–Bodenmann, G., Perrez, M. & Gottman, J. M. (1995). Die Bedeutung des intrapsychischen Copings für die dyadische Interaktion unter Stress. Zeitschrift für Klinische Psychologie, 25(1), 1-13.
–Gottmann, J. (1999). Die 7 Geheimnisse der glücklichen Ehe. Weinheim: Schröder-Verlag.
–Moeller, M.L. (1996). Die Wahrheit beginnt zu zweit. Das Paar im Gespräch. Hamburg: rowohlt verlag gmbh.

Resilienz – was steckt dahinter?

Posted on 24. Oktober 2019 by Redaktion

Stress und Burnout sind Begriffe, welche uns täglich begegnen. Die meisten Menschen wissen heute, welche Symptome bei Überlastung zu erwarten sind und woher die verschiedenen Ursachen rühren. Und dennoch scheint sich trotz diesem Bewusstsein wenig in unserem Verhalten zu verändern. Umso wichtiger ist es also, sich mit den Faktoren zu befassen, die unsere Resilienz fördern.

Read More →

Ruanda zwischen Vergebung und Verheissung

Posted on 22. Februar 2019 by Redaktion

Read More →

Willow Wau Wau in der Psychotherapie

Posted on 18. Juli 2018 by Redaktion

Darf ich mich vorstellen? – Mein Name ist Sir Willow Wau Wau von Rechsteiner, ich bin dunkelhaarig, habe eine schlanke, sportliche Figur und bin knapp 3-jährig. Ich esse für mein Leben gern, genauso gern bin ich aber auch draussen in der Natur unterwegs. Dort liebe ich alles, was meine Nase erschnuppern und meine Zähne beissen können, besonders Holz in jeder Form. Seit Kurzem bin ich in meine neue WG gezogen. Ich habe eine ziemlich anstrengende Ausbildung hinter mir, übrigens mit Bravour absolviert, so meine ich, und bin nun als Führhund meiner Menschin immer ein paar Nasenlängen voraus. Read More →

Puzzle-Teile suchen (Quelle: Fotolia)

Die Kunst der Diagnostik ist, das Puzzle zusammenzusetzen

Posted on 17. April 2018 by Redaktion

Klaus Schmeck entwickelt seit mehr als 20 Jahren Instrumente für die Kinder- und Jugenddiagnostik. Am 28. Juni 2018 hält er am 6. Zürcher Diagnostik-Kongress einen Vortrag über Identität und Persönlichkeit im Kindes- und Jugendalter. Read More →

Im Genesungsprozess ist der Weg oft das Ziel

Posted on 21. Dezember 2017 by Redaktion

Richard Rordorf ist Facharzt für Allgemeine Innere Medizin und Hämatologie. Gemeinsam mit seiner Frau gründete er das Praxiszentrum Familienmedizin. Im Interview erzählt er, wie der MAS Systemische Beratung nicht nur seine Sicht auf die Arbeit verändert hat, sondern ihm auch neue Freiräume eröffnete.

Richard Rordorf, Sie haben einen beeindruckenden Weg hinter sich. Wie kamen Sie dahin, wo Sie heute stehen?
Nach Beginn meiner Tätigkeit als praktizierender Hausarzt und Hämatologe 1996 habe ich schon bald zusammen mit meiner Ehefrau nach Möglichkeiten gesucht, zusätzlich zur schulmedizinischen Betreuung die Patienten auch ganzheitlich systemisch, ressourcen- und lösungsorientiert zu begleiten. Gemeinsam haben wir das Praxiszentrum Familienmedizin gegründet. Ausserdem habe ich ständig Weiterbildungen gemacht: NLP, Hypnose und auch körperorientierte Ausbildungen. Eine meiner längsten Weiterbildungen war die Arbeit mit der Resonanzmethode von Gundl Kutschera. Später folgte dann eine Weiterbildung in systemischen Beratungs- und Teamprozesse bei Peter Ryser. Lebenslanges Lernen ist für mich kein leerer Begriff.

