Ressourcen in der Familie erkennen

Familienprobleme haben weitreichende Auswirkungen, denn jedes Familienmitglied ist persönlich betroffen und somit mitten drin. Oft läuft es dann auch in der Schule nicht mehr rund oder der Druck im beruflichen Alltag wird zur Zusatzbelastung. Das kann schnell zum Teufelskreis werden, der alle Familienmitglieder unsicher macht. Für einen ersten Schritt aus der Krise ist es wichtig, die Ressourcen der Familie zu erkennen, zu schätzen und bewusst zu aktivieren.

Von Imke Knafla, Psychologin am IAP Institut für Angewandte Psychologie

In der Lösungs- und ressourcenorientierten Beratung gehen wir grundsätzlich davon aus, dass jeder Mensch die Stärken und Fähigkeiten besitzt, die er oder sie zur Lösung der anstehenden Herausforderungen braucht –  auch wenn er oder sie diese Stärken im Moment (noch) nicht sehen kann. Denn wie sonst können Veränderungen passieren, wenn nicht mit dem, was die Klientinnen und Klienten in die Beratung mitbringen? Dasselbe gilt auch für Familien. Die einzelnen Mitglieder sind in einem komplexen System miteinander verbunden, und was der eine macht, berührt und betrifft den anderen ebenso. Für anstehende Veränderungen sollten daher vorhandene (oder möglicherweise brachliegende) Ressourcen in der Familie aktiviert und gestärkt werden, damit die Familie die Herausforderungen angehen und ihre Probleme meistern kann.

Ressourcen erkennen

Kommt eine Familie zu uns in die Familienberatung, geht es zumeist darum, ein Gleichgewicht zwischen dem Zugehörigkeitsgefühl und der Autonomie der einzelnen Familienmitglieder herzustellen. Dies können wir über die Veränderungen der familiären Interaktionen erreichen oder über die Förderung der individuellen Entwicklung einzelner Personen. Für beide Ansätze ist es wichtig, die bestehenden Ressourcen zu erkennen und zu aktivieren. Das Ziel von ressourcenorientierten Familiengesprächen ist die positive Veränderung der Beziehungen und Interaktionen zwischen den Mitgliedern einer Familie sowie das Entstehen und Wachsen von Empathie und Verständnis füreinander. Damit man sich besser vorstellen kann, wie man Ressourcen für eine Familie erkennen und aktivieren kann, stelle ich hier einige Interventionen aus meiner Beratungspraxis vor. Sie alle haben das Ziel, das positive „Miteinander“  zu stärken.

Gute Zeit miteinander verbringen

Wenn ich Familien frage, können mir die meisten sofort Situationen schildern, in denen sich das Problem, weswegen sie die Beratung aufsuchen, gar nicht oder weniger gezeigt hat, zum Beispiel beim letzten gemeinsamen Ausflug oder im Urlaub. Es ist wichtig, solche Oasen – oder wie ich sie nenne: „Familieninseln“ – gemeinsam zu erkennen und zu benennen. Das Ziel dieser Übung ist unter anderem, dass diese „Inseln“ bewusst werden und häufiger „aufgesucht“ werden können. So kann die Familie sich öfter unbeschwert erleben. Zusammen mit der Familie versuche ich dann, sogenannte „Kraftquellen im Alltag“ zu finden, also Aktivitäten, die allen Familienmitgliedern Freude bereiten. Dies soll einerseits der Erholung dienen, zugleich aber auch die positiven Interaktionen untereinander erhöhen und damit die Beziehungen zueinander stärken.

Ein weiteres wichtiges Ziel dieser Interventionen ist es, diese “Inseln” aus lösungsorientierter Perspektive auf „Lösungen“ im Hinblick auf das Problem genauer anzuschauen. Dabei sind insbesondere Fragen nach dem Unterschied zielführend. Zum Beispiel:

  • Was tun die Eltern/Kinder während der guten Zeiten (mehr), was sie sonst nicht tun?
  • Was macht jemand in den “Inseln” nicht, was er sonst macht?
  • Welche Gedanken hat ein Familienmitglied in einer guten Phase, die er/sie sonst nicht hat?
  • Was nimmt jemand anders wahr, als er/sie es sonst tut?

