N29 – Der Test für deine Laufbahn

Berufseinstieg nach der Schule, Neuorientierung nach der Kündigung – für die berufliche Laufbahn müssen Menschen immer öfter auch neue Wege gehen und umdenken lernen. Dabei ist es wichtig, die eigenen Fähigkeiten und Stärken einschätzen und in der Arbeitswelt einsetzen zu können. Ein einfacher Test hilft, die inneren Neigungen zu analysieren und für den Berufsweg zu nutzen.

von Joy Bolli, Redaktion ZHAW Angewandte Psychologie

Reto war 18, Gymnasiast und todunglücklich. Er galt nicht unbedingt als schlechter Schüler, doch ihm schien die Schulzeit wie ein langer, dunkler Tunnel, der ins Nirgendwo führte. Während seine Mitschüler sich auf die Zeit nach dem Abschluss freuten, Reisepläne machten und sich über bevorzugte Studienrichtungen austauschten, wurde Reto immer elender zumute. Er hatte keine Perspektive für ein Studium, wusste nicht, was er machen sollte. Andere hatten den Traum, Jura oder Chemie zu studieren. Er aber sah nicht wirklich eine Zukunft, für die er geschaffen zu sein schien. «Als ihn dann auch noch seine Freundin verliess, verlor der Junge praktisch die Spur», erzählt Peter Mosele. Der langjährige Studien-, Berufs- und Laufbahnberater lernte Reto als jungen Klienten in der Studienberatung kennen. Wie mit vielen seiner Kunden sprach er auch mit Reto über Schule und Alltag – und er machte mit ihm den «Neigungstest N29».

Einfache Fragen für komplexe Persönlichkeiten

Der «Neigungstest N29» wurde in den späten 50er-Jahren von Josef Hug entwickelt, 1989 veröffentlichte er ein Praxishandbuch dazu. Der N29 ist speziell darauf ausgerichtet, die Neigungen einer Person sichtbar zu machen, die für die berufliche Ausrichtung wertvoll sein können. «Der Test selbst dauert nur knapp 20 Minuten», erklärt Peter Mosele. «Doch die Ergebnisse sind von nachhaltigem Wert für unsere Klientinnen und Klienten, denn sie bekommen ein detailliertes und unmittelbares Bild von ihren Stärken und Schwächen – vor allem von denen, die sie bisher nicht so sehr wahrgenommen haben». Der Fragebogen ist in 8 Themenbereiche eingeteilt, die jeweils einem wichtigen Bedürfnis entsprechen. Dazu gehören zum Beispiel «Humane Bedürfnisse», «Aktivitäts-Bedürfnisse», «Intellektuelle Bedürfnisse» oder auch «Gestaltungs-Bedürfnisse». In jedem Bedürfnisbereich finden sich Adjektive und Verben – insgesamt 29 an der Zahl. Diese Adjektive und Verben entsprechen den menschlichen Neigungen aus unserem beruflichen und privaten Alltag.

Die Aufgabe der Testperson ist es, diese Verben in Bezug auf sich selbst einzustufen. Daraus ergibt sich dann ein Profil mit den persönlichen Neigungen. Auch Reto machte diesen Test. Unter anderem stellte sich heraus, dass er grosses soziales Interesse und Freude an Sprachen hatte. «Man konnte schon sehen, dass er in diesem Bereichen Potenzial hatte», erinnert sich Peter Mosele. «Doch das alleine sagt noch nicht so viel aus». Reto hingegen wurde allein durch das Ergebnis aufgerüttelt. Plötzlich sah er selbst einen Weg, den er nicht nur gehen, sondern dem er auch mit einer gewissen Freude folgen konnte. «Jahre später traf ich den jungen Mann wieder», erzählt Peter Mosele. «Er sagte mir, die Arbeit in der Studienberatung und speziell dieser Test hätten ihm praktisch das Leben gerettet. Er sei heute ein glücklicher Englischlehrer. Das hätte ich selbst nicht einfach so aus seinen Unterlagen sehen können. Sie zeigten nur eine mögliche Richtung zum Sprachlehrer auf. Doch allein diese Möglichkeit reichte, um ihm eine neue Perspektive zu geben, und er fand für sich einen erfüllenden Weg».