Warum haben Sie nun diese Weiterbildung gewählt, was war Ihr Ziel?
Nach jahrelangen Weiterbildungen in hypno-systemischer, ressourcen- und lösungsorientierter Beratung wollte ich eine umfassende Rekapitulation und Vervollständigung meines Wissensschatzes. Dafür suchte ich einen Lehrgang, der sich nicht nur mit der theoretischen Wissensvermittlung begnügte, sondern mir einen unmittelbaren Handlungs-Transfer und vertiefende Trainings bot. 

Inwiefern hat der Lehrgang Ihre Erwartungen erfüllt?

Ich hatte zuvor schon diverse Beratungskonzepte kennen gelernt. Doch schon im ersten Modul dieses MAS haben die Studienleiter Marcel Schär und Imke Knafla uns ein Konzept vorgestellt, das den gesamten Beratungsprozess strukturierte. Es war wie ein möglicher «roten Faden», der für mich besonders hilfreich war als Orientierungslinie, von der ich ausgehen und zu der ich immer wieder zurückkehren kann – egal ob ich im Einzel- und im Mehrpersonen-Setting arbeite.

Was machen Sie heute etwas anders in diesen Beratungen? 
Es ist für mich noch wichtiger geworden, darauf zu achten, wann ich als Arzt oder als Führungskraft in der Rolle des Experten oder des Verantwortlichen die Menschen führen muss (zum Beispiel wenn ich einen Patienten in einer Krise berate, die er und ich nicht alleine bewältigen können), und wann ich als Prozessbegleiter die Patienten, Klienten und Mitarbeiter auf ihrem Weg unterstütze, den sie selbst Richtung Gesundheit, Leidverminderung oder Auftragsziel gehen müssen. Ausgehend von diesem «roten Faden» des Beratungsprozesses kann ich zudem mehr und mehr meinen eigenen Orientierungsrahmen entwickeln. Innerhalb dieses Rahmens kann ich heute die verschiedenen Werkzeuge, die ich in früheren Weiterbildungen kennengelernt habe, mit den neuen Instrumenten, die ich in diesem MAS erworben habe, einordnen und flexibel und kreativ anwenden. Das gibt mir mehr Freiheit und meinen Patienten, Klienten und Mitarbeitenden mehr Möglichkeiten.

Was hat Ihnen der Lehrgang persönlich gebracht?
Die Weiterbildung hat mich auf allen Ebenen weitergebracht, die in meinem Arbeitsalltag wichtig sind: Einerseits erhielt ich mehr Sicherheit und Professionalität zum Beispiel wenn es darum geht die passenden Orientierungsstrukturen für Klientinnen und Klienten zu finden und ihnen das richtige «Werkzeug» in die Hand zu geben. Andererseits gab mir die Weiterbildung mehr Freiheit. Ich habe gelernt, bestimmte Prozesse zu initiieren und zu unterstützen – und manchmal auch einfach die Dinge geschehen zu lassen. Denn gerade im Genesungsprozess ist der Weg oft das Ziel. Ausserdem habe ich ein wertvolles Gut schätzen gelernt: Die Freude. Das klingt vielleicht seltsam, aber wenn man versteht, wie viele Ressourcen und Möglichkeiten selbst in schwierigen Situationen vorhanden sind, wie aus dem Leidensweg etwas ganz Neues entstehen kann oder auch nur zu würdigen, wie man selbst es ermöglichen kann, das Leid erträglicher zu machen – in dieser Erkenntnis liegt tiefe Freude verborgen. Und zu guter Letzt hat mich die Weiterbildung im eigenen Gesundheitsmanagement weitergebracht: Ich gehe heute sehr viel achtsamer und bewusster mit mir selbst und den Systemen um, in denen ich lebe und mich bewege.


Richard Rordorf ist Facharzt für Allgemeine Innere Medizin und Blutspezialist (Hämatologie FMH). Gemeinsam mit seiner Frau gründete er das Praxiszentrum Familienmedizin, das an mehreren Standorten der Schweiz zuhause ist. Richard Rordorf ist Mitglied des Verwaltungsrates und der Geschäftsleitung von systemMed.AG, arbeitet als Lehrbeauftragter der Medizinischen Fakultät UNI Bern und ist Lehrpraktiker FMH für Assistenz-ÄrztInnen.


