Die Lebenswelt von Jugendlichen verändert sich mit dem Eintritt in die Berufslehre oder ins Gymnasium stark. Auch Alkohol- und Cannabiskonsum werden vermehrt ein Thema. Häufig werden dabei von der Gesellschaft die Menge des Konsums und die schädliche Wirkung ins Zentrum gestellt. Was aber brauchen Jugendliche für eine gesunde Entwicklung? Dieser Frage gingen wir in unserer Masterarbeit nach.
Text: Brigitte Pfanner-Meyer und Barbara Schmocker, Master-Studentinnen, Departement Angewandte Psychologie der ZHAW
Foto: Pixabay / Wendy McCormick
Die Adoleszenz ist geprägt von Entwicklungsaufgaben. Einerseits werden bisherige Möglichkeiten erweitert, andererseits bedeutet der Übergang ins Erwachsenenleben ein Verlassen von Bekanntem, das Aufgeben von Sicherheit. Solche Übergangsphasen nennt man in der Psychologie „Transition“. Ein Beispiel ist der Übergang in die Sekundarstufe II: Plötzlich werden ganz neue Anforderungen an die Jugendlichen gestellt, die Leistungsanforderungen nehmen zu, es wird mehr Selbstständigkeit verlangt, und Beziehungen zu Gleichaltrigen verändern sich. Entwicklungstheoretisch betrachtet gelten Transitionen als sehr intensive Veränderungsphasen. Den Jugendlichen eröffnen sich neue Lebenswelten, in denen sie neues Verhalten ausprobieren können. Auch Drogenkonsum wird ein Thema. Das hat unser Interesse geweckt. Wir wollten in unserer Masterarbeit, begleitet durch Célia Steinlin, der Frage nachgehen, warum in dieser Phase vermehrt Alkohol und Cannabis konsumiert wird und wie man Jugendliche dahingehend unterstützen kann, dass es bei einem moderaten Drogen-Konsum bleibt und nicht zum Missbrauch kommt. Unsere Recherchen zeigten, dass es für Jugendliche während der Adoleszenz bis zum 9. Schuljahr eine flächendeckende Strategie für Drogenprävention gibt. In den weiterführenden Ausbildungen findet jedoch keine strategische Drogenprävention statt, obwohl dies für Jugendliche gerade in dieser transitionalen Phase wichtig wäre.
Entwicklungsaufgaben in der Adoleszenz
Die Adoleszenz zeichnet sich durch verschiedenste Entwicklungsaufgaben aus. Jugendliche streben nach Autonomie, sind auf der Suche nach ihrer Identität, und Gleichaltrige werden zunehmend wichtiger. Es gelingt Jugendlichen immer mehr, unterschiedliche Perspektiven einzunehmen und vorgegebene Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen. Diese neue Fähigkeit begünstigt die Autonomieentwicklung. Sie verbringen ihre Freizeit zunehmend mit Peers und können so die Freiheiten von Gleichaltrigen beobachten. Das gibt den Jugendlichen Impulse für das eigene Autonomiestreben. So setzen sie sich in dieser Phase mit der Frage auseinander, wer sie sein wollen. Die Entwicklung der eigenen Identität erfolgt dabei im Dialog mit den Gleichaltrigen aus dem nahen Umfeld und im Dialog mit den Eltern. Der Übergang in die Ausbildung stellt für Jugendliche eine weitere Herausforderung an ihre kognitive, motivationale und soziale Leistungsfähigkeit dar. Sie müssen sich an die neue Schul- bzw. Ausbildungssituation anpassen, neue Beziehungen zu Gleichaltrigen und Erwachsenen knüpfen, sich an einen neuen Tagesrhythmus und eventuell an die ersten Vorgesetzten gewöhnen und sich mit vollkommen neuen Leistungsanforderungen auseinandersetzen. Die Bewältigung all dieser Herausforderungen ist ein wichtiger Teil der Identitätsentwicklung. Gute Bewältigungsstrategien und soziale Ressourcen sind von zentraler Bedeutung für den erfolgreichen Umgang mit den neuen Anforderungen.
