Psychologisches Diagnostikgespräch

Der Einsatz von Diagnostik in der Psychologie

Psychologische Diagnostik ist ein wichtiger Eckpfeiler der Psychologie und eng mit deren historischen Entwicklung verbunden. Welche Formen von psychologischer Diagnostik haben sich im Laufe der Zeit entwickelt? Und wie wird sie in der Praxis sinnvoll eingesetzt?

Autor: Simon C. Hardegger
Bild: Adobe Stock

Die frühen Wurzeln der Disziplin Psychologische Diagnostik reichen zurück bis ins 19. Jahrhundert und zeigen deren grundlegende Bedeutung: Mit der Gründung eines psychotechnischen Labors 1879 durch Wilhelm Wundt in Leipzig wurden zugleich die Grundsteine für psychologische Diagnostik (damals noch Psychotechnik) und für Psychologie als eigenständiges Fachgebiet gelegt. Sie steht häufig als Anfang oder Vorarbeit einer handlungsorientierten psychologischen Intervention.

«Psychologische Diagnostik – Definition»

Psychologische Diagnostik ist ein Teilgebiet der Psychologie und zugleich ein wichtiger Teil der Berufstätigkeit von Psycholog:innen. Man geht davon aus, dass etwa ein Viertel aller psychologischen Tätigkeiten diagnostischer Natur ist.

Bei der psychologischen Diagnostik geht es darum, bestimmte Merkmale einer Person, Gruppe oder Organisation in einem strukturierten Prozess zu erfassen. Dies geschieht ausgehend von einer Frage- oder Problemstellung basierend auf wissenschaftlichen Methoden und Verfahren z. B. im Hinblick auf Motive, Interessen, Persönlichkeitseigenschaften, Werte, Leistungsfaktoren, Verhaltensaspekte, soziale Einflussfaktoren oder relevante Situationsvariablen. Dabei können Interviewleitfäden, Verhaltensbeobachtungen oder Testverfahren zur Anwendung kommen.

Entwicklung und Fachbereiche

Die frühen Entwicklungen der psychologischen Diagnostik waren im Geist der damaligen Zeit stark auf Testverfahren ausgerichtet und brachten bereits erste wichtige Prinzipien über deren Anwendung hervor, die bis heute gültig sind. Das IAP Institut für Angewandte Psychologie erkannte und systematisierte das entstandene Wissen seit Beginn seiner Existenz 1923 und erweiterte die als Psychodiagnostik genannte Anwendung bereits seit den 1960er-Jahren auf komplexere Praxisanwendungen wie z. B.  die «Talentförderung». Die am IAP entwickelte Praxiskompetenz wurde seit 1937 dem interessierten Publikum zugänglich gemacht, indem erstmals unabhängig von den Universitäten eine Ausbildungsstätte in Psychologie geschaffen wurde.

Aus den Anfängen von psychologischer Diagnostik hat sich mit der Zeit eine zunehmende Spezialisierung in verschiedene Teil-Fachbereiche mit ganz eigenen Anforderungen und Besonderheiten weiterentwickelt wie z. B. Verkehrspsychologie, Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung oder Forensische Psychologie. Die Verkehrspsychologie und Berufseignungsdiagnostik datieren auf den Beginn des 20. Jahrhunderts und waren beide geprägt von sowohl zivilen als auch militärischen Anforderungen.

«Das Ziel von psychologischer Diagnostik besteht darin, handlungsleitende Erkenntnisse für eine Entscheidung, eine Intervention oder eine Beratung zu gewinnen.»

Simon Carl Hardegger

Einsatz von Diagnostik in der Praxis

Beratungssituation. Quelle: Webseite www.zhaw.ch

Die Anwendungsfelder von Diagnostik in der Praxis sind vielfältig:

  • Klassische Eignungsdiagnostik im Rahmen von Rekrutierungs- oder Beförderungsprozessen: im Hinblick auf die Entscheidung, ob jemand eingestellt bzw. befördert werden soll oder eben nicht oder für Aussagen über die Führungsfähigkeit von Personen.
  • Berufswahl- und Laufbahndiagnostik: in der Regel eingebettet in einen beraterischen Rahmen im Hinblick auf selbstgesteuerte Entwicklungsprozesse.
  • Einsatz im Bereich Schulpsychologie: z. B. bei Fördersettings wie Ergänzungsunterricht oder Klassenwechsel sowie zur Begabtenförderung.
  • Verkehrspsychologische Diagnostik: Auswahl von Berufspersonal für Tätigkeiten wie Schienenfahrzeugführende, Busfahrer:innen, Schiffsführende, Pilot:innen, aber auch die Abklärung von leistungsschwachen oder straffälligen Verkehrsteilnehmenden zum Schutz der Allgemeinheit.
  • Sicherheitspsychologische Diagnostik: Eignungsdiagnostik im Sicherheitskontext unter Anwendung einer Risikoperspektive: z. B. Arbeit in Sicherheits- und Rettungsorganisationen oder Kernkraftwerken.
  • Klinische Psychologie: z. B. Identifikation psychischer Beeinträchtigungen und Leidensformen, um geeignete Massnahmen zu definieren sowie therapeutische Settings aufzusetzen.
  • Rechtspsychologie: z. B. zur Feststellung von Schuldfähigkeit oder Rückfallprognosen oder im Rahmen von aussagenpsychologischen Gutachten.