Der MAS Systemische Beratung vermittelt Kenntnisse in systemischer, ressourcen- und lösungsorientierter Beratung und deren Umsetzung in die Praxis im jeweiligen institutionellen Kontext. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Erarbeitung beraterischer Handlungskompetenz. Erfahrene Praktikerinnen und Praktiker bieten Einblick in ihr beraterisches Wirken und ihre beraterische Erfahrung.

„Fratelli“ – Auf der Suche nach menschlicher Verbindung

Posted on 23. Oktober 2017 by Redaktion

Diesen Herbst verabschiedete das Junge Schauspielhaus nach 66 Aufführungen die atemberaubende Inszenierung von Regisseur Antonio Viganòs „Fratelli“. Im Anschluss an eine der letzten Vorstellungen wurde die Psychologin Anna Sieber-Ratti zur anschliessenden Diskussion mit den Schauspielern und dem Publikum eingeladen.

Text: Joy Bolli, Redaktion ZHAW Angewandte Psychologie
Bilder: Raphael Hadad, Fotograf 

„Fratelli“ – Brüder. In diesen einfachen Titel hüllte Autor Carmelo Samonà in den 1970er-Jahren seine Erfahrungen als Vater eines autistischen Kindes. Im Stück beschreibt er das Zusammenleben zweier Brüder. Während der eine Bruder autistische Züge hat und in seiner eigenen Welt lebt, bemüht sich der andere Bruder darum, das Leben für beide zu meistern. Anfangs erlebt man ihn als einfühlsam. Er versucht nicht nur, den Alltag seines kranken Bruders zu erleichtern, sondern fordert sich selbst immer wieder heraus, den Bruder und dessen Welt zu verstehen, eine Logik in seinen Handlungen zu finden und kommunikativ zu ihm durchzudringen. Was zu Beginn herzerwärmend anmutet, entpuppt sich bald als herzzerreissender Konflikt. Ist es nur der Versuch, den Bruder zu verstehen oder geht es auch darum, ihm die eigene Sicht auf die Welt aufzuzwingen? Geht es nur darum, den anderen sprachlich zu erfassen, oder darum, ihn durch die eigene Sprache in neue Fesseln zu legen? Und ist die totale Fokussierung auf den kranken Bruder Aufopferung oder verbirgt sich dahinter Egoismus? Im Zuschauer keimt die Frage auf, wo die Liebe endet und die Unterdrückung beginnt.

Der autistische Bruder (Fabian Müller) auf der Bühne.

Fabian Müller in „Fratelli“ (Bild: Raphael Hadad)

Wenn Sprache an ihre Grenzen kommt

Antonio Viganòs Inszenierung des Stückes birgt eine tiefe Sensibilität für die menschliche Beziehung. Es geht nicht nur um das Leben mit Autismus. Es geht vielmehr um das Verständnis des Menschseins selbst, um Erwartungen an eine gewünschte „Norm“ und um die Erkenntnis der allgemeinen Andersartigkeit eines jeden. Um die emotionalen Aspekte genauer zu beleuchten, lud das Junge Schauspielhaus im Anschluss an eine der letzten Vorstellungen die Psychologin Anna Sieber-Ratti zu einer Diskussionsrunde mit den Schauspielern Silvan Kappeler und Fabian Müller, der Dramaturgin und Leiterin des Jungen Schauspielhauses Petra Fischer und dem Publikum ein. In ihrer Eröffnung spannte die Psychologin den Themenschirm weit auf und setzte die Problematik der erschwerten Kommunikation mit psychisch kranken Menschen in Relation zur Sprache zwischen Menschen allgemein: „Worte sind nur ein kleiner, wenn auch wichtiger, Teil unseres Sprachvermögens. Der grösste Teil unserer Kommunikation funktioniert jedoch über unsere Körpersprache“, erklärt sie. Und hier liegt die erste und vielleicht bedeutendste Diskrepanz zwischen dem „gesunden“ und dem „kranken“ Bruder. Bereits in der Eröffnung des Stücks, versucht der sorgende Bruder, die Gedanken des Autisten durch rein körperliche Nachahmung zu erfassen. Sein Körper, sein Blick, seine Gesten – in allem versucht er, die innere Logik seines Bruders nachzuvollziehen. Er sucht dessen gedankliche Sprachwelt zu erfassen, in Worte seiner eigenen Sprachnorm zu übersetzen. Er schreibt sie auf, ordnet sie. Doch so sehr er sich bemüht: Weder in der körperlichen noch in der verbalen Sprachwelt dringt er zum anderen durch.