Coping – Der Umgang mit Stress
Studien zeigen, dass Jugendliche alltägliche Stressoren wie Auseinandersetzungen mit den Eltern, Streit mit Freunden oder Probleme in der Schule oder am Arbeitsplatz als Belastungen wahrnehmen. Deshalb sind Strategien im Umgang mit Belastungen für die Stressbewältigung für Jugendliche zentral. Fachleute sprechen von „Coping-Strategien“. Der Begriff Coping kommt aus dem Englischen und bedeutet so viel wie „bewältigen“ oder „überwinden“. Zu Beginn der Adoleszenz sind die Coping- oder Bewältigungsstrategien noch wenig differenziert. Studien zeigen, dass die meisten Menschen erst in der späten Adoleszenz auf funktionale Bewältigungsstrategien zurückgreifen können. Damit sich funktionale Bewältigungsstrategien entwickeln, sind Jugendliche auf Unterstützung durch das soziale Umfeld wie Eltern und Lehrpersonen angewiesen.
Um ein funktionales Coping konkret zu beschreiben stelle man sich beispielsweise folgende Situation vor: Felix ist im zweiten Lehrjahr und wurde von seiner Freundin verlassen. Dadurch ist er im Lehrbetrieb unkonzentriert und macht Fehler. Der Ausbildner ist irritiert und spricht Felix auf die Fehler an. Ist Felix offen und transparent und erklärt dem Ausbildner seine persönliche Situation, können gemeinsam Lösungen gefunden werden, was einer funktionalen Bewältigungsstrategie entspricht. Bleibt Felix hingegen verschlossen und raucht nach Arbeitsschluss lieber einen Joint, um seine Probleme vorübergehend zu vergessen, spricht man von nicht-funktionalen Strategien. Die Zunahme eines funktionalen Copings wird als „Turning Point“ (Wendepunkt) bezeichnet und führt zu einer Stressreduktion. Wichtig für eine nachhaltige Stressreduktion und eine gesunde Entwicklung ist also das aktive Angehen von Problemen durch funktionale Coping-Strategien.
Alkohol und Cannabis als Coping-Strategie
Der Konsum von Alkohol und Cannabis im Jugendalter wird meist in einen negativen Zusammenhang gebracht. Dabei geht oft vergessen, dass viele der risikobehafteten jugendlichen Verhaltensweisen auch eine positive Funktion für die Bewältigung der anstehenden Entwicklungsaufgaben haben. So kann ein moderater Konsum im Jugendalter die Lösung von normativen Entwicklungsaufgaben fördern, indem beispielsweise der Peer-Status gefestigt oder die Unabhängigkeit gegenüber den Eltern ausgedrückt wird. Die Forschung geht sogar so weit zu sagen, dass sich Jugendliche mit einem moderaten experimentellen Konsum gesünder entwickeln als abstinente Gleichaltrige. Als Motive für den Alkoholkonsum nennen Jugendliche vorwiegend soziale Beweggründe und Verstärkungsmotive: Die Party macht beispielsweise mehr Spass oder sie mögen das Gefühl, das durch den Konsum von Alkohol hervorgerufen wird. Am wenigsten konsumieren sie Alkohol aus Konformitätsgründen. Dasselbe gilt für den Konsum von Cannabis. Auch hier ist Konformität nicht der Treiber. Vielmehr wird Cannabis konsumiert, um Probleme zu vergessen und die Stimmung zu heben. Dies berichteten fast die Hälfte der kiffenden Jugendlichen in einer Studie von Sucht Schweiz.
Wie können Jugendliche unterstützt werden?