Die genaue Beobachtung der Unterschiede kann der Familie auch als Aufgabe mitgegeben werden. Ich fordere zum Beispiel manchmal die Familienmitglieder auf, genau darauf zu achten, was in ihrem eigenen Verhalten und im Verhalten der anderen zu einer unbeschwerten Zeit beiträgt.

Lässt sich aus diesen Situationen ein Verhalten identifizieren, zum Beispiel „miteinander lachen“ oder „entspannt zuhören“, versuche ich in einem nächsten Schritt, dieses Verhalten hervorzuheben und gemeinsam zu überlegen, was es braucht, damit dieses Verhalten öfter auch im Alltag und auch in den problematischen Situationen gezeigt werden kann.

Den anderen „ertappen“

Detektivspiele sprechen einen unbeschwerten, neugierigen und kindlichen Teil im Menschen an. In dieser Intervention geht es ums Entdecken und Erwischen. Die Aufmerksamkeit wird dabei spezifisch auf die positiven Begegnungen innerhalb der Familie gelenkt. Ich bitte zum Beispiel jedes Familienmitglied, ein Kärtchen mit dem Namen eines anderen Familienmitglieds zu ziehen. Es bleibt jedoch geheim, wer welchen Namen gezogen hat. Die erste Aufgabe ist nun, dieser Person bis zum nächsten gemeinsamen Beratungsgespräch „etwas Gutes“ zu tun. Die zweite Aufgabe besteht darin, herauszufinden, wer den eigenen Namen gezogen hat, also den anderen dabei zu „ertappen“, wie dieser einem Gutes tut, und eine Liste mit den „guten Dingen“ anzufertigen, die man beim anderen beobachtet hat. Damit versuche ich die Aufmerksamkeit auf die positiven Interaktionen zu lenken. Ein schöner Nebeneffekt: Oftmals wird dem anderen bei dieser Übung eine positive Absicht unterstellt, wo eigentlich gar keine war.

Nun stellt sich natürlich die Frage: Was heisst jemandem „etwas Gutes“ tun? Die Antwort ist für jede Familie und jedes Familienmitglied eine andere. Je nach Familie wende ich deshalb verschiedene Wege an, das herauszufinden. Hier sind zwei Beispiele:

  • Gemeinsam erarbeiten, was „etwas Gutes“ bedeutet: Die Familienmitglieder erarbeiten gemeinsam, was es bedeutet, jemandem etwas Gutes zu tun. Die Ideen sammle ich jeweils an einem Flipchart. Dabei unterscheide ich zwischen materiellen Gaben (z.B. ein gemaltes Bild, Schokolade, eine Blume), sozialen Interaktionen (z.B. ein Lächeln, jemandem Aufmerksamkeit schenken, eine Umarmung) und gemeinsamen Handlungen (z.B. ein Spiel spielen, jemandem Vorlesen, gemeinsam Sport machen, beim Abwasch helfen).
  • Für jeden eine persönliche Liste erstellen: Für jedes Familienmitglied wird eine persönliche Liste erarbeitet, in die die jeweilige Person einbringen kann, was ihm oder ihr Freude bereitet. Die anderen Familienmitglieder dürfen Vorschläge machen. Im Vordergrund sollen hier soziale Interaktionen und gemeinsame Handlungen stehen.

Wenn eine Familie bereits ein allgemeines Verständnis davon hat, wie man den jeweils anderen etwas Gutes tun kann, ist das ein grosser Pluspunkt, denn dann kann diese Ressource schneller nutzbar gemacht werden.

Das Gute sichtbar machen

Eine lustvolle und farbenfrohe Intervention ist es, nette Botschaften auf bunte Klebezettel zu schreiben und so Ressourcen und positive Interaktionen für alle Familienmitglieder sichtbar zu machen und die Aufmerksamkeit vermehrt darauf zu lenken.

