Wann, wo und wie lernen wir heute und in Zukunft? Welche Voraussetzungen sind für das Lernen in Organisationen hilfreich? Welche Rolle nehmen dabei das HR, Personalentwicklung und die Führung ein? Die IAP Studie 2022 stellt organisationales Lernen als Veränderungsmotor in den Vordergrund.
Von Anna-Lena Majkovic, Ellen Gundrum und Christoph Negri
Die Digitalisierung prägt die Art und Weise, wie und wo wir arbeiten und zusammenarbeiten. Mitarbeitende und Führungspersonen sind dabei gefordert, laufend Neues zu lernen, sich kontinuierlich neue Kompetenzen anzueignen und im digitalen Wandel weiterzuentwickeln. Digitalisierung bietet neue Möglichkeiten und verändert auch die Art und Weise, wann, wo und wie wir lernen. Darum befasst sich die IAP Studie 2022 damit, wie sich Lernen in der Arbeitswelt 4.0 verändert und welche Lernansätze die aktuellen Bedürfnisse der Organisationen und deren Mitarbeitenden am besten adressieren.
Abbildung 1: Erlebte Veränderungen beim Lernen in der Arbeitswelt 4.0
Wie verändert sich organisationales Lernen in der Arbeitswelt 4.0?
Die Befragten der quantitativen Online-Studie schilderten, welche Veränderungen sie beim Lernen in ihren Organisationen erleben. Abbildung 1 benennt die Zunahme von Online-Lernformaten, verstärkte Selbstorganisation und Selbstverantwortung, soziales Lernen in Netzwerken sowie zeit- und ortsunabhängiges Arbeiten als Veränderungsmerkmale.
Kritisch erwähnen die Befragten die verfügbaren zeitlichen Ressourcen: Fast die Hälfte der Befragten betont, dass eine zu hohe Arbeitsbelastung kaum zeitliche Ressourcen für die berufliche Weiterentwicklung ermöglicht.
Abbildung 2: Aktueller Einsatz von Lernformen in Organisationen
Traditionelle Lernformen noch weit verbreitet
Die Frage nach Art und Verbreitung verschiedener Lernformen in den Organisationen zeigt, dass traditionellere Lernformen wie Präsenzkurse und Learning-on-the-Job weiterhin sehr verbreitet in Organisationen sind. Veranstaltungen zum Erfahrungsaustausch und Networking geben aktuell nur 16 Prozent der Befragten als häufig eingesetzte Lernform an. Blended Learning – also die Kombination aus Präsenzlernen und digitalen Lernformen – wird von etwa zwei Drittel der Befragten als angebotene Lernform angegeben, jedoch nur 26 Prozent geben an, dass diese bereits häufig eingesetzt wird (s. Abbildung 2).
Abbildung 3: Erwartungen an HR/PE in 5 Jahren
Hohe Erwartungen: HR und Personalentwicklung (PE) vielseitig gefordert
Die IAP Studie stellte die Frage nach einer Einschätzung, welche Erwartungen zukünftig in fünf Jahren an HR/PE gestellt werden. Die Antworten machen deutlich, dass die formulierten Erwartungen vielseitig und mit sehr hohen Ansprüchen verknüpft sind. HR/PE wird als die Funktion gesehen, die das Lernen in der Organisation durch den Einsatz von Learning Analytics optimieren soll (77 Prozent). Auch die Erwartung, dass HR/PE Mitarbeitende individuell im Lern- und Entwicklungsprozess berät, nimmt nach Einschätzung der Befragten weiter zu (69 Prozent) (s. Abbildung 3).
«Die Veränderung verläuft hin zu individualisierten Lernplattformen. Bei Streaming Diensten wie Spotify bekommen wir nach kurzer Nutzung bereits Playlists angeboten, die unserem Musikgeschmack entsprechen. Mit dieser Erwartungshaltung schauen Mitarbeitende, welche individuellen Lernangebote HR/PE-Verantwortliche machen. Und was jemand nicht braucht, sozusagen nicht «hören» mag, sollte dann als Angebot nicht auftauchen.»
Dr. Christoph Schmitt, Senior Expert für Organizational Design bei Bank Julius Bär
Die Führungskraft als Coach, Lernbegleiter und Change Manager
Die Interviews thematisierten die sich verändernde Rolle von Führungskräften bei der Begleitung von organisationalem Lernen in der Arbeitswelt 4.0. Die Führungskraft wird zunehmend als Coach und Lernbegleiter gesehen. Die Führungskraft unterstützt und begleitet Mitarbeitende bei ihrer beruflichen Entwicklung, gibt Feedback und steht als Coach und Mentor zur Verfügung. Die Förderung von Selbstverantwortung und Selbstorganisation in Teams steht im Vordergrund, welche Mitarbeitende ermutigt, Verantwortung für die eigene berufliche und organisationale Entwicklung zu übernehmen. Die Führungskraft als Change Manager begleitet agile und strukturelle Veränderungsprozesse in Unternehmen. Hier empfiehlt es sich bei vielseitigen Anpassungen den Mitarbeitenden auch aufzuzeigen, welche Bereiche stabil bleiben. Eine Überforderung der Mitarbeitenden angesichts vielseitiger parallel verlaufender Veränderungen gilt es zu vermeiden.