Laut Anna Sieber-Ratti kennen wir alle Situationen von erschwerter oder missglückter Kommunikation. Wer hat sich nicht schon einmal mit einer Freundin oder einem Freund an einem Ort verabredet und wartete dann an der falschen Ecke? „In jeder Beziehung gehen wir davon aus, dass unser Gegenüber uns so versteht wie wir uns selbst“, erklärt die Psychologin. „Wenn wir nicht merken, dass es ein Missverständnis gibt, kann es zu Auseinandersetzungen und sogar zu handfesten Streitigkeiten kommen. In den meisten Fällen geht es dabei um ein Missverstehen, das wir selbst nicht als solches zu enttarnen vermögen“. Und oft, so bestätigen die Stimmen aus dem Publikum, kommt man mit Worten auch einfach an Grenzen. Speziell Kinder und ältere Leute kommen unter Druck, wenn sie den richtigen Ausdruck nicht finden oder bestimmte Gefühle nicht beschreiben können. Auch die missglückte Kommunikation zwischen Eltern und (pubertierenden) Kindern ist ein alltägliches Phänomen. Da kann eine unachtsame Bemerkung zu lebenslangen Narben führen. Und nicht zuletzt berichten einzelne Zuschauer im Publikum über ihre Erfahrungen mit Demenz-Patienten, wo die Kommunikation in ganz bestimmten Formen ablaufen muss, so sie denn überhaupt eine Chance haben soll, beim anderen anzukommen. «Die Kunst erlaubt es uns, auf unsere eigene Beschränktheit aufmerksam zu werden», meint Anna Sieber-Ratti. «Alle Wesen unterliegen bestimmten Beschränkungen und da, wo Sprache an ihre Grenzen kommt, wird sie oft mit Gewalt überwunden». So kommt es auch auf der Bühne zum Gewaltausbruch.

Szene auf der Bühne: Der autistische Bruder (Fabian Müller) hängt am Bein des gesunden Bruders (Silvan Kappeler).

Silvan Kappeler und Fabian Müller in „Fratelli“ nach Carmelo Samonà (Bild: Raphael Hadad)

Loslassen gehört zur Liebe

Während Regisseur Antonio Viganò die Zuschauer langsam in den Strudel der Emotionen hineinsaugt, wird klar, dass der Wunsch nach Verbindung an dem Punkt enden muss, an dem die Liebe die Freiheit in die Enge treibt. Das Spiel mit den Worten wird zur Jagd zwischen Holzkisten und Kronleuchtern, zur Zerreissprobe zwischen eingepferchten Denkmustern und Quellen des Lichts. Die Aufopferung des sorgenden Bruders weicht der Erschöpfung und die Grenzen zwischen Gesundheit und (selbstverschuldeter) Krankheit werden spürbar. So kann nicht ausbleiben, dass sich der Körper irgendwann gewaltsam Luft macht. Der unerwartete Gewaltausbruch des Fürsorgers gegen den autistischen Bruder ist einer der Glanzpunkte der Aufführung, der das zwischen Verständnis und Betroffenheit hin und her gerissene Publikum tief berührt. Die grausame Kraft, die aus dem Nichts zu kommen scheint, die Hilflosigkeit jenseits der Worte, die traurige Wahrheit der Unvollständigkeit des Seins und die Einsicht, dass in der Grenze des Machbaren unsere eigene Ohnmacht liegt. „Gefühle von Schuld, Scham, Angst, Wut, bis hin zur Gewalt; das ist ein Teufelskreis, den wir nicht nur in der Psychotherapie beobachten können“, erklärt Anns Sieber-Ratti. „Sie spiegelt sich auf allen Ebenen und in allen Dimensionen unserer Gesellschaft: im Kreis der Familie, in der Arbeitswelt und sogar in der Politik.“

