Der bekannte Futurist Ray Kurzweil sagte einmal: «Unser Verständnis von Zukunft ist linear. Die Realität der Informationstechnologie hingegen ist exponentiell. Das ist ein grosser Unterschied: Wenn ich linear 30 Schritte mache, komme ich auf 30. Wenn ich exponentiell 30 Schritte mache, komme ich auf eine Milliarde». Heute ist Ray Kurzweil Leiter der technischen Entwicklung bei Google und die Veränderungen der letzten Jahre geben ihm Recht.

Von: Rafael Huber, Dozent und Berater am IAP Institut für Angewandte Wissenschaften

Führen und Lernen in der Zukunft

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Alle erwarten grosse Veränderungen

Spricht man mit Vertretern verschiedener Industrien über die technischen Entwicklungen der Zukunft, so bleiben drei Punkte hängen:

1. Alle erwarten grosse Veränderungen.
2. Niemand kennt die Antworten auf diese (teilweise noch unklaren) Veränderungen.
3. Alle denken, dass alle anderen die Antworten schon kennen.

Ich unterscheide mich in den Punkten 1 und 2 nicht gross vom Rest. Grosse Veränderungen werden sich vollziehen und dies bei Weitem nicht nur im Bereich der Technik. Ich denke an den Klimawandel, die Verschiebung ökonomischer und politischer Gleichgewichte oder an die Veränderung der demographischen Struktur, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Dass alle anderen die Antworten schon kennen (Punkt 3), glaube ich hingegen nicht. Wieso? Weil es keine gibt. Grosse Veränderungen natürlich schon. Klare Antworten aber nicht.

Wechselwirkungen finden in Systemzusammenhängen statt

Die durch die Technik der Zukunft verursachten Veränderungen finden nicht im Vakuum abgeschlossener Systeme mit linearen, mechanisch-kausalen Wirkzusammenhängen statt. Vielmehr vollziehen sich diese Veränderungen in unserem Alltag, ja durchdringen diesen förmlich. Nehmen wir das Beispiel einer Uhr. Die innere Mechanik einer Uhr ist zweifelsohne sehr kompliziert. Das Drehen an einer Schraube im Uhrwerk führt aber zu einer klar vorhersehbaren Veränderung. Alle Einflussfaktoren in diesem mechanisch-kausalen System sind beschreibbar. Wirkmechanismen folgen mathematisch-physikalischen Gesetzen, die dem Uhrmacher bekannt sind. Die grossen Veränderungen unserer Zeit konfrontieren uns aber vermehrt mit komplexen Herausforderungen. Und solch komplexe Herausforderungen folgen nicht der Logik der Uhr. Im Zeitalter des Internets der Dinge verschmelzen technische und soziale Systeme. Aus komplizierten technischen Systemen werden komplexe technisch-soziale Systeme – mit teilweise exponentiellen Wirkzusammenhängen. Was dadurch entsteht, ist nicht mehr klar vorhersehbar. Das Resultat: Neue Phänomene, welche niemand so voraussehen konnte.

Die vierte industrielle Revolution

Die erste industrielle Revolution erlaubte Ende des 18. Jahrhunderts mit der Erfindung der Wasser- und Dampfkraft die Errichtung mechanischer Produktionsanlagen und die Arbeit in Fabriken. Anfangs des 20. Jahrhunderts brachte die zweite industrielle Revolution die aufgabenteilige Massenproduktion und den Einsatz elektrischer Energie. Beginnend in den frühen 1970er-Jahren brachte die dritte industrielle Revolution schliesslich vermehrt Elektronik und IT in die Arbeitswelt. All diese Veränderungen führten zu einer immer stärkeren Automatisierung der Produktion. Im sich gerade entfaltenden Digitalisierungszeitalter erreicht die Automatisierung einen neuen Höhepunkt. Durch die vierte industrielle Revolution neu entstehende intelligente, sprich selbstorganisierte und stark vernetzte technisch-soziale Systeme werden mit grosser Wahrscheinlichkeit einen weiteren nicht zu unterschätzenden Anteil menschlicher Arbeit ersetzen. Übrig bleiben komplexe Arbeiten mit unklaren Zielen – mit grossen Auswirkungen auf Führen, Lernen und Lehren.