Der Mensch als Risiko

Eine noch junge Form von psychologischer Diagnostik besteht in der Beurteilung von menschlichen Risikofaktoren im Berufskontext. Dabei steht die Betrachtung des Menschen als Träger:in von Risikofaktoren mit potenziellen Schädigungskonsequenzen im Vordergrund. Solche Arten menschlicher Risikofaktoren sind z. B.:

  • Inkompetenz im Sinne von Nicht-Wissen oder Nicht-Können
  • Selbstschädigung z. B. durch Missbrauch von Alkohol, Drogen oder Medikamenten
  • Menschliches Fehlverhalten im Zuge von z. B. Ablenkung, Gedächtnislücken, Fehleinschätzungen etc.
  • Lasche Arbeitseinstellung z. B. mit der Tendenz zu minimalistischem Verhalten
  • Übertretungen von Regeln entgegen klaren Anweisungen
  • Vorsätzliche Regelbrüche z. B. in Form von Betrug, Informationsmissbrauch, Mobbing, Sachbeschädigung, Diebstahl, sexuelle Belästigung etc.
  • Destruktives Führungsverhalten, sei es als Folge von Inkompetenz oder einer egoistisch-ausbeuterischen Grundhaltung

Psychologische Risikodiagnostik verfolgt schliesslich folgende Ziele:

  • Präventives Schaffen von günstigen Voraussetzungen im Hinblick auf Sicherheit im Sinne eines sicheren Systemzustands
  • Vermeiden von Sach-, finanziellen, physischen oder psychischen Schäden
  • Schutz der Vorteile und Werte einer Organisation und der Menschen darin bzw. auch der mit der Organisation nach aussen in Interaktion stehenden Menschen und Organisationen oder der Umwelt.

Risikodiagnostik in der Praxis – ein Fallbeispiel

Betrachten wir ein kurzes Fallbeispiel: Eine national tätige Organisation führte eine gross angelegte Risikoanalyse durch. Dabei ist sie darauf gestossen, dass für bestimmte Funktionen Integritätsrisiken bestehen, die im Extremfall katastrophale Konsequenzen haben können. Aus diesem Grund wollte die Organisation solche Integritätsrisiken bei Neueinstellungen systematisch untersuchen lassen.  

Für die Untersuchung durch das IAP wurde ein trimodales Setting angelegt:

  1. Ein psychologisches Testverfahren im Umfang von 75 Minuten
  2. Ein 2.5 Stunden dauerndes, strukturiertes Interview mit Ausrichtung auf Risikoaspekte wie
    z. B. Persönlichkeit, Normen, Antriebsdynamik, Beeinflussbarkeit, Motive Werte, Biografie, Lebensstil und Destruktivität
  3. Eine Rollensimulation zur Überprüfung der Beeinflussbarkeit

Die Auswertung erfolgte durch den folgenden Prozess: Identifikation von Auffälligkeiten – Bilden von Risiko-Clustern – Bewerten der Risiken und Empfehlungen zur Risikokontrolle. Die Untersuchung wurde durch zwei spezialisierte Psycholog:innen durchgeführt und in einem Auswertungsbericht ausführlich dokumentiert. Als Abschluss der Analyse wurden die Resultate mit der auftraggebenden Organisation besprochen.

Weitere Informationen:

Einen vollständigen Text zum Thema (inkl. aller Quellenangaben) finden Sie im Beitrag «Psychologische Diagnostik – ein wichtiger Eckpfeiler in der Psychologie» im 4. Kapitel des Buchs «Was bewirkt Psychologie in Arbeit und Gesellschaft?» (Hrsg. Christoph Negri und Maja Goedertier). Das Buch ist im Mai 2023 anlässlich des 100-Jahr-Jubiläums des IAP im Springer-Verlag erschienen.

Laden Sie das Kapitel 4 aus dem Buch hier herunter.

Simon Carl Hardegger ist ausgebildeter Psychologe und arbeitet als Dozent und Berater am IAP Institut für Angewandte Psychologie. Er leitet das Zentrum Diagnostik, Verkehrs- & Sicherheitspsychologie.


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