Diesen November ist die 3. Auflage des Buches «Identität im Zeitalter des Chamäleons. Flexibel sein und Farbe bekennen» erschienen. Im folgenden Interview erzählt der Autor und Psychologe Eric Lippmann von den neuen Studien und Erkenntnissen, die er in die aktuelle Auflage integriert hat.
Von:Joy Bolli, Redaktorin, ZHAW Angewandte Psychologie
Herr Lippmann, Ihr Buch «Identität im Zeitalter des Chamäleons» war schon in seiner ersten Auflage 2013 seiner Zeit voraus. Nun ist bereits die dritte Auflage erschienen. Was macht das Buch so brandaktuell?
Wir leben in einer immer stärker fragmentierten Welt. Das zeigt sich nicht nur in der Aufsplitterung von Kunden- oder Zielgruppen, von Social-Media-Kanälen und Alter Egos oder Avataren im Netz. Oft spricht man gar von der Aufsplitterung des Subjekts. In meinem Buch gehe ich der Frage nach, ob es in unserer Multioptionsgesellschaft überhaupt noch möglich ist, eine gewisse Einheit seiner eigenen Person zu erfahren, oder ob Identität eine Fiktion ist. Ich erläutere dies anhand der fünf Säulen der Identität, einem Konzept aus der Gestaltberatung. Bei allen fünf Säulen – Beziehungen, Arbeit, Leiblichkeit, Besitz und Glaube/Sinn – zeige ich auf, wie die Fragmentierung des Selbst praktisch alle Kernbereiche unseres Lebens durchzieht.
Besonders interessant ist ihr Ansatz, dass die Fragmentierung schon pränatal stattfindet. Können Sie das genauer erklären?
Die heutigen technischen Möglichkeiten erlauben eine vielfache Mutter- und Vaterschaft, zum Beispiel in der Kombination von Samenspenden und der Aufbewahrung von Eizellen. Auch kultur- und länderübergreifende Leihmutterschaft und die verschiedenen Formen sozialer Elternschaft erweitern die Frage nach der Herkunft und einem zentralen Identitätsfaktor. In den letzten fünf Jahren sind ein paar anschauliche Beispiele bekannt geworden, die ich in der neuen Auflage mit den Leserinnen und Lesern teilen wollte: Ich denke da etwa an das Phänomen des „social freezings“, den Streitigkeiten rund um Leihmutterschaften oder an skurrile Beispiele wie dasjenige einer 65-jährigen Grossmutter in Deutschland, welche Vierlinge bekommen hat. Aber auch die anderen Felder der sozialen Beziehungen wie Partnerschaften oder virtuelle Welten werden in der Postmoderne vielfältiger und beliebiger. Konkrete Beispiele sind etwa die Gefahren von «Fake-Identitäten» oder Cybermobbing. Es gibt zudem eine interessante Studie, die aufzeigt, dass viele Jugendliche mehrere verschiedene Facebook-Profile anlegen, auf denen sie ein massgeschneidertes Ich präsentieren für die jeweils passende Zielgruppe wie Eltern, Schulkameraden oder Freunde.
Ursprünglich stammt die Chamäleon-Metapher aus Woody Allens Filmklassiker «Zelig», welcher ja als «Menschliches Chamäleon» in die Filmgeschichte einging.
Ja, der Film dient gewissermassen als roter Faden durch das Buch, indem ich zu jeder der fünf Säulen «Zelig» interpretiere. Speziell habe ich diese Metapher bei der Säule Arbeit verwendet und aufgezeigt, dass für Veränderungsprozesse in Organisationen die Eigenschaften eines Chamäleons sehr hilfreich wären, wenn wir (vor allem natürlich als Führungskräfte) diese übertragen und leben würden. Es geht darum, flexibel zu sein und Farbe zu bekennen. Dabei führe ich neuere Formen der Flexibilisierung auf und verweise auf paradoxe Konzepte wie «mobiles Arbeitskraftunternehmertum». Bei solchen Konzepten stellt sich natürlich die Frage, wie Führung in Unternehmen in Zukunft gestaltet werden soll. Es ist deshalb nicht erstaunlich, dass Konzepte wie «Selbstorganisation» oder «laterale Führung» in letzter Zeit einen Aufschwung erlebt haben. Aber auch bei der Säule Leiblichkeit lässt sich die Metapher verwenden. Denken Sie nur an Ray Kurzweils Buch «Singularity Is Near», in dem er schon vor 10 Jahren die Verschmelzung von Mensch und Maschine als medizinischen Fortschritt vorausgesehen hat, oder die sehr umstrittene Diskussion der Transhumanisten, die davon ausgehen, dass wir in wenigen Jahren virtuelle Körper haben und in verschiedenen Umgebungen unterschiedlich aussehen werden.
Sie gehen im Buch auf eine Vielzahl von Theorien, Konzepten und Autoren ein, verknüpfen sie und zeigen grössere Zusammenhänge auf – speziell bei den Säulen «Materielles» und «Glaube/Sinn».