Für diese Übung gebe ich der Familie Klebezettel in so vielen Farben, wie die Familie Mitglieder hat. Dabei wird jeder Person eine Farbe zugeteilt (beispielsweise der Mutter Gelb, dem Vater Blau etc.). Die Aufgabe besteht nun darin, dass jedes Familienmitglied den anderen täglich mindestens einen beschrifteten Klebezettel hinterlässt (es dürfen natürlich auch mehr sein). Dies kann eine Grussbotschaft sein („Ich wünsche dir einen schönen Tag!“), ein Kompliment („Du hast heute so schön Klavier gespielt“), die Anerkennung von Stärken oder positiven Eigenschaften („Du bist immer so fröhlich“) oder Ähnliches. Diese Zettel werden für einen vorher definierten Zeitraum (z.B. zwei Wochen) in der Wohnung verteilt und jeweils an Orten platziert, wo der Empfänger sie finden wird, zum Beispiel am Spiegel, an der Kaffeemaschine oder an einer Tür. Mit der Zeit wird so die Wohnung immer bunter, und die positiven Interaktionen werden für alle sichtbarer.

Den Anderen sehen

Vielleicht hat der eine oder andere Leser den Film „Avatar“ gesehen. Dort lernt der Protagonist eine neue Form der Begrüssung kennen. Anstatt „Hallo“ oder „Guten Tag“ zu sagen, grüsst man mit „I see you“ (Ich sehe dich). In diesem Ausdruck liegt eine grundlegend wertschätzende Haltung. Es geht darum, den anderen nicht einfach nur anzuschauen und zu grüssen, sondern ihn in seiner Ganzheit zu sehen und zu erkennen. Liegt der Schwerpunkt der vorher genannten Übungen eher in der Zeit zwischen den Familiengesprächen, so ist es natürlich auch während der Gespräche mein Ziel, die Stärken und Ressourcen der einzelnen Familienmitglieder zu aktivieren und sichtbar zu machen. Deshalb zeige ich ihnen, wie sie sich selbst neu anschauen, neu sehen können.

Im Gespräch lege ich zumindest zu gleichen Teilen den Fokus auf das, was in der Familie bereits gut läuft, und das, was noch verbesserungswürdig ist. Mit Komplimenten und Hinweisen hebe ich das Positive – wo immer ich kann – hervor, indem ich beispielsweise sage: „Mir fällt auf, wie ruhig sie einander beim Reden zuhören, ohne sich gegenseitig ins Wort zu fallen, auch wenn sie anderer Meinung sind“ oder: „Ich sehe, dass sie sehr besorgt und motiviert sind, dieses Problem zu lösen, weswegen sie ja heute alle gemeinsam hier in die Beratung gekommen sind“. So lernen die Familienmitglieder, die guten Dinge in einer Situation zu sehen, ihre positiven Fähigkeiten zu betonen und ihre Stärken zu schätzen und zu leben.

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Dr. Imke Knafla war nach ihrem Psychologiestudium an der Universität Trier (Deutschland) als Assistenz im Psychologischen Institut an der Universität Zürich tätig. Dort promovierte sie im Bereich der Verhaltensmedizin. Im Anschluss liess sie sich parallel zu ihrer Tätigkeit als Weiterbildungskoordinatorin an der Universität Bern zur eidgenössisch anerkannten Psychotherapeutin ausbilden.

Nach mehrjähriger psychotherapeutischer Tätigkeit im stationären und ambulanten Bereich ist sie seit 2012 als Beraterin, Psychotherapeutin und Dozentin am IAP Institut für Angewandte Psychologie der ZHAW tätig. Dort leitet sie den Weiterbildungslehrgang Ressourcen- und lösungsorientierte Beratung. Ausserdem ist sie als Dozentin und Supervisorin in der Aus- und Weiterbildung tätig und leitet die Beratungsstelle für Studierende und Mitarbeitende der ZHAW.

Schlagwörter: Familie, Psychotherapie

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