Psychologisches Coaching im Schulhaus

Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen sind weiter verbreitet als man denkt. Gemäss der WHO (2001) weist eines von fünf Kindern eine psychische Störung oder Verhaltensauffälligkeit auf. Die Schule spielt dabei eine entscheidende Rolle, denn dort kommen neue Parameter hinzu wie zum Beispiel Strukturen, die vorgegeben werden, Lern- und Leistungsdruck oder soziale Interaktionen mit Gleichaltrigen. Oft werden Auffälligkeiten dann zum ersten Mal sichtbar oder fallen merklich ins Gewicht. Psychologisches Coaching im Schulhaus kann dabei helfen, viele dieser Probleme leichter aufzufangen.

Von Andrea Kramer, Kinder- und Jugendpsychologin am IAP Institut für Angewandte Psychologie

Der Schulalltag stellt die unterschiedlichsten Anforderungen an Kinder, und nicht immer gelingt es ihnen, diese mühelos zu erfüllen. Als Folge davon fühlen sich manche Kinder im Schulumfeld unwohl. Das kann sich neben körperlichen Stresssymptomen auch in anderen Dingen zeigen, wie zum Beispiel in Schwierigkeiten beim Einhalten von Regeln und Abmachungen, in sozialen Unsicherheiten, in Schüchternheit und Ängstlichkeit oder aber in lautem und forderndem Verhalten. Julia hat sich zum Beispiel dem Unterricht einfach entzogen: «In mir drin sind Schmetterlinge und die Schule ist grau und langweilig». Das Mädchen ist gerade erst in die 4. Klasse gekommen. Der Schulalltag macht ihr jedoch zu schaffen. Julias Lehrerin fiel auf, dass sich das Kind immer mehr zurückzog, nicht nur in den Pausen und im Klassenverband, sondern auch in den Schulstunden. Julia wirkte abwesend und unzugänglich. Sie schien in ihrer eigenen Welt zu sein. Eigentlich war sie eine gute Schülerin, aber durch regelmässige Absenzen bekam sie wichtige Informationen nicht mit und hinkte immer mehr hinter den anderen her, sowohl im sozialen Bereich, als auch beim Schulstoff. So lief sie Gefahr, den Anschluss zu verlieren, und ihre Lehrerin wusste nicht, wie sie ihrer Schülerin helfen konnte.

Kinder im Unterricht
In der Schule werden Verhaltensauffälligkeiten oft zum ersten Mal richtig erkannt.

Coaching im Schulalltag

Es gibt im Schulumfeld verschiedene Angebote, die Julias Lehrerin in Absprache mit den Eltern hätte nutzen können. Sie entschied sich aber, einen neuen Weg zu gehen und das Psychologische Coaching im Schulhaus auszuprobieren. Dieses Angebot bewegt sich an der Schnittstelle zwischen Schulsozialarbeit, Schulpsychologischem Dienst, Schulischer Heilpädagogik und Psychotherapie. Das Psychologische Coaching im Schulhaus findet während der Schulzeit direkt vor Ort statt, das heisst direkt im Klassenzimmer, auf dem Pausenplatz oder im Hort. Damit erhalten die Kinder eine individuelle Begleitung genau dort, wo sich ihre Schwierigkeiten zeigen. «Das psychologische Coaching fokussiert auf die Zusammenarbeit mit der Lehrperson und dem betroffenen Kind und eröffnet neben der pädagogischen auch eine psychologische Sichtweise auf das problematische Verhalten», erklärt der Kinderpsychologe Marcel Schär. Als Initiator des Projekts sieht er klare Abgrenzungen des Angebots zu anderen. Während im Psychologischen Coaching im Schulhaus Kind und Lehrperson im Mittelpunkt stehen, konzentrieren sich andere Angebote wie zum Beispiel die Sozialarbeit mehr auf die Interaktion zwischen Kind und Eltern. Eine Begleitung des Kindes im Unterricht ist dabei nicht vorgesehen.

Kinder in einer Schullektion am Computer
Ein Psychologisches Coaching findet direkt bei den Kindern im Unterricht statt.

