Plädoyer für das Alter

Von Gérard Wicht, Dozent an der ZHAW

Kaum eine Woche vergeht, ohne dass das Top Topic «Demographie» in den Medien breit geschlagen wird, sei es unter den Titeln «Abbau von Sozialleistungen», «Überalterung und steigende Gesundheitskosten» oder «Fachkräftemangel». Die Tonalität der Beiträge ist durchgehend düster bis apokalyptisch: man fragt sich, ob Demographie beste Aussichten hat, zum Unwort des Jahres gekürt zu werden.

Rita Süssmuth, die frühere Bundesministerin und Präsidentin des deutschen Bundestages, erzählte zum Thema am Demografiekongress 2016 in Berlin folgende Geschichte: Sie war zum Geburtstag einer 100-jährigen Dame eingeladen worden und hatte sich dabei nach deren Befinden erkundigt, worauf diese antwortete: «Ach wissen Sie, seitdem ich meine beiden Söhne im Altersheim untergebracht habe, geht es mir wieder blendend!» Das liess mich schmunzeln, auch wenn die Botschaft der Geschichte keine neue ist, der mitschwingende Ton jedoch schon: Wir werden immer älter und im Alter immer fitter, sodass in manchen Fällen gar die Eltern die Altersversorgung für ihre Kinder übernehmen können.

Jedes zweite Kind kann 100 werden

Zur demographischen Entwicklung liegen eindrucksvolle Zahlen vor: Die Zahl der 100-Jährigen in Deutschland ist von 2‘616 im Jahre 1990 auf 13‘198 im Jahre 2010 angestiegen. Das entspricht einer Zunahme von 405 Prozent. Gemäss einer Studie der Charité in Berlin empfinden die meisten 100-Jährigen ihr Leben als lebenswert. Jedes Kind, das heute in der Schweiz zur Welt kommt, hat eine 50-prozentige Chance, 100-jährig zu werden. Vor 15 Jahren betrug die mittlere Lebenszeit für Männer in der Schweiz noch 77 Jahre, heute sind es 81. Bei den Frauen stieg die Lebenserwartung von 82,6 auf 85,2 Jahre. Und: 80 Prozent der heute 65+-Jährigen sind nicht pflegebedürftig. Diese Entwicklung führt dazu, dass heute in der Altersforschung der Eintritt ins tatsächliche «Alter» auf das 80. Lebensjahr veranschlagt wird. Die 70 bis 80-Jährigen befinden sich demzufolge heute im «mittleren Alter», die 60 bis 69-Jährigen sogar im «jungen Alter». Was das aus den noch jüngeren Menschen macht, frage ich an dieser Stelle lieber nicht.

Glücklich nach 60

Eine kanadische Längsschnittstudie zeigt auf, dass die Befragten das Lebensjahrzehnt zwischen 60 und 70 als das bisher zweitglücklichste ihres Lebens bezeichnen (das glücklichste liegt zwischen 40 und 50). Die Statistiken in der Schweiz und in Deutschland weisen zudem darauf hin, dass die Gesundheitskosten erst gegen das 80. Lebensjahr ansteigen, das dann aber steil. Die Gründe dafür, dass die 60 – 80-Jährigen sich glücklicher und gesünder fühlen als noch eine Generation vorher, sind auch bekannt: Fortschritte in der Medizin, gesündere Ernährung, Zunahme der sportlichen Tätigkeiten sowie zum Teil weniger anstrengende Arbeiten. Ein Teilnehmer der oben erwähnten Tagung in Berlin schlug deshalb augenzwinkernd vor, künftig nicht mehr von Überalterung der Gesellschaft zu reden, sondern vielleicht eher von Überjüngung. Viele der hier aufgeführten Zahlen sind dem Essay von Peter Gross mit dem programmatischen Titel «Wir werden älter. Vielen Dank. Aber wozu?» entnommen. Gross ist emeritierter Soziologieprofessor der Universität St. Gallen und in den letzten Jahren Vortragsreisender in Sachen «glückliches Alter». Er streicht in seinem Essay mit Recht heraus, dass es seltsam anmutet, wenn in der Schweiz wohl eine Anhebung des Frauenrentenalters von 64 auf 65 erwartet werden kann, einer generellen Erhöhung des Rentenalters auf zum Beispiel 67 Jahren aber immer noch massiver Widerstand entgegen schlägt.

Und die Wirtschaft?