Von der Führung zur Selbstführung

Über mehrere Jahrhunderte bestand die Kernaufgabe der Führung in der Ausrichtung mehrerer Individuen auf ein klar vorgegebenes Ziel. In Situationen, in welchen die Ziele klar bekannt sind, funktionieren traditionelle, meist stark hierarchisch geprägte Führungsansätze gut. Doch werden die gleichen Führungsansätze auch in Zukunft erfolgreich sein? Klare Antworten auf die Veränderungen der beschriebenen komplexen Herausforderungen der Zukunft gibt es nicht. Als Folge davon werden einstmals klare Ziele unklar. Strukturierte Arbeitstage in der Linienfunktion werden weiter abnehmen und Projektarbeit wird von der Ausnahme zur Regel. Auch die Projektarbeit selbst wird zusehends anders, agiler, sprich iterativer bewältigt. In einer solchen Welt werden Arbeitskräfte nicht mehr ein einmal sauber hergeleitetes Stellenprofil ausfüllen. In einer solchen Welt zeichnen sich erfolgreiche Mitarbeitende durch ein Kompetenzbündel aus, welches sie wie ein Unternehmer aktiv erweitern, anpassen und vermarkten müssen. Vom employee zum entreployee. In dieser neuen Arbeitswelt der Zukunft ist das Ziel nicht mehr einmalig die beste Position im Unternehmen zu ergattern, sondern immer wieder von Neuem in attraktiven Projekten verantwortungsvolle Rollen auszufüllen. Auch die physische Bindung an Arbeitsplätze nimmt ab. Co-working spaces kreieren sich immer wieder ändernde Umwelten mit Auswirkungen auf die Identifikation mit grösseren organisationalen Strukturen. In immer wechselnden Projektteams werden klassische Hierarchien flacher. Da sich ganze Teams und Geschäftseinheiten wie kleine autonome Firmen organisieren, rückt die Fähigkeit zur Selbstorganisation immer mehr in den Mittelpunkt. Dauerbrenner wie Flexibilität, Veränderungsbereitschaft und emotionale Intelligenz bleiben auch weiterhin aktuell. Nicht zu vergessen natürlich eine gute digital literacy, die Fähigkeit also, sich selbstbewusst und versiert im digitalen Raum zu bewegen.

Erfolgreiche Führungskräfte sind gute Übersetzer

Welche Fähigkeiten braucht eine wirksame Führungskraft in dieser neuen Arbeitswelt? Die Transformation hin zu einem digitalen Geschäftsmodell ist eine, wenn nicht sogar DIE strategische Aufgabe unserer Zeit. Sie kann vorübergehend von einem Chief Digital Officer (CDO) übernommen werden, ist aber final immer „Chefsache“ und damit Aufgabe des CEOs. Ganz generell müssen Führungskräfte der Zukunft die Fähigkeit besitzen, immer schnellere Schrittgeschwindigkeiten und ein wesentlich höheres Mass an Unsicherheit auszuhalten. Unter grosser Unsicherheit die bestmöglichen Entscheidungen zu treffen, erfordert grundlegende Fähigkeiten in statistischem Denken – eine Fähigkeit, die viele von uns (noch) nicht in der Schule gelernt haben. Die weiter zunehmende Diversität auf verschiedenen Ebenen (Bildungshintergründe, Kulturen, Religionen, Geschlechter, Alter, sexuelle Orientierung, Essgewohnheiten, usw.) erfordert in stark erhöhtem Masse die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme und Empathie. Englisch als weit verbreitete Firmensprache kann zum Glauben verführen, dass sich die 26-jährige Entwicklerin in Asien und der 59-jährige Marketingleiter in Paris durch die Verwendung derselben Laute und Worte zwangsweise «verstehen». Wirkliches Verstehen geht aber weit über die Ebene der Laute und Worte (Sprache im engeren Sinn) hinaus und bedeutet im gerade beschriebenen Beispiel auch ein rudimentäres Verständnis der gegenseitigen Fachbereiche, Lebensumstände, Schwierigkeiten und Wünsche (Sprache im weiteren Sinn). In einem Wort: Empathie. Eine erfolgreiche Führungskraft der Zukunft agiert also als Übersetzer zwischen den Welten und kennt die verschiedenen „Sprachen“ (im weiteren Sinn) der diversen und individualisierten Belegschaft zumindest so gut, dass er oder sie diese rudimentär verstehen und im Idealfall auch sprechen kann.

