Mut und Achtsamkeit – Tugenden einer Responsible Leadership

Prof. Dr. Mathias Schüz

Am 25. August 2017 wurde der VW-Manager James L. in den USA wegen seiner Mitarbeit am VW-Abgasskandal zu 40 Monaten Gefängnis und 200.000,- US-Dollar Strafzahlung verurteilt. Der Richter sah in ihm zwar einen loyalen Mitarbeiter, der nur Vorgaben aus der Zentrale eines Unternehmens umgesetzt hatte, das allerdings „seine ethische Verankerung verloren hat im Streben nach mehr Marktanteilen und Profit“. Er hätte aber angesichts der Straftat seinen Chefs widersprechen oder sich überhaupt weigern müssen, die Software einbauen zu lassen. Dem VW-Manager wurde also der fehlende Mut, sich organisationalen Zwängen zu widersetzen, sogar juristisch zum Verhängnis.

Mangelnder Widerspruchsgeist

Wie ihm geht es vielen Führungskräften auf der mittleren Führungsebene. Sie sollen Vorgaben von oben erfüllen, die die unteren Ebenen oft als kaum umsetzbar einschätzen. Insbesondere bei vorherrschender Angst- und Misstrauenskultur wird aufkeimender Widerspruch als Defätismus oder Leistungsverweigerung angesehen. Droht der Verlust des eigenen Arbeitsplatzes oder die soziale Ausgrenzung, wird das eigene ethische Gewissen unterdrückt.

„Courage – Mehr Mut im Management“ fordert daher der erfahrene Manager Stefan Tilk in seinem gleichnamigen Buch, in dem er Beispiele für die kostspieligen Folgen unwidersprochener einsamer Management-Entscheidungen schildert und Strategien zur Belebung des Muts zum Widerspruch vorstellt.

Verdrängte Risiken

Die Organisationsexpertin Dr. Annette Gebauer geht in ihrer gerade veröffentlichen Doktorarbeit „Kollektive Achtsamkeit organisieren – Strategien und Werkzeuge für eine proaktive Risikokultur“ dem Phänomen der Erwartungskonformität gegenüber Vorgesetzten noch weiter auf den Grund. Unter Rückgriff auf Niklas Luhmanns soziologischen Erkenntnissen begreift sie die wesentliche Leistung einer Organisation als „Absorption von Unsicherheit“, oder mit anderen Worten: Als Reduktion von Komplexität. Zu hohe Risikosensibilität, warnende Stimmen, zu viel Rücksichtnahme auf Stakeholderinteressen, soziale oder ökologische Bedenken gegenüber einer Entscheidung sind Störfaktoren, die Effizienz verringern. „Nur durch rigide Selektion neuer Impulse gelingt es Unternehmen, sich auf bestimmte Aufgaben zu konzentrieren und sich vor der Datenflut zu schützen.“

Das Beispiel von VW zeigt, dass die vermeintliche Leistung einer Organisation trügerisch ist und auch eine Falle sein kann. Unternehmensverantwortung, die nur den Shareholder Value als einzigen Massstab für erfolgreiches Handeln ansieht und alle anderen Stakeholderansprüche ausblendet, kann nicht nur ganze Unternehmen zerstören, sondern auch ihre Repräsentanten, wenn sie wegen mangelnden Mutes zum Widerspruch unethisches Handeln zulassen und dafür mit Gefängnis bestraft werden.

Von der individuellen zur kollektiven Achtsamkeit

Deshalb plädiert Annette Gebauer für eine neue Achtsamkeitskultur im „Umgang mit hoher Komplexität, Unsicherheit und Risiken“. Es reiche nicht aus, dass einzelne Mitarbeiter und Führungskräfte in den inzwischen weit verbreiteten Achtsamkeitstrainings sich selbst reflektieren, sondern auch ihre Verhaltensmuster im Umgang mit Kollegen und Vorgesetzten und letztlich mit allen Stakeholdern. Die Umgangsform mit relevanten Handlungsfeldern gelte es dann gemeinsam zu erarbeiten, ob man ihnen gegenüber gleichgültig bleibt oder sich reaktiv, regelorientiert, proaktiv und gar wertschöpfend mit ihnen auseinandersetzt. Durch „Kulturdialoge“ sollten individuelle Einsichten des achtsamen Umgangs mit Unsicherheit als „kollektive Achtsamkeit“ erfasst und in die „Alltagsroutinen“ integriert werden.


1 Kommentar

  • Die grosse Frage heisst somit, wie man diese „kollektive Achtsamkeit“ in die „Alltagsroutine“ wirklich integrieren kann. Hier liegt wohl noch ein riesengrosses Feld vor uns, das entdeckt werden möchte. Ich freu mich darauf, wenn ich hier im einen oder andern Kontext mitwirken kann.


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