Im Umgang mit der Realität sind wir alleine. Kommunikation ist die dünne Leine, die individuelle Wirklichkeiten verbinden kann.
Von Réda El Arbi, Kommunikationsberater
Ich hab jahrelang mit Drogen meine Realität verändert. Nicht effektiv die physikalische, sondern die individuelle. Mit chemischen oder natürlichen Substanzen hab ich meine Wahrnehmung, meine sinnliche Interpretation der nackten Information verändert. Farben, Geräusche, aber auch logische Zusammenhänge haben sich in meinem Hirn anders entfaltet, als wenn ich keine Substanzen zu mir genommen hätte.
Ich hab so den Konsens, den wir allgemein „Realität“ nennen, verlassen. Nun könnte man meinen, dass ich nach meinem „clean“ werden, also als ich aufgehört habe, Drogen einzuwerfen, wieder in den Konsens zurückkehrte. Das stimmt. Aber nur begrenzt.
Durch meine Erfahrung mit Drogen hat sich bei mir die Erkenntnis verfestigt, dass Realität eben nicht in Stein gemeisselt ist. Zwar gibt es auf der physikalischen Ebene eine messbare Realität, aber auf individueller Wahrnehmungsebene gibts immer nur eine Annäherung, eben einen Konsens. Selbst wenn man auf alle Substanzen, also auch Kaffee oder Nikotin verzichtet, bewirkt der biochemische Mix aus Hormonen, Stimulanzien und Wirkstoffen, wie wir individuell unsere Realität wahrnehmen.
Wirklichkeit ist ein Konsens aus der kleinsten gemeinsamen Schnittmenge unserer Wahrnehmung. Verlassen wir diesen Konsens, wirken wir anormal. Oder wenigstens etwas schräg. Dazu kommt, dass wir unsere Realität unmittelbar nach dem Erfahren redigieren. Glauben Sie nicht? Versuchen Sie’s mal mit ihren Kindheitserinnerungen. Kindheitserinnerungen sind super. Bis man versucht, sie mit anderen – zum Beispiel mit den Eltern – zu teilen und herausfindet, dass alle alles ganz anders wahrgenommen haben.
Aber Wahrnehmung und Erinnerung divergieren nicht nur über Zeit in der Erinnerung, wie beim Beispiel der Eltern, sie konvergieren auch. Fragt man Pärchen im ersten Jahr, wie sie sich kennengelernt haben, kommen oft zwei leidlich unterschiedliche Geschichten zum Vorschein. Fragt man sie dreissig Jahre später, hat sich die Erinnerung gegenseitig angenähert, wurden deckungsgleich und beide können die Geschichte abwechslungsweise in gemeinsamen Worten wiedergeben und vor ihrem inneren Auge spielt sich auch die gleiche Abfolge an Bildern ab. Bilder, die diese Menschen wohl effektiv nie wirklich gesehen haben. Realität ist in der Erinnerung formbar. Aber auch das, was wir durch unsere Sinne wahrnehmen, ist nicht von Mensch zu Mensch gleich. Je nach unserer Bias, nach unserer Lebensgeschichte, nach unserer Stimmung nehmen wir andere Dinge bewusst wahr oder blenden sie aus. Die Gewichtung der Wahrnehmung, die unbewusste Triage der Eindrücke formt unsere persönliche Realität.
Sie sehen, Realität ist keine gegossene Form, Wirklichkeit keine feste Grösse. Die einzige Verbindung zwischen der persönlich wahrgenommen Realität und der Realität der anderen ist Kommunikation. Mit dem Entstehen der Sprache wurde die Isolation des Geistes aufgebrochen. Mit der Erfindung der Schrift konnten Individuen und Gemeinschaften ihre Wahrnehmung, also auch ihre Realität, in eine beständigere Form giessen. Inzwischen leben wir in einem engen Geflecht aus gegossener Realität. Aber auch hier ist wieder das individuelle Verständnis der Sprache und die Interpretation der Bilder ausschlaggebend. Und auch hier divergiert es.
Eine absolute Realität kann erst dann stattfinden, wenn es uns möglich ist, direkt am Geist und der Wahrnehmung des anderen teilzunehmen. Vielleicht kommt ja eine technische oder spirituelle Entwicklung, die uns Menschen aus der Isolation befreit.
Réda Philippe El Arbi ist Blogger und Journalist und arbeitet als Campaigner und Berater im Bereich Kommunikation daran, Informationen von einer persönlichen Wirklichkeit in eine andere zu transportieren. Seine eigenen Erfahrungen mit Drogensucht, Lüge und Selbstwahrnehmung haben ihm ein Verständnis für die kleinen Diskrepanzen zwischen den individuellen Universen seiner Mitmenschen gegeben.
Am 20. November moderiert Réda El Arbi die Fachtagung «IAP Dialog» im Toni-Areal in Zürich.