Generalüberholung für den N29-Test

Im Laufe der Jahrzehnte wurde der Neigungstest N29 immer wieder angepasst. «Es gab Versionen, die speziell für Frauen konzipiert wurden und Versionen nur für Männer», erzählt Stephan Toggweiler, Diagnostiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der ZHAW Angewandte Psychologie. «Der ursprüngliche N29 wurde zwar auch nach fast 50 Jahren immer noch angewendet, doch die Verben waren teilweise veraltet und mussten vor allem im Hinblick auf die psychometrische Herangehensweise geschärft werden», erklärt er. Zusammen mit Peter Mosele überarbeitete Stephan Toggweiler 2014 den Neigungstest N29 zum ersten Mal. Eine zweite Überarbeitung folgte dieses Jahr. Das Ergebnis war der N-29-R2. «Es war nicht so einfach, wie wir dachten», meint Stephan Toggweiler rückblickend. «Wenn man an einem Verb zieht, löst das manchmal eine ganze Kettenreaktion aus. Ein Item ersetzt dann das andere. So mussten wir jedes Item schrittweise aktualisieren». Der neue N-29-R2 basiert nicht mehr wie seine Vorgänger auf erfahrungsgemäss bestätigten Skalen, sondern auf einer klaren psychometrischen Basis. Er enthält heute zudem sehr viel weiter gefasste Verben als alle seine Vorgänger. «Die Welt der Probanden wird abstrakt betrachtet, also eher generell angeschaut», erklärt Stephan Toggweiler weiter. «Das führt dazu, dass die impliziten Hürden, Stereotypen und Vorbehalte einer konkreten beruflichen Umwelt wegfallen und die Testpersonen in ihren Zuteilungen der Verben nicht so stark eingeschränkt werden wie bei anderen Verfahren».

Konkret bedeutet das: Der neue N-29-R2 weist nicht nur Neigungen auf, die im beruflichen oder privaten Alltag bereits konkret gelebt werden. Er weist auch auf Entwicklungspotenziale hin, die bisher vielleicht noch nicht beleuchtet wurden. «Durch die weiter gefasste Bedeutung der Verben fanden wir deutlich geringere Geschlechterunterschiede in den sozialen und handwerklichen Interessen als bei anderen Tests», erklärt Stephan Toggweiler. «Es ist also durchaus möglich, dass man durch den Test vermehrt auch handwerklich interessierte Frauen und sozial interessierte Männer findet».

Wer sich selbst erkennt….

Stellt sich die Frage: Wem bringt dieser Test etwas? Laut Peter Mosele kann er für junge und ältere Menschen wertvoll sein: «Es ist nicht jedem vergönnt, von Anfang an im Traumberuf einzusteigen. Viele junge Menschen schauen sich nach Lehrstellen um und finden nicht gleich, was ihnen zusagt. Dann ist es wichtig, eine Stelle oder einen Weg zu wählen, der einen in der ungefähren Richtung weiterbringt. Und die muss man erst einmal kennen».

 

Doch nicht nur für den Einstieg in die Berufswelt sei der Test hilfreich. «Auch ältere Menschen, die sich schon gut zu kennen scheinen, wollen manchmal wissen, wie sie nochmals ‘einen draufsetzen’ können», erklärt Peter Mosele. Seit mehr als 30 Jahren berät er Menschen, die sich beruflich neu orientieren wollen oder müssen. «Es gibt auch viele Menschen, deren Arbeitsumfeld sich durch die digitale Transformation tiefgreifend verändert», erklärt er. «Wenn eine Person 20 Jahre lang am Bankschalter stand und die Filiale nun geschlossen wird, muss man neue Wege finden und sollte sich auch fragen, ob die neue Aufgabe – sofern es eine neue Aufgabe innerhalb des Unternehmens gibt – einem überhaupt liegt. Wenn man sich in diesem Moment nicht seines vollen Potenziales bewusst ist, kann es sein, dass man in der neuen Aufgabe einfach eingeht». Genau in diesen Situationen sei es enorm hilfreich, wenn man seine Neigungen und Fähigkeiten, die sich ja auch verändern mit der Zeit, noch einmal neu anschauen und sich mit sich selbst auseinandersetzen kann. «Es ist auch manchmal so, dass jemand zu uns kommt, der eine rationale erste Berufswahl getroffen hat, weil sich das als junger Mensch so ergab, die Eltern das so wollten oder weil es einfach noch gar keine Ausbildung zum spezifischen Berufswunsch gab», meint Peter Mosele. «Irgendwann kommt dann aber vielleicht doch noch der Wunsch durch, und man möchte wissen, ob man sich einen Neustart noch zutrauen kann. Genau für diese Suche ist der N-29-R2 ein guter erster Ausgangspunkt».


Peter Mosele  arbeitet als Berufs-, Studien- und Laufbahnberater am IAP Institut für Angewandte Psychologie. Er ist spezialisiert auf die Beratung von Klienten aus dem Ausland und Lerncoaching für Jugendliche, Studenten und Erwachsene. Zudem ist Peter Mosele als Lehrbeauftragter im MAS Berufs-, Studien- & Laufbahnberatung tätig und leitete im Bereich Forschung das Revisionsprojekt N-29-R2.

 

 

Stephan Toggweiler hat an der Universität Zürich Psychologie studiert und provomoviert. Seit 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Psychologischen Institut der ZHAW. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Diagnostik und Testkonstruktion. Er ist Mitglied der Fachgruppe Diagnostik des Schweizerischen Dienstleistungszentrums Berufsbildung | Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung SDBB und war massgeblich an der Revision des N29 beteiligt. 

 


Der neue N-29-R2 steht Interessenten auf der Plattform Laufbahndiagnostik.ch zur freien Verfügung. Für eine professionelle Auswertung des Tests, empfiehlt es sich, die Ergebnisse mit einem Laufbahnberater oder einer Laufbahnberaterin zu besprechen.

 


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