Barrieren sind vor allem im Kopf

Am 17. Mai 2016 fand am Departement Angewandte Psychologie der ZHAW ein „Fokus z’Mittag“ im Rahmen der Diversity-Strategie statt. Die Psychologin Gabi Rechsteiner führte uns dabei in ihre Arbeit als blinde Psychotherapeutin ein und brachte uns eine Welt näher, die den meisten von uns unbekannt war.

Von Filomena Sabatella, wissenschaftliche Mitarbeiterin, ZHAW Angewandte Psychologie

Ich merke, wie ich etwas nervös da sitze, während ich auf den Beginn der Veranstaltung warte. Ich habe mir zwar schon vorgestellt wie es wäre, einen meiner Sinne zu missen – nicht zu hören, zu sehen oder zu riechen. Doch zu Ende gedacht habe ich solche Gedanken nie. Mir konkret vorgestellt, wie ich weiterhin meine Arbeit ausüben könnte und meinen Alltag bewältigen würde. Weil es Angst macht, weil man sich damit nicht auseinandersetzen möchte. Nun sitze ich im vollen Vorlesungsraum und warte gespannt auf Gabis Ausführungen. Das Publikum ist durchmischt, es sitzen viele Studierende da, die sich Zeit genommen haben, trotz intensivem Semesterschluss. Auch viele Mitarbeitende der ZHAW sind hier, die wohl auch über eine volle Agenda klagen.

Fragend dreinschauen bringt hier nichts!

Bereits im ersten Satz schafft es Gabi, mir die Nervosität zu nehmen. So gelassen wie sie auftritt, das beeindruckt mich. Sie muss es gewohnt sein, vor Publikum zu reden. Sie wirkt sehr entspannt, obwohl sie es wahrscheinlich nicht ist. Mit viel Humor geht sie an das Thema heran und klärt die Verhaltensregeln für die nächste Stunde: „Fragend dreinschauen bringt hier nichts, aufstrecken ist genauso wirkungslos. Seien Sie mutig, fragen Sie einfach!“ Ihre Gelassenheit beschränkt sich nicht nur auf ihr Auftreten und die Tatsache, dass sie vor einem Publikum spricht, von dem sie weder weiss wie viele Leute dasitzen, noch visuelles Feedback erhält. Nein, auch mit dem Thema Blindheit geht sie gelassen um. Ein Thema, bei dem man immer ein bisschen das Gefühl hat, einen Eiertanz zu machen, wird hier ganz entspannt angegangen. Es ist schnell klar, dass Gabi diese Barriere mit Humor überwindet.

Gabi Rechsteiner steht selbstbewusst vor ihrem PublikumOrdnung muss sein

Als erstes gewährt uns Gabi einen Einblick in ihren Alltag. Wie das Leben einer blinden Psychotherapeutin aussieht, welche Hilfsmittel sie jeweils einsetzt. Sie stellt uns ihren Blindenstock vor: „Das ist JJ“, meint sie schmunzelnd. Anschliessend zeigt sie uns, wie die Technik ihr zur Hilfe eilt: Für das Lesen von Kalendereinträgen und Nachrichten benutzt sie die Vorlesefunktion ihres iPhones. Eine rasant schnelle Stimme liest ihre heutigen Termine vor. Und plötzlich bin ich diejenige, die vor einer Barriere steht, denn ich verstehe kein Wort. Geht sie am Abend ins Pilates? Gabi hat sich an die schnelle Stimme gewöhnt und nutzt diese Hilfsfunktion täglich. Weiter erklärt sie uns, wie wichtig es ist, dass alles immer an den gleichen Platz gestellt wird, damit sie es auch sicher wieder findet. „Ordnung muss sein!“ erklärt sie uns. Einleuchtend, dass man sich daran erinnern muss, wo man was hingestellt hat, um es auch ohne Hilfe wieder zu finden. Doch wie schafft sie es, eine ganze Therapiestunde zu gestalten, ohne sich Notizen zu machen? Da gibt es leider noch kein technisches Hilfsmittel, das ihr weiterhelfen könnte. „Ein gutes Gedächtnis ist auch hier ein Vorteil“, erzählt sie. Dies bringt uns konkret zu ihrer Arbeit als Therapeutin und wie der Umgang mit ihren Klientinnen und Klienten aussieht.