Der gesunde Bruder (Silvan Kappeler) legt sich neben den kranken (Fabian Müller)

Silvan Kappeler und Fabian Müller in „Fratelli“ nach Carmelo Samonà (Bild: Raphael Hadad)

Nach einem komplexen Bogen um die Kommunikation zwischen zwei Menschen schliesst das Stück mit einer wortlosen Szene: Der gesunde Bruder bettet sich neben den kranken. Er misst den Körper seines ruhenden Bruders im Detail aus, positioniert seinen eigenen Körper exakt in dessen Position und schliesst – nachdem er sich in seelischer Einsamkeit isoliert und sein Denken über Jahre einer autistischen Welt angepasst hat – am Ende auch seinen Körper in die Form des Bruders ein. Ob es der Sieg des Verständnisses in wortloser Hingabe ist oder das letzte Opfer, das ein Mensch einem anderen bringen kann, bleibt offen. Das Publikum ist sich aber einig: Sowohl in der Liebe zu Partnern und Kindern, als auch in der Pflege von bedürftigen Menschen ist das Loslassen und sich selbst nähren ein wichtiger Bestandteil, um selbst gesund zu bleiben. Die konstante Aufopferung bringt weder dem Bedürftigen noch dem Sorgenden auf Dauer Erleichterung. „Erschwerte oder gar missglückte Kommunikation kann dazu führen, dass wir in Annahmen geraten, die uns emotional enttäuschen“, führt die Psychologin aus. „Das beste Beispiel ist wohl die Enttäuschung in der Liebe. Man dachte, man hätte die Liebe des Lebens gefunden und steht sich am Ende vor dem Scheidungsrichter gegenüber, wo die Anwälte das Reden übernehmen müssen“.

Die beiden Brüder sitzen auf der Bühne, Rücken an Rücken lehnend, in liebevollem Gespräch miteinander.

Silvan Kappeler und Fabian Müller in „Fratelli“ nach Carmelo Samonà (Bild: Raphael Hadad)

Suche mich – immer wieder aufs Neue!

