Seit der Einführung von Antidepressiva in den 1960er-Jahren gibt es Diskussionen und Skepsis gegenüber den Pillen, die in der Behandlung von Depressionen eine grosse Rolle spielen. Psychologe Michael Hengartner hat vor kurzem ein Buch zum Thema veröffentlicht und beschreibt in diesem Blog, wieso Forschungsresultate falsch wiedergegeben oder übertrieben werden.
Text: Michael P. Hengartner
Bild: Adam Nieścioruk
Antidepressiva-Verschreibungen haben seit den späten 1980er-Jahren weltweit stark zugenommen. Immer mehr Menschen konsumieren für immer längere Zeitspannen diese Medikamente zur Behandlung von Depressionen. Auch bei Angststörungen und zahlreichen anderen Indikationen wie Stress, Schlafstörungen, chronische Schmerzen oder Menopause-Symptomen werden die Tabletten verschrieben. Diese Entwicklung wird von einigen Ärzten und Experten für öffentliche Gesundheit auch mit Sorge betrachtet, da eine immer aggressivere Medikalisierung normaler Gefühlszustände wie Traurigkeit oder Stress und eine übermäßige pharmakologische Behandlung von weitgehend sozioökonomischen Problemen (soziale Ungleichstellung, Arbeitsplatzunsicherheit) konstatiert wurde. Am Ursprung der anhaltenden Antidepressiva-Kontroverse steht jedoch die weiterhin unklare Wirksamkeit dieser Medikamente unter Berücksichtigung von Verträglichkeit und Sicherheit. In diesem Blog will ich darum einen kurzen Einblick in die Forschung zur Wirksamkeit von Antidepressiva in der Behandlung von Depressionen bieten.
Die Diskussion um die Wirksamkeit von Antidepressiva ist so alt wie die Medikamente selbst
Die Debatte, ob Antidepressiva wirksam sind oder nicht, und wie bedeutsam ihre Effekte sind, wird seit vielen Jahren kontrovers und mitunter emotionsgeladen geführt. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass diese Diskussion so alt ist wie die Medikamente selbst und seit der Einführung der ersten Antidepressiva um 1960 herum besteht. Doch was bedeutet «wirksam» überhaupt? Hierbei ist es fundamental wichtig, die Aspekte der statistischen Signifikanz und der praktischen Relevanz (auch als klinische Signifikanz bezeichnet) zu unterscheiden. Wenn man dies tut, so stellt sich rasch heraus, dass «Befürworter» und «Kritiker» sich oftmals auf unterschiedliche Wirksamkeitskriterien berufen. Für Viele ist der Befund, dass sich die Effekte von Antidepressiva statistisch signifikant von Placebo (einem chemisch unwirksamen Scheinmedikament) unterscheiden, ein klarer wissenschaftlicher Nachweis, dass die Medikamente wirksam sind. Wird die Wirksamkeit der Medikamente jedoch anhand kontinuierlicher Depressionswerte erfasst, so ist der Unterschied zu Placebo zwar statistisch signifikant, der durchschnittliche Effekt ist jedoch so klein, dass seine praktische Relevanz fraglich ist.
«Bloss, weil ein Effekt grösser als Null ist, impliziert dies keinesfalls, dass er bedeutsam und praktisch relevant ist.»
Statistische Signifikanz besagt in diesem Kontext lediglich, dass eine klinisch geprüfte Medikamentenwirkung grösser als Null ist. Bloss, weil ein Effekt grösser als Null ist, impliziert dies keinesfalls, dass er bedeutsam und praktisch relevant ist. Dieser Umstand wurde von Statistikern wiederholt klargestellt, wird in der Evaluation der Wirksamkeit von Antidepressiva aber weitgehend ignoriert. Zur Veranschaulichung: Nehmen wir an, eine Diät-Pille reduziere im Vergleich zu Placebo das durchschnittliche Körpergewicht um 200 Gramm, so wird dieser Effekt in einer grossen Stichprobe von hunderten Studienteilnehmern statistisch signifikant ausfallen (vereinfacht gesagt, der Behandlungseffekt unterscheidet sich überzufällig von Null). Jedoch würde wohl kaum jemand so eine Diät-Pille ernsthaft als nützlich oder wirksam erachten, da der Effekt (eine Gewichtsreduktion von 200 Gramm) unbedeutend klein ist.
Die Medikamente haben sehr wohl psychoaktive Effekte
Die Ergebnisse von klinischen Studien zeigen folglich, dass der klinische Effekt von Antidepressiva zwar grösser als Null ist, sich im Durchschnitt aber nur schwach auf den Schweregrad von Depressionssymptomen auswirkt. Dies gilt übrigens auch für die Lebensqualität und das soziale Funktionsniveau. Das bedeutet aber nicht, dass Antidepressiva grundsätzlich nutzlos oder lediglich Placebos mit Nebenwirkungen sind. Die Medikamente haben sehr wohl psychoaktive Effekte, darunter Sedierung oder emotionale Dämpfung, die von einigen Konsumenten als sehr hilfreich in der Bewältigung ihrer Depression empfunden werden. Die Medikamente können aber auch innere Unruhe, Nervosität, Schlafstörungen und sexuelle Funktionsstörungen verursachen, was sich wiederum negativ auf das Wohlbefinden und die Depressionssymptome auswirkt. Darum bewerten fast die Hälfte der Antidepressiva-Konsumentinnen und -Konsumenten die Wirkung ihrer Medikamente als uneindeutig, nicht hilfreich oder sogar als schädlich. Auch dieser subjektiven Komponente sollte man in der Beurteilung der Wirksamkeit Rechnung tragen.
«Leidtragende sind letztlich die Patienten, welche auf ehrliche und transparente Aufklärung angewiesen sind.»
Wir wissen aber weiterhin, dass viele Wirksamkeitsstudien zu Antidepressiva aufgrund von besonderen Einschlusskriterien (Vorselektion von Studienteilnehmenden, bei denen der grösste Nutzen erwartet wird), Problemen der Statistik (zum Beispiel inadäquater Umgang mit fehlenden Werten und Studienabbrechenden), selektiver Publikation vorteilhafter Ergebnisse (Studien mit negativen Befunden werden oftmals nicht veröffentlicht) verfälscht sein können. Folglich wurde die Wirksamkeit von Antidepressiva in der Fachliteratur künstlich (oder je nach Sichtweise auch missbräuchlich) aufgebläht. Dies hat das Vertrauen in die Forschung zur klinischen Wirkung von Antidepressiva beeinträchtigt und die Kontroverse um deren Wirksamkeit weiter angefacht. Leidtragende sind letztlich die Patientinnen und Patienten, welche auf ehrliche und transparente Aufklärung angewiesen sind, wenn sie eine medikamentöse Behandlung in Erwägung ziehen. Wer sich gerne vertieft mit diesem kontroversen Thema auseinandersetzen will, findet in meinem Buch «Evidence-biased Antidepressant Prescription» eine umfangreiche Darstellung.
PD Dr. Michael P. Hengartner arbeitet als Dozent und habilitierter Projektleiter am Psychologischen Institut der ZHAW. Er ist Teil der Fachgruppe Klinische Psychologie und Gesundheitspsychologie.
Literaturnachweis
-Hengartner MP. Evidence-biased Antidepressant Prescription: Overmedicalisation, Flawed Research, and Conflicts of Interest. London, UK: Palgrave Macmillan; 2021.