Das Verdienst von Gross ist, dass er das ungeheure Potential älterer Menschen (gemeint sind hier Pensionäre) betont: Potential an Erfahrung, an Wissen, an Kreativität, an Sozialkompetenzen, ja an Leistungs- und Erfahrungsbereitschaft, immer wieder neue Projekte anzugehen. Würde man den volkswirtschaftlichen Beitrag an Enkelbetreuung und vor allem an geleisteter ehrenamtlicher Arbeit beziffern, so käme man auf Milliardenbeträge! Nur: Die Arbeitgeber nehmen davon aktuell immer noch keine Kenntnis, was nicht nur volks-, sondern in Zeiten des Fachkräftemangels auch betriebswirtschaftlich ein Skandal ist. Die Werbung ist da klüger, denn sie hat die Senioren als kaufkräftige Zielgruppe längst entdeckt. Mit Ausnahme weniger Grossfirmen, die sogenannte 55+-Programme entwerfen, in denen auch Pensionäre punktuell weiter beschäftigt werden, sieht die Realität immer noch so aus, dass Arbeitnehmende über 55 kaum eine Stelle finden und 60-Jährige von Firmen mit dem Hinweis ausgemustert werden, dass ihr Wissen veraltet und sie ohnehin zu teuer sind. Wie teuer Entlassungsprogramme und Wiedereinstellungen zu stehen kommen, wird in diesem Zusammenhang nie erwähnt.

Nichtstun nach 65 ist «out»

Nun galt es vor vielleicht 20 Jahren als chic, sich mit 60 aus dem stressigen Arbeitsleben zurückzuziehen und sich fortan den Enkeln, dem Garten oder – wenn man es sich leisten konnte – dem riesigen Angebot an Kreuzfahrten zu widmen. Seit 10 Jahren ist jedoch zum Glück ein neuer Trend erkennbar. So titelte die NZZ am Sonntag in ihrer Ausgabe vom 25. Januar 2015: «Nichtstun nach 65 ist out. Die Arbeit jenseits der Pensionierung hält fit und erfreut Chefs, Kunden – und vor allem die Werktätigen selbst». In der Tat hat sich die Zahl der älteren Erwerbstätigen gemäss Bundesamt für Statistik im Inland von ca. 85‘000 im Jahr 2005 auf 175‘000 im Jahr 2014 mehr als verdoppelt. Die Rückmeldungen aus den Firmen sind durchwegs positiv. Die älteren Kolleginnen und Kollegen bringen ihr Know-how ein, betreuen weiterhin ältere Firmenkunden und geben ihr Wissen in altersdurchmischten Teams als Mentorinnen oder Tutoren an Jüngere weiter. Viele sind dabei auch bereit, zu geringeren Löhnen zu arbeiten, ein Ansatz, der wohl Zukunftspotential hat. Dass ältere Menschen ausserdem noch lernfähig und in den Bereichen Teamfähigkeit, Anknüpfungsfähigkeit an Erfahrungswissen und Urteilsvermögen den Jüngeren gar überlegen sind, weiss man spätestens seit den Erkenntnissen der Neuropsychologie.

Was mich persönlich freut ist, dass durch diese Trendwende das «Alter» seine negative Konnotation langsam verliert, die älteren Menschen nicht nur als vollwertige, sondern vor allem auch als bereichernde Mitglieder unserer Gesellschaft angesehen werden. Weshalb mich dies freut? Ich werde bald selbst Mitglied dieser verkannten Bevölkerungsgruppe sein: In zwei Jahren bin ich 65 und lasse mich nächstes Jahr beim IAP frühpensionieren. Richtig: Ich werde dann nicht «nichts tun», sondern weiterhin Mandate wahrnehmen können und mich auch an anderer Stelle einsetzen. Ich freue mich, auf diese Weise meine Erfahrung und mein Know-how zusammen mit den älteren und jüngeren Kolleginnen und Kollegen einbringen zu können. Meine beiden erwachsenen Söhne ermuntere ich deshalb (noch) nicht, an meine Enkelkinder denken: Für mich hat das noch Zeit!


wicht_gerard-8405Über den Autor:
Gérard Wicht studierte Literaturwissenschaft, Pädagogik und Sozialpsychologie in Fribourg, Saarbrücken, Giessen und Wien. Er war Senior Training Consultant bei Swiss Reinsurance Company. Seine langjährige Erfahrung in den Bereichen Change Management, Einführung von e-Learning-Szenarien, Entwicklung von internationalen Ausbildungsprogrammen, Bildungsmanagement und Führung bringt er in den Weiterbildungslehrgang MAS Ausbildungsmanagement und diverse weitere Lehrgänge am IAP ein.


1 Kommentar

  • Guter Artikel. Es braucht eine vertiefte und breite Diskussion, damit ein Umdenken bei den Chefs, der Politik, der jüngeren Bevölkerung, aber z. Teil auch bei den Betroffenen selbst eintritt! Dabei geht es auch um pro bono Tätigkeiten, vor allem aber um Teilzeit-Einsätze. ABB, Schindler und Swisscom haben das z.T. Seit Jahren schon implementiert.


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