Auch die beiden Schauspieler loten die Palette der verbalen und der körperlichen Kommunikation auf der Bühne aus. Die Brüder erschöpfen sich in Sprachspielen, in der wiederkehrenden Rekapitulation von Pinocchios Geschichte, auf der Suche nach gemeinsamen sprachlichen Nennern, dem gemeinsamen Verstehen der Kindergeschichte. Doch während die Spiele für den einen Bruder eine immer dringlichere Suche nach dem Kern seines Gegenübers werden, bleiben sie für den anderen einfach nur Spiele, deren Regeln sich nach seinen Impulsen richten. So erstaunt es nicht, dass der hoffnungsvollste Moment jener ist, in dem die beiden Brüder glauben, sich in sprachlichem Verständnis gefunden zu haben. Nach unzähligen Repetitionen von Pinocchios Abenteuern erreichen beide den springenden Punkt: Pinocchio wird ein Mensch. In dieser Erkenntnis bleiben sie kurze Zeit verbunden – überglücklich. Doch während sich im einen Bruder die Erwartung breit macht, dass nun endlich eine gemeinsame Kommunikation stattfinden kann, entsteht im autistischen Bruder ein eigener Gedanke: „Und dann – dann wird Geppetto zur Holzpuppe!“ Die Freude über diesen neuen Gedanken ist ihm übers Gesicht geschrieben. Ein neuer Anfang, ein neues, noch ungeschriebenes Kapitel, ein eigener, kreativer Schritt in der ewigen Repetition einer alten, vorgegebenen Geschichte. Für den einen ist es ein Erfolgserlebnis. Für den anderen bricht die Hoffnung zusammen. Verzweifelt versucht er, den Bruder auf den gemeinsamen Nenner zurück zu holen: „Pinocchio wird ein Mensch!“ ruft er im zu und will ihn dazu bringen, den neuen Gedanken zu vergessen. Doch der Unverstandene antwortet jedes Mal: „Und Geppetto wird eine Holzpuppe!“ Was soll daran falsch sein? Die Fassungslosigkeit seines Bruders versteht er nicht. „Ich hatte dich doch gefunden“, klagt dieser. Und der Autist antwortet: „Suche mich.“ Seine Stimme kommt aus einer unbewussten Tiefe. Ein Missverständnis? Oder vielleicht die eigentliche Erkenntnis des erfolgreichen Zusammenlebens: Suche mich, erkenne mich – immer wieder aufs Neue! „Wir alle haben eine ‚Blackbox‘ in uns“, erzählt Anna Sieber-Ratti. “Wir werden niemals alles im Anderen verstehen und umgekehrt. Wir müssen uns damit abfinden, dass wir uns in gewissen (extremen) Situationen sogar selbst überraschen können, weil wir nicht wussten, dass das, was da aus uns herauskommt, überhaupt in uns steckte“. So gern sich der Mensch der Illusion hingibt, er könne sich selbst oder andere finden: Allein in dieser Erwartung muss er scheitern – im Stück genauso wie im alltäglichen Leben. Wie oft hören wir im eigenen Umfeld: „Er ist einfach nicht mehr der Mann, den ich vor 20 Jahren kennengelernt habe.“ Oder: „Wir haben uns einfach auseinander gelebt.“ Das bleibt ein Selbstbetrug. Wer denkt, er könne stehen bleiben in dem Moment, in dem er einen anderen gefunden zu haben glaubt, der wird am Ende einsam sein. Und so verlassen die Zuschauer das Theater an diesem Abend mit der Einsicht, dass eine glückliche Beziehung vom Freiraum abhängt, den man sich selbst und anderen gibt, dass Hingabe auch darin besteht, den anderen so zu akzeptieren wie er ist (auch wenn man ihn oder sie nicht versteht), und dass man sein Gegenüber immer wieder mit neuen Augen anschauen muss, um zu erkennen, wie er oder sie sich verändert hat. Denn nichts bleibt, wie es ist. Auch wir selbst nicht.

Video-Trailer der Erstaufführung von „Fratelli“ nach Carmelo Samonà.


Anna Sieber-Ratti ist Dozentin, Supervisorin und Psychotherapeutin am IAP Institut für Angewandte Psychologie. Nach ihrem Studium der klinischen Psychologie an der Universität Zürich machte sie ein Postgraduales Studium in psychoanalytischen Kurztherapien und spezialisierte sich unter anderem in Katathym Imaginativer Psychotherapie (KIP), Psychodynamisch imaginativer Traumatherapie (PITT) und Neuropsychologie. Ihr besonderes Interesse gilt den Zusammenhängen zwischen Mentalisierung, Kunst, Kreativität und Neuropsychologie in den psychotherapeutischen Prozessen. Am IAP begleitet sie als Psychotherapeutin sowohl Einzelpersonen, wie auch Paare in Krisensituationen.

 

 

 

 

 

Fabian Müller, Anna Sieber-Ratti und Silvan Kappeler im Gespräch mit dem Publikum (Bilder: Joy Bolli)


 

Burnout verstehen anhand der PSI-Theorie

Posted on 15. Februar 2017 by Redaktion

Burnout ist ein Begriff, den jeder kennt und kaum einer definieren kann. Selbst für Betroffene ist es oft nicht einfach, den Prozess zu verstehen, der zu ihrem Burnout führte. Die PSI-Theorie zeigt verschiedene Mechanismen auf, die ein Burnout manifestieren können, und beschreibt die Rolle von Emotionen in diesem Prozess. Die PSI-Theorie kann so helfen, das eigene Verhalten zu verstehen und positiv zu verändern.

Von Susanna Borner, Laufbahnberaterin am IAP Institut für Angewandte Psychologie Read More →

Psychische Probleme am Arbeitsplatz – darüber reden wir (nicht)?