Der Konsum von Alkohol und Cannabis im Jugendalter ist an sich nicht nur negativ. Das grösste Risiko für die Entwicklung und Gesundheit im Kindes- und Jugendalter stellen Abhängigkeitsstörungen dar. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass eine hohe Regelmässigkeit oder grosse Mengen von Alkohol oder Cannabis zum Teil mit ernsthaften Folgen verbunden sind. Dauerhaft hoher Konsum kann sich ungünstig auf die Persönlichkeitsentwicklung, die Leistungsfähigkeit und die Motivation auswirken, was wiederum zu Schwierigkeiten in der Ausbildung oder sogar zum Abbruch von Schule oder Lehre führen kann. Unsere Untersuchung von über 2’000 Jugendlichen in Ausbildung im Kanton Bern konnte aufzeigen, dass funktionales Coping Jugendliche vor übermässigem und damit missbräuchlichem Konsum von Alkohol und Cannabis schützen kann. Um mit den Jugendlichen eine offene Kultur zu schaffen, in welcher Probleme diskutiert und angegangen werden können, ist die Förderung eines positiven Klassen- und Lernklimas zentral. Durch den Austausch können Sozialkompetenzen erweitert und Bewältigungsstrategien vorgelebt werden. Wichtig dabei ist die Sensibilisierung der Bezugspersonen in der Schule und im Lehrbetrieb. Zudem braucht es Kenntnisse über die Entwicklung der kognitiven Bewältigungsstrategien von Jugendlichen und das Wissen darüber, wie diese Strategien gefördert werden können. Auch für Eltern ist das wichtig. Damit Eltern ihre Kinder in dieser Zeit der Herausforderungen konstruktiv begleiten können, müssen sie in ihrer Elternrolle gestärkt werden. Diese Stärkung der Eltern können Schulen unterstützen, indem sie Veranstaltungen zu verschiedenen Themen der Adoleszenz organisieren. Auch der Austausch unter den Eltern wird so erleichtert und gefördert. Zudem können Schulen eine Anlaufstelle für Jugendliche einrichten. So wird bei akuten Problemen der Zugang zur Unterstützung für die Jugendlichen erleichtert.
Coping – In Kürze erklärt
Coping (von englisch to cope with, „bewältigen, überwinden“), wird im Modell von Folkman und Lazarus (1984) als ein dynamischer und zielgerichteter Prozess verstanden. Ziel des Copings ist es, Stress zu reduzieren, welcher aus der Konfrontation mit fordernden oder überfordernden Ansprüchen resultiert. Es können verschiedene Coping-Strategien unterschieden werden, die in folgender Grafik dargestellt sind (Grafik nach Gelhaar, 2010, S. 136).
Tipps für Eltern, Lehrpersonen und Ausbilder
Mit unserer Masterarbeit konnten wir aufzeigen, dass Stress im Jugendalter zu erhöhtem Konsum von Alkohol und Cannabis führt. Damit Jugendliche den Stress besser bewältigen können, sollten funktionale Bewältigungsstrategien konkret gefördert werden. Um Eltern, Lehrpersonen und Ausbilder in diesen Bemühungen zu unterstützen, haben wir eine Liste für die Anwendung im Alltag zusammengestellt. Hier ist sie:
Tipps für Eltern
Zeigen Sie Interesse an der Lebenswelt Ihres Kindes und bewerten Sie das Verhalten nicht sofort. Holen Sie den Jugendlichen in seiner Erlebniswelt ab. Zuhören anstelle von Ratschlägen fördert dabei, dass Jugendliche über sich erzählen.
Folgende Fragen können Sie dabei unterstützen:
- Mit wem warst du unterwegs?
- Wo warst du unterwegs?
- Was hat dir Spass gemacht?
- Wie hast du dich dabei gefühlt?
Führen Sie offene Gespräche
- Trinkt ihr ab und zu auch Alkohol?
- Gibt es Kollegen, die rauchen?
Wenn Jugendliche konsumieren:
- Was ist dein Gefühl dabei?
- In welchen Situationen kiffst/trinkst du gerne?
- Wo bist du, wenn du kiffst/trinkst?
Hilfreiche Links
Für Eltern: SuchtSchweiz – Infos & Buchtipps
Für Jugendliche: “feel-ok” Unterstützung für Jugendliche
Tipps für Lehrerinnen und Lehrer
Fördern Sie ein positives Klassenklima.
- Haben Sie ein offenes Ohr für Probleme Ihrer Lernenden, Schülerinnen und Schüler.
- Begegnen Sie den Lernenden wertschätzend, nehmen Sie deren Anliegen ernst.