Ja, das ist richtig. Ich schaue mir gerne das «bigger picture» an. In der psychologischen Fachliteratur finden Themen zur Bedeutung materieller Sicherheiten eher wenig Beachtung. Dies bedeutet aber keinesfalls, dass «Haben» für das Individuum nicht von Bedeutung wäre. Gerade in Zeiten, in denen so vieles im Fluss ist, dürften die Identitätsfunktionen von Besitz dem Einzelnen eine gewisse Stabilität bieten. Erich Fromm beschreibt zum Beispiel mit dem Marketing-Charakter, der sehr stark mit einer konformistischen Persönlichkeit einhergeht, die Übertreibung des Haben-Modus der modernen Gesellschaft sehr einprägsam. Der amerikanische Soziologe und Ökonom Jeremy Rifkin stellt in seinem bereits zu Beginn des neuen Jahrtausends erschienenen Buch «Access» die These auf, dass weniger der Besitz als das Spielen für den postmodernen Menschen von Bedeutung sei. Mit Access meint er, dass der Zugang zu Ressourcen wichtiger würde als der Besitz. Damit nimmt er in seinem Buch die Idee der «sharing economy» vorweg. Es wird sich zeigen, wie stark sich dieses Konzept weiterverbreiten wird. Den neuen menschlichen Archetypus nennt Rifkin die «proteische Persönlichkeit». Proteus war ein Meeresgott in der griechischen Mythologie, der seine Gestalt spielerisch verändern konnte. Dafür musste er allerdings einen existentiellen Preis bezahlen: Er konnte sich selbst nie finden. Der proteische Lebensstil zeichnet sich durch ein fortschreitendes spielerisches Fliessen des Wesens aus. Im Vorfeld der Bankenkrise zeigte sich aber, dass die Grenze zur Spielsucht fliessend ist. Deshalb verordnen viele Grossbanken ihren Händlern Zwangsferien ohne Computerzugang. Auf diese Weise soll neben der Spielsucht die kriminelle Versuchung eingedämmt werden. In der neuen Auflage werfe ich auch einen Blick auf die in letzter Zeit stark diskutierten Studien von Ernst Fehr und seinem Team an der Universität Zürich: Dabei zeigte sich, dass sich Banker signifikant betrügerischer verhielten, wenn sie auf ihre Rolle als Bankfachleute eingestimmt werden als wenn sie in ihrer privaten Rolle waren. Dies ist im Zusammenhang mit der Frage interessant, inwieweit die Kultur eines Unternehmens oder auch einer bestimmten Branche den «Charakter» der Menschen mitbeeinflusst.
Wie genau hängt das mit Glauben und Werten zusammen?
Die Multioptionsgesellschaft bietet uns auch eine Vielfalt an möglichen Werte- und Glaubenssystemen an. Damit dürfte der Kampf um den «richtigen Glauben» anhalten, so dass weiterhin in unserer künftigen Menschheitsgeschichte die Forderungen nach gegenseitiger Toleranz aktuell bleiben dürften. Neben dem Glauben kann die Auseinandersetzung und Konstruktion von Lebensgeschichten in der postmodernen Welt dazu dienen, an der eigenen Identität zu arbeiten. Das Konzept der narrativen Identität betont die Wichtigkeit, wie wir durch verschiedene Formen des Storytellings unser «narratives Selbst» permanent weiterentwickeln. In der neuen Auflage werden auch neuere Studien darüber aufgeführt, wie wir durch verschiedene Erzählstrategien versuchen, in herausfordernden, sich verändernden Kontexten eine gewisse Kontinuität zu bewahren und uns «ganz» zu fühlen. Angesichts der beschriebenen Fragmentierungstendenzen ist das eine sicher nicht unwichtige «Überlebensstrategie», denn Geschichten haben unter anderem auch die zentrale Funktion, unser Leben mit Sinn zu versehen und uns eine Richtung und ein Ziel zu geben.
Prof. Dr. Eric Lippmann ist Dozent und Berater am IAP Institut für Angewandte Psychologie. Er studierte Psychologie und Soziologie an der Universität Zürich und spezialisierte sich auf Paar- und Familientherapie, Supervision, Coaching und Organisationsentwicklung. Nach mehrjähriger Tätigkeit in der Jugend- und Familienberatung und der Suchtprävention begann er 1991 als Trainer, Supervisor und Coach am IAP zu arbeiten. Heute leitet er den Bereich Leadership, Coaching & Change Management am IAP und ist zudem Studienleiter im MAS Coaching, Supervision & Organisationsberatung sowie Autor zahlreicher Bücher.
Verlosung von drei Büchern
Anlässlich der aktualisierten 3. Auflage des Buches «Identität im Zeitalter des Chamäleons. Flexibel sein und Farbe bekennen» verlosen wir drei Exemplare inkl. der DVD von Woody Allens „Zelig“ unter unseren Leserinnen und Lesern. Beantworten Sie die folgende Frage und gewinnen Sie ein Exemplar:
Wie wird „Zelig“ im Film von Woody Allen unter anderem bezeichnet?
Ihre Antwort schicken Sie bitte bis 15. Dezember 2017 an socialmedia.iap@zhaw.ch. Die Gewinner werden aus den richtigen Antworten verlost.