 Blindheit als therapeutisches Mittel?

„Sehen ist für die Psychotherapie nicht zwingend notwendig, aber hilfreich“ erklärt uns Gabi weiter. Ein grosser Teil der Kommunikation findet non-verbal statt. Kann jemand nicht still sitzen, nehmen wir an die Person sei nervös. Schaut sie immer weg beim Sprechen, gehen wir davon aus, die Situation ist der Person unangenehmen oder sie ist gedanklich abwesend. Woher nehme ich diese Informationen, wenn ich mein Gegenüber nicht sehe? Gabi erklärt uns, wie sie das zum Teil durch erhöhte Aufmerksamkeit kompensiert. Hat die Klientin feuchte Hände bei der Begrüssung oder der Verabschiedung? Wieso trippelt der Mann die ganze Zeit mit seinen Füssen? Anderes muss explizit erfragt werden: „Was für ein Gesicht machen Sie gerade?“ Man hat das Gefühl, das Element des Nicht-Sehens könnte durchaus als therapeutisches Mittel eingesetzt werden. Sie lässt sich zum Beispiel die Bilder beschreiben, welche die Klienten gemalt haben. Oder sie lässt sich Aussagen vorlesen, die Klientinnen aufgeschrieben haben und reflektiert diese dann mit ihnen.

Die Teilnehmenden lernen die Brailleschrift kennen

Einfach anders

Es geht nicht lange und jemand aus dem Publikum zieht eine Analogie zu Freud, der während der Therapie keinen visuellen Kontakt zu seinen Patientinnen und Patienten hatte. Der Vergleich ist durchaus spannend, hinkt jedoch ein bisschen. Bei Freud sollte der Therapeut nicht gesehen werden, um unter anderem als Projektionsfläche zu dienen. Die Frage ist nach wie vor: Wie kann man sich das Element des Nicht-Sehens in der Therapie zu Nutze machen? Fast kommt das Gefühl auf, dass Nicht-Sehen sogar ein Vorteil für den therapeutischen Prozess sein kann. Man hat vielleicht weniger Hemmungen, fühlt sich weniger exponiert. Doch Gabi will ihre Behinderung nicht als Superpower verstanden wissen. Sie weist das verklärte Bild, das von der blinden Therapeutin entstanden ist, zurück und will, dass wir die Realität sehen. Sie stellt klar: „Es braucht die Augen“. Auch als suggeriert wird, dass die Abgrenzung womöglich einfacher fällt, wenn man den Menschen nicht sieht, distanziert sie sich davon. Abgrenzung sei eine eigenständige Fähigkeit, die erlernt werden müsse – von Sehenden und von Blinden. Das Publikum begreift langsam, dass Einschränkung in der Arbeit als Psychotherapeutin weder ein Vorteil, noch ein besonderer Nachteil sind. Damit zu leben, ist einfach anders.

Nach dieser Stunde macht mich das Thema weniger nervös. Es ist faszinierend wie entspannt Gabi selber mit ihrer Einschränkung umgeht. Am Schluss der Veranstaltung habe ich mich konkreter mit dem Thema auseinandergesetzt als je zuvor. Einige Barrieren im Kopf sind gefallen, falsche Vorstellungen der Realität gewichen und viele Fragen, die ich mir gestellt habe, beantwortet. Für mich erbringt Gabi eine grossartige Leistung darin, sich in einer Welt zu bewegen,
die nur teilweise auf ihre Bedürfnisse ausgerichtet ist. Wiederum, machen wir das nicht alle?


Portrait von Filomena SabatellaÜber die Autorin
Filomena Sabatella ist seit 2012 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Departement Angewandte Psychologie der ZHAW. Ihr wissenschaftlicher Schwerpunkt umfasst Themen wie Prävention und Früherkennung psychischer Störungen bei Jugendlichen. Nach ihrem Psychologiestudium arbeitete sie viele Jahre in der Privatwirtschaft und an anderen Hochschulen. Seit 2014 ist sie zudem Mitglied der Kommission Diversity des Departements Angewandte Psychologie.

 

 


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