Jeder bastelt sich sein eigenes Kompetenzbündel

Entsprechend zu den Entwicklungen im Bereich der Führung erfordern die uns bevorstehenden Veränderungen auch angepasste Formen des Lernens und Lehrens. So könnte zum Beispiel explizites Faktenwissen in Zukunft mobil mittels Videos von einem zentralen Marktteilnehmer vermittelt werden. Braucht es heute wirklich noch tausende verschiedene Universitäten, welche alle die (mehr oder weniger) gleiche Einführungsvorlesung in Betriebswirtschaftslehre anbieten? Das Verschwinden klassischer Berufsbilder führt zu kleineren Lerneinheiten, welche individueller zusammengestellt werden. Nicht mehr fünfjährige Ausbildungen, sondern vermehrt kürzere Kurssequenzen sind das Modell der Zukunft. In dieser modularisierten Umgebung „bastelt“ sich jeder sein eigenes Kompetenzbündel, welches er oder sie geschickt mit dem Einsatz von social media zu vermarkten weiss.

Lernen mit Echtzeitrückmeldung

Neue Technologien wie augmented oder virtual reality erlauben Simulationen auf ganz anderem Level. Wieso sollte der Medizinstudent noch an echten Leichen üben, wenn er irgendwann dasselbe mit der 3D-Brille tun kann? Die zunehmende Vernetzung technischer und sozialer Systeme durch das Internet der Dinge erlaubt dem Lernenden Echtzeitrückmeldungen seines Verhaltens. Dies ist schon heute möglich, zum Beispiel bei Schrittzählern, welche dem Endverbraucher eine Rückmeldung zu seinem Gesundheitsverhalten geben. Vielleicht wird eine Spracherkennungssoftware uns einmal eine Echtzeitrückmeldung über die korrekte Anwendung der englischen Grammatik geben, wenn wir im Londoner Supermarkt wieder einmal selbstbewusst eine «ananas» anstelle einer «pineapple» kaufen möchten. Die Frage wird dann sein: Müssen wir in einer solchen Welt überhaupt noch Fremdsprachen lernen? Was immer die Zukunft an technologischer Entwicklung noch bringt: Das Lernen wird auf alle Fälle immer individualisierter, selbstorganisierter und vernetzter.


Über den Autor
Rafael Huber ist ausgebildeter Neurowissenschaftler und arbeitete mehrere Jahre in der Forschung, wo er sich mit der Frage beschäftigte, wie das menschliche Gehirn ökonomische Entscheidungen unter Unsicherheit verarbeitet. Seit 2016 ist er Dozent und Berater am IAP Institut für Angewandte Psychologie. Bevor Rafael Huber ans IAP kam, war er als Wirtschaftsberater tätig, wo er Firmen aus verschiedenen Branchen betreute. Sein Schwerpunkt liegt heute im Bereich der Wirtschaftspsychologie. Seine Erfahrung aus Forschung und Praxis bringt er auch im Weiterbildungskurs Smart Entscheiden ein, welcher neu am IAP angeboten wird.


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