Strukturelles Enttäuschungsmanagement – eine ungeliebte (aber zentrale) Führungsaufgabe

Entscheidungen sind ein wichtiger Bestandteil von Management- und Führungsarbeit – und damit sind Enttäuschungen vorprogrammiert. Das strukturelle Enttäuschungsmanagement zeigt auf, wie dieser Prozess funktioniert und wie man die eigene Rolle so gestalten kann, dass Enttäuschungen nicht zwingend zu Frust und Belastung führen.

Text: Elisa Streuli
Bild: Pixabay

Führung bedeutet in Anlehnung an Jörg & Steiger die Einflussnahme von Personen auf andere zur Erreichung von Zielen der Organisation. Auf eine einfache Formel gebracht: Führen heisst, mit Menschen Ziele erreichen. Die Ziele der Organisation sind dabei aber nicht notwendigerweise deckungsgleich mit den Zielen der Beteiligten – sowohl der Geführten als auch der Führungspersonen.

Wenn wir unsere Kursteilnehmenden in der Führungsweiterbildung fragen, weshalb sie eine leitende Position anstreben oder innehaben möchten, sind die Antworten meist «ich möchte gestalten / etwas bewegen / gute Lösungen finden / meine Mitarbeitenden und die Organisation weiterentwickeln / einen Beitrag leisten» usw. Diese Aufgaben gehören alle zur Führung und zeigen die vielfältigen Möglichkeiten der Führungsrolle auf. Gemäss dem Führungskompass nach Pfister & Neumann hat Führung sechs zentrale Aufgaben:

  1. Für Ziele sorgen
  2. Organisieren
  3. Kontrollieren und Beurteilen
  4. Entscheiden
  5. Potenzial entfalten
  6. Für Zusammenarbeit sorgen

In diesem Blog geht es um den vierten Punkt, das Entscheiden und seine emotionalen Auswirkungen.

Entscheiden heisst, Ja und Nein begründet zu unterscheiden
Entscheiden ist Führungsaufgabe. Es ist an der Führungskraft zu klären, wie die Entscheidungen getroffen werden und wer dabei wie einbezogen wird. Die Entscheidungen sollten transparent sein und aufzeigen, unter welchen Grundannahmen sie getroffen wurden.

Dabei stehen Entscheidungen stets im Spannungsfeld unterschiedlicher Erwartungen und begrenzter Möglichkeiten. Häufig ist auch für die Führungsperson nicht klar, welche Folgen eine Entscheidung hat. Entscheidungen werden somit stets zum momentanen Stand des Unwissens getroffen und sind für alle Beteiligten mit erheblichen Unsicherheiten verbunden. Nachdem die Meinungen der relevanten Anspruchsgruppen einbezogen und sorgfältig geprüft wurden, ist es am Ende des Tages doch die Führungsperson, welche die Konsequenzen einer Entscheidung zu verantworten hat, auch dann, wenn sie sich im Nachhinein als falsch herausstellt.

«Ein Entscheid bedeutet immer auch, zu etwas ‘nein’ zu sagen.»

Entscheidungen schaffen Klarheit. Sie geben vor, was getan – und auch, was nicht getan werden soll oder darf. Eine begründete, nachvollziehbare Entscheidung erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass der Prozess als fair wahrgenommen wird und die Mitarbeitenden die Entscheidungen mittragen bzw. umsetzen. Dennoch bedeutet ein Entscheid immer auch, zu etwas «nein» zu sagen und damit Erwartungen und Hoffnungen zu enttäuschen.

Zuhause an unserem Kühlschrank hängt seit vielen Jahren ein Zitat des ehemaligen, sehr erfolgreichen Präsidenten des FC Basel, Bernhard Heusler. Nachdem er zum Wohl der Zukunft des Vereins einen äusserst beliebten Trainer entlassen musste, sagte er: «Ich habe gelernt: Entscheiden heisst auch, die Enttäuschung anderer zu ertragen

Nachvollziehbare Wünsche enttäuschen
Viele angehende Führungspersonen tun sich schwer mit der Vorstellung, dass Führungsarbeit zu einem grossen Teil aus kleinen und grösseren Enttäuschungen besteht, die sie ihren Mitarbeitenden tagtäglich zumuten müssen, wie beispielsweise Wünsche nach interessanteren Aufgaben, längeren Ferien, familienverträglicher Schichtplanung, Beförderung, Gehaltserhöhung, Konfliktschlichtung usw. Die Führungsperson kann diese Wünsche und Erwartungen häufig nicht erfüllen – selbst dann nicht, wenn die Anliegen der einzelnen berechtigt und verständlich sind.

Aus diesem Grund scheuen sich manche Führungspersonen vor dieser ungeliebten Aufgabe und «entscheiden nicht» oder warten damit zu. Doch auch das ist eine Entscheidung – in Abwandlung des Zitats von Paul Watzlawick: Man kann nicht nicht entscheiden. Andere zu enttäuschen ist dabei nicht dem «bösen Willen» oder der Willkür der Führungsperson geschuldet, sondern liegt in der «Natur» – bzw. Struktur – von Entscheidungen. Führung bedingt deshalb strukturelles Enttäuschungsmanagement.

Ansprüche realistisch einschätzen
Zu Enttäuschungen führt eine Entscheidung vor allem dann, wenn vorgängig entsprechende Erwartungen geweckt wurden, dass die Ansprüche des Teams, wenn immer möglich, erfüllt werden. Dies betrifft Erwartungen und Anliegen der Mitarbeitenden, aber auch diejenigen von einer Führungsperson an sich selbst.

«Entscheiden heisst auch, die Enttäuschung anderer zu ertragen.»

Wer mit dem Ziel antritt, permanent für die Mitarbeitenden da zu sein und ihnen in jedem Fall, so weit wie möglich, entgegenzukommen, wird bald vom eigenen Anspruch überfordert sein. Gerade neu beförderte Führungspersonen tun deshalb gut daran, allfällige übersteigerte Erwartungen an sich selbst auf ein realistisches Mass hinunterzuschrauben.

Wie gezeigt, sind kleinere und grössere Enttäuschungen der Mitarbeitenden ein konstituierender Bestandteil von Führung. Vor allem zu Beginn meiner eigenen Führungstätigkeit ist mir dieses strukturelle Enttäuschungsmanagement schwergefallen. In Anlehnung an das oben erwähnte Zitat habe ich gelernt: Führen heisst auch, die Enttäuschung anderer zu ertragen.

Das kann – mal besser, mal weniger gut – gelingen, wenn die Führung die Ansprüche an die eigene Rolle realistisch und demütig einordnet und dabei anerkennt, dass das strukturelle Enttäuschungsmanagement möglicherweise die zentrale Führungsaufgabe ist.

Dr. Elisa Streuli ist Dozentin und Beraterin in der Managementbildung mit Schwerpunkt Konfliktmanagement und -beratung am IAP Institut für Angewandte Psychologie.

Literatur
-Lippmann, E., Pfister, A., Jörg, U., (Hrsg.), 2019. Handbuch Angewandte Psychologie für Führungskräfte, 5. Auflage, Springer.


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