«Führungskräfte müssen sich heute vermehrt mit der Aus- und Weiterbildung ihrer Mitarbeitenden auseinandersetzen. Es genügt nicht mehr, einfach nur den Besuch eines Kurses zu bewilligen. Die Ansprüche der Mitarbeitenden bezüglich Weiterbildung sind grösser geworden und die Veränderungen in der Arbeitswelt erfordern ständiges Lernen.»
Gabriele Brönimann, Leiterin der Personalentwicklung und Ausbildung, stellvertretende HR-Leiterin von SRF
Abbildung 4: Zukünftige Lernformen
Lernen in Zukunft
Nach der zukünftigen Entwicklung von Lernformen in fünf Jahren gefragt, sehen 45 Prozent, dass Präsenzkurse auch in Zukunft angeboten werden, gehen aber davon, dass diese seltener als heute eingesetzt werden. Bei Veranstaltungen zum Erfahrungsaustausch und Coaching/Mentoring schätzt etwas mehr als die Hälfte der Befragten, dass diese in Zukunft häufiger eingesetzt werden. Insbesondere bei Blended Learning – also der Kombination aus Präsenzkursen und digitalen Lernformaten – prognostizieren 67 Prozent der Befragten, dass sich dessen Nutzung in den nächsten fünf Jahren verstärken wird (s. Abbildung 4).
Konsequenzen für die Praxis
Lernen findet heute immer und überall statt. Organisationen sind gefordert, Rahmenbedingungen zu gestalten, flexible und vielfältige Lernangebote zu machen, die Mitarbeitende dabei unterstützen. In der Arbeitswelt 4.0 übernehmen Mitarbeitende vermehrt Selbstverantwortung für das eigene Lernen und die eigene berufliche Laufbahnentwicklung.
Gleichwohl formulieren die Befragten hohe Erwartungen an die zukünftigen Rollenbilder von HR und PE (u.a. Stärkung von HR als Business Partner, innovative Trendforschung und Formulierung erfolgskritischer Kompetenz- und Entwicklungsfelder). Die hohe Arbeitsbelastung seitens der Befragten verdeutlicht, dass Mitarbeitenden die zeitlichen Ressourcen im eng getakteten Tagesgeschäft zum Lernen fehlen. Lernen ermöglichen und Mitarbeitende in ihrer Laufbahnentwicklung fördern wird als wesentliche zukünftige Aufgabe von Führungskräften und HR/PE in der Arbeitswelt 4.0 formuliert.
Die Arbeitswelt verändern sich. Und sie verändert uns. Was gestern noch in Stein gemeisselt schien, hat morgen vielleicht keine Bedeutung mehr. Wissen und Erfahrungswerte verändern sich entsprechend schnell. Unternehmen stehen vor der Herausforderung, agiler und flexibler zu agieren. Hierfür benötigt es Unternehmenskulturen, die Lernen aus Fehlern und schnelles neu sortieren ermöglichen. Lernförderliche Kompetenzen gilt es zu stärken, die Mitarbeitende als selbstreflektierte Individuen aber auch als kooperative Teammitglieder verantwortungsvoll agieren lassen. Betriebliche Aus- und Weiterbildung darf nicht mehr als «nice to have», sondern als Grundvoraussetzung für Innovation und Wachstum von Unternehmen verstanden werden.
Das IAP Institut für Angewandte Psychologie führt seit 2017 die Studien-Reihe «Der Mensch in der Arbeitswelt 4.0» durch. Dabei werden Fach- und Führungspersonen in der Schweiz befragt, wie sie den digitalen und agilen Wandel der Arbeitswelt erleben und bewerten. Die IAP Studie 2022 stellt das Lernen in den Mittelpunkt und befasst sich damit, wie sich Lernen in der Arbeitswelt 4.0 verändert und welche Lernansätze die aktuellen Bedürfnisse der Organisationen und deren Mitarbeitenden am besten adressieren. Die Studie umfasst eine quantitative Online-Umfrage und qualitative, strukturierte Interviews mit Führungspersonen und Fachpersonen aus HR und Personalentwicklung aus Unternehmen in der Schweiz. Den ganzen Studienbericht finden Sie unter www.zhaw.ch/iap/studie.
Dr. Anna-Lena Majkovic ist wissenschaftliche Mitarbeiterin IAP Leitung. In Co-Leitung verantwortet Sie die IAP-Studienreihe «Der Mensch in der Arbeitswelt 4.0», dazu gehört auch die Studie «Lernen in der Arbeitswelt 4.0».
Ellen Gundrumist Stabsstellenleiterin Strategische Marktbearbeitung und Strategische Projekte am IAP. In Co-Leitung verantwortet sie die IAP-Studienreihe «Der Mensch in der Arbeitswelt 4.0», dazu gehört auch die Studie «Selbstführung in selbstorganisierten Arbeitskontexten».
Prof. Dr. Christoph Negri ist Arbeits- und Organisationspsychologe, Fachpsychologe für Sportpsychologie, SBAP und Leiter des IAP Institut für Angewandte Psychologie. Er arbeitet als Dozent, hat Beratungsmandate für verschiedene Profit- und Non-Profit-Organisationen inne und ist Experte für Führung in der Arbeitswelt 4.0 und Lernen.