Posted on 17. Januar 2017 by Redaktion

Das Thema Psychische Gesundheit und Arbeit ist aktuell und bewegt. Für Betroffene stellt sich die Frage, inwieweit sie ihre Probleme am Arbeitsplatz offenlegen können. Führungspersonen sind oft unsicher, wie sie mit den Problemen ihrer Mitarbeitenden umgehen sollen. In der Veranstaltungsreihe «Fokus z’Mittag» ging der Psychologe Niklas Baer auf die Ängste und Bedürfnisse der Beteiligten ein. Er zeigte sinnvolle Unterstützungsmöglichkeiten und deren Grenzen auf.

Von Maria Sorgo, wissenschaftliche Assistentin und Psychologiestudentin am Departement Angewandte Psychologie der ZHAW

«Würde ich an meinem Arbeitsplatz offen über meine psychische Krise sprechen oder wäre die Befürchtung vor negativen Reaktionen zu gross?», fragte ich mich Read More →

Ressourcen in der Familie erkennen

Posted on 14. November 2016 by Redaktion

Familienprobleme haben weitreichende Auswirkungen, denn jedes Familienmitglied ist persönlich betroffen und somit mitten drin. Oft läuft es dann auch in der Schule nicht mehr rund oder der Druck im beruflichen Alltag wird zur Zusatzbelastung. Das kann schnell zum Teufelskreis werden, der alle Familienmitglieder unsicher macht. Für einen ersten Schritt aus der Krise ist es wichtig, die Ressourcen der Familie zu erkennen, zu schätzen und bewusst zu aktivieren.

Von Imke Knafla, Psychologin am IAP Institut für Angewandte Psychologie

Read More →

← Older
  • Folgen Sie uns

    • RSS Feed
    • Facebook
    • LinkedIn
    • YouTube
  • Kategorien

    • Allgemein
    • Assessment – Sicherheit – Verkehr
    • Berufs-, Studien- & Laufbahnberatung
    • Der Mensch in der flexiblen Arbeitswelt
    • Digitaler Wandel am IAP
    • Digitales Lernen
    • Fachtagungen & Events
    • Führungsentwicklung
    • Interkulturelle Kompetenzen
    • Mini-Blog-Serie
    • Persönlich: …
    • Psychologie im Alltag
    • Psychotherapie
    • Sportpsychologie
    • Zürich Marathon: Mentales Training to go
  • Neueste Beiträge

    • Virtuelle Assessments: Segen der Technik oder unpersönliches Abfragen?
    • Studienbeginn vor dem Bildschirm
    • IAP-Studie: Wie führe ich mich selbst?
    • «Was brauche ich, damit es mir beim Arbeiten gut geht?»
    • Die Führungsentwicklung der Zukunft. Ein Beispiel.
  • Neueste Kommentare

    • Matthias Brack bei Ruanda zwischen Vergebung und Verheissung
    • Michael Nyffenegger bei Surfen auf dem Brett der Ungewissheit
    • Markus Baumann bei Surfen auf dem Brett der Ungewissheit
    • Elisa Streuli bei Surfen auf dem Brett der Ungewissheit
    • Streuli bei Surfen auf dem Brett der Ungewissheit
  • Archive

    • Dezember 2020
    • November 2020
    • Oktober 2020
    • September 2020
    • Juli 2020
    • Juni 2020
    • Mai 2020
    • April 2020
    • März 2020
    • Januar 2020
    • Dezember 2019
    • Oktober 2019
    • September 2019
    • Juni 2019
    • Mai 2019
    • April 2019
    • Februar 2019
    • Januar 2019
    • Dezember 2018
    • Oktober 2018
    • September 2018
    • Juli 2018
    • Juni 2018
    • April 2018
    • März 2018
    • Februar 2018
    • Januar 2018
    • Dezember 2017
    • November 2017
    • Oktober 2017
    • September 2017
    • August 2017
    • Juli 2017
    • Juni 2017
    • Mai 2017
    • April 2017
    • März 2017
    • Februar 2017
    • Januar 2017
    • Dezember 2016
    • November 2016
    • Oktober 2016
    • September 2016
    • August 2016
    • Juli 2016
    • Juni 2016
    • Mai 2016
    • April 2016
    • März 2016
    • Februar 2016
    • Januar 2016
    • Dezember 2015
    • November 2015
    • Oktober 2015
  • Meta

    • Anmelden
  • RSS:
  • RSS
    ZHAW