- Nehmen Sie sich auch im Unterricht Zeit, um Probleme zu diskutieren (Störungen haben Vorrang).
- Zeigen Sie den Lernenden/Schülern konkrete Problemlösestrategien auf (Lernen am Modell).
- Fördern Sie soziale Unterstützung, indem Sie die Jugendlichen in Gruppen über die Schwierigkeiten diskutieren lassen.
Beziehen Sie die Eltern bei Schwierigkeiten mit ein.
- Informieren Sie Eltern in Absprache mit den Jugendlichen bei Schwierigkeiten.
- Führen Sie Gespräche gemeinsam mit Eltern und Jugendlichen.
Hilfreiche Links:
Berner Gesundheit – Gesundheitsförderung und Prävention in der Ausbildung
Tipps für Ausbildende und Ausbildungsinstitutionen
Sensibilisieren Sie Lehrpersonen bezüglich der Entwicklung von funktionalen Bewältigungsstrategien der Jugendlichen.
- Integrieren Sie Inputs durch Fachpersonen (z.B. Berner Gesundheit) in Kollegiumsanlässen.
- Fördern Sie den Austausch zwischen den Lehrpersonen bezüglich positiven Erfahrungen im Umgang mit Problemsituationen.
Schaffen Sie eine niederschwellige Anlaufstelle für Jugendliche innerhalb der Institution.
Etablieren Sie Plattformen für Eltern von Jugendlichen in der Ausbildung.
- Informationsabende für Eltern bezüglich Themen wie:
– Ablauf der Ausbildung
– Pflichte und Rechte der Auszubildenden und der Eltern
– Fachinputs für Eltern bezüglich Adoleszenz (Entwicklung, Stress, Rolle der Eltern) - Fördern Sie den Austausch unter den Eltern mit Jugendlichen in Ausbildung.
Hilfreiche Links:
Berner Gesundheit – Gesundheitsförderung und Prävention in der Ausbildung
Zu den Autorinnen
Brigitte Pfanner-Meyer studiert im Master Angewandte Psychologie mit klinischer Vertiefungsrichtung an der ZHAW. Neben dem Studium arbeitet sie als psychologische Bezugsperson mit delinquenten männlichen Jugendlichen in der Kantonalen BEObachtungsstation in Bolligen. Ihr Tätigkeitsgebiet umfasst psychodiagnostische Abklärungen und psychologische Beratungen der Jugendlichen und ihrer Familien. Zudem ist sie Workshop-Leiterin im Bereich „Neue Medien“ für die Pro Juventute.
Barbara Schmocker studierte im Master Angewandte Psychologie mit klinischer Vertiefungsrichtung an der ZHAW. Sie arbeitet als Beraterin für ein Regionales Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) und unterstützt dort speziell Menschen mit einer körperlichen oder psychischen Beeinträchtigung. Ihr Tätigkeitsgebiet umfasst unter anderem die Beurteilung der beruflichen und persönlichen Voraussetzungen und die Erarbeitung von institutionsübergreifenden Lösungen für ihre Kundinnen und Kunden.
Für ihre Masterarbeit „Welche Faktoren beeinflussen den Drogenkonsum von Jugendlichen und welche Rolle spielen dabei Stress und Coping?“ wurden Brigitte Pfanner-Meyer und Barbara Schmocker mit dem SBAP-Preis für herausragende Masterarbeiten in der Angewandten Psychologie ausgezeichnet.
Echt toller Artikel, voll mit nützlichen Tipps. Ich hoffe ihr konntet mit eurer Masterarbeit sehr gut punkten 😉
Eine bessere Sensibilisierung zum Thema Alkohol, Tabak u. Cannabis bei Jugendlichen sehe ich als super wichtig. Vermutlich habt ihr ja damit einen guten Beitrag dazu geleistet. 🙂
Hab den Artikel auf jeden Fall mal auf FB u. Twitter geteilt.
Es freut uns, können wir mit unserem Blogeintrag hilfreiche Tipps weitergeben 🙂
Wir danken dir für das Teilen unseres Beitrags!
Herzlichen Dank für die knapp und klaren Infos!