Abklärungen und Zielvereinbarungen

Julias Eltern, ihre Lehrerin und Julia selber entschieden sich für ein Psychologisches Coaching, weil sich Julias Probleme vor allem im Unterricht zeigten. Auch die schulische Heilpädagogin wäre eine Option gewesen. «Es gibt viele gute Angebote», erklären Julias Eltern ihren Entscheid. «Wir wollten aber den Fokus vom Lern- und Leistungsverhalten wegnehmen». Für die Lehrperson ergibt sich dadurch hingegen eine zusätzliche Herausforderung. Für sie stellte sich die Frage: Wie funktioniert Psychologisches Coaching im Klassenzimmer? Wie integriere ich das in meinen Unterricht? Und hier kam ich ins Spiel und begegnete Julia und ihrer Lehrerin zum ersten Mal. Meine Aufgabe als Psychologin bestand zu Beginn darin, in einer gemeinsamen Sitzung die Problematik von allen Beteiligten zu verstehen. Danach versuchten wir, gemeinsame Ziele zu definieren und abzusprechen, wie das konkrete Coaching aussehen sollte. Nach einem Gespräch mit der Lehrperson war es mir wichtig, ein zweites Gespräch nur mit den Eltern und Julia zu führen. Hierbei standen einerseits die Anamnese im Vordergrund, andererseits einfache Tests und vorgängige Abklärungen. Ziel des Psychologischen Coachings in der Schule ist schliesslich auch herauszufinden, was hinter dem auffälligen Schulverhalten steckt. Nach den Vorgesprächen ging es in das Umfeld, wo sich die Probleme akzentuierten – ins Schulzimmer. Diese direkte Intervention ist das Besondere am Psychologischen Coaching. Ich arbeitete nicht in Einzelgesprächen mit Julia alleine in einem Therapiezimmer, wie das sonst beim Coaching üblich ist, sondern in ihrem alltäglichen Umfeld im Schulzimmer.

Kinder im Mathematikunterricht
Im Psychologischen Coaching lernen Kinder ihr Verhalten zu verstehen und im Schulalltag direkt zu verändern.

Im Alltag lernen, am Alltag wachsen

Das Psychologische Coaching im Schulhaus versucht durch die Unterstützung im Moment und am Ort des Geschehens, die Problemaktualisierung nutzbar zu machen. In Julias Fall konnten wir direkt im Schulzimmer zusammen mit der Lehrerin das problematische Verhalten beobachten und besprechen. Eine Möglichkeit der Intervention bestand darin, dass ich Julia in einer Lektion filmte. Damit konnte sie selbst von aussen sehen, wie sie sich in der Schulstunde verhielt. Sie machte dabei viele Beobachtungen, die sie selbst erstaunten, und lernte, wann sie konzentriert und aufmerksam war, in welchen Situationen sie sich in Gedanken verlor und was ihr half wieder in den Unterricht zurückzukommen. Julia lernte zudem, ihr Verhalten bewusst zu steuern. Es gelang ihr mit der Zeit immer leichter, ihr Verhalten zu erkennen, effizienter zu verändern und auch auf andere Situationen zu übertragen. Das ist ein wichtiger Vorteil gegenüber der Arbeit im Therapiezimmer. Dort kann man zwar auch über die Situationen im Unterricht sprechen. Doch die Details des komplexen und schnelllebigen Schulalltags gehen oft vergessen, und man kann wichtige kausale Zusammenhänge nicht mehr ermitteln. Das macht die Suche nach praktischen Lösungen umso schwieriger. Die kurzen, spontanen Gespräche zwischen Julia und mir auf dem Flur enthielten oft verdichtete und emotional wertvollere Inhalte als die wohlüberlegten Aussagen, die üblicherweise in Coaching-Sitzungen besprochen werden. Und mit Julia erweiterte auch ihre Lehrerin im Laufe dieses Coachings ihre Erfahrungen. Heute weiss sie, wie sie mit Julia umgehen kann, wenn sie in der Lektion plötzlich nicht mehr zugänglich für ihre Aussenwelt ist. Am meisten gelohnt hat sich die Arbeit aber für Julia, denn sie hat viel über sich selbst erfahren: «Die Schule ist jetzt nicht mehr immer so grau und ich weiss jetzt, was mir hilft, um da zu bleiben».


Psychologisches Coaching in der Schule
Im Schuljahr 2015/2016 hat das IAP Institut für Angewandte Psychologie das Psychologische Coaching zusammen mit einem Schulhaus in der Stadt Zürich gestartet. Neben der Präsenz vor Ort war die Vernetzung mit dem ganzen Helfersystem ein wichtiger Wirkfaktor für das Projekt. Nach nur einem Jahr können die Beteiligten eine vorwiegend positive Bilanz ziehen. «Eine der grössten Herausforderungen war die Abklärung der Finanzierung», stellt Marcel Schär fest. «Doch das ist bei neuen Ideen oft so. Nach der wissenschaftlich begleiteten Pilotphase planen wir nun, das Angebot auf andere Schulhäuser auszuweiten und freuen uns, weitere Coaches und deren Erfahrungen einzubeziehen.»


Portrait von Andrea KramerAutorenportrait
Andrea Kramer ist Psychologin am IAP Institut für Angewandte Psychologie im Bereich klinische Psychologie und Psychotherapie. Als ehemalige Oberstufenlehrerin brachte sie die schulspezifischen Erfahrungen mit, um das Projekt am IAP zu leiten. «Das Schulumfeld ist mir in seiner Funktionsweise und mit der pädagogischen Denkstruktur nicht fremd, aber ich kann dank meinem therapeutischen Blick eine zusätzliche Sichtweise in das Problemverständnis einbringen.»


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