«Wir alle tragen unsere kulturelle Brille»

Das Schweizer Gesundheitswesen ist geprägt durch einen hohen Anteil ausländischer Fachkräfte. Die kulturelle Vielfalt hat Vorteile – bringt aber auch Herausforderungen mit sich. Um sie zu meistern, benötigen Gesundheitsfachleute interkulturelle Kompetenzen. Diese werden in Ausbildung und Praxis aber noch zu wenig gefördert.

von Tobias Hänni

Es klaffen Lücken im Schweizer Gesundheitswesen. Bei der Ärzteschaft, beim Pflegepersonal, bei Apotheker:innen und bei technisch-medizinischen Berufen – in vielen Berufen herrscht ein akuter Fachkräftemangel. Und das Problem dürfte sich weiter verschärfen: 2022 wies das Beratungsunternehmen PWC darauf hin, dass der Schweiz bis 2040 rund 40 000 Pflegefachkräfte und 5500 Ärzt:innen fehlen werden.

Seit Jahren füllen ausländische Fachkräfte die Lücken. Sie sind längst eine unverzichtbare Stütze: Laut dem Bundesamt für Statistik liegt der Anteil ausländischer Pflegefachkräfte in Spitälern und Kliniken bei 33,9 Prozent, bei der Ärzteschaft sind es gar 46,9 Prozent. Über alle Berufsgruppen gesehen machen Ausländer:innen gut ein Drittel des Personals aus.

Diverse Gesellschaft abbilden

Das heisst auch: Das Gesundheitswesen ist ein Schmelztiegel, in dem Menschen aus verschiedenen Kulturen zusammenarbeiten. Das kann ein Gewinn sein, aber auch Probleme mit sich bringen. 2023 kam eine schwedische Übersichtsstudie zum Schluss, dass sich kulturelle Vielfalt unter anderem negativ auf die Kommunikation auswirken, dass sie Konflikte verstärken und die Teamleistung mindern kann. Sind jedoch gewisse Voraussetzungen erfüllt – etwa entsprechend sensibilisierte Führungspersonen –, ist sie vor allem im Umgang mit kulturell unterschiedlichen Patient:innengruppen ein Gewinn.

Davon ist auch Claudia Schönbächler überzeugt, Leiterin ANP Transkulturelle Versorgung und Mitglied der Kommission für Diversität am Universitäts-Kinderspital Zürich. «Eine kulturell diverse Belegschaft repräsentiert die Gesellschaft. Das führt zu einer besseren Versorgung.» Wissenschaftlich belegt sei auch, dass Diversität zu kreativen Lösungen und Innovation führe, so Schönbächler. Daneben bringen multikulturelle Teams aber auch Herausforderungen mit sich. «Es geht dabei oft um die sprachliche Verständigung», sagt sie und nennt als Beispiel den ausländischen Arzt, der beim Gespräch mit Angehörigen aufgrund unzureichender Deutschkenntnisse eine Kollegin um Hilfe bitten muss. Ein anderer Reibungspunkt sei die teils unterschiedliche Auffassung von Hierarchie und Führung. «Es kann vorkommen, dass eine ausländische Fachkraft ein strikteres Hierarchieverständnis hat als ihre Schweizer Kolleg:innen, was sich dann als Herausforderung beispielsweise in der Zusammenarbeit von Ärzteschaft, Therapeut:innen oder Pflege zeigt.»

Andere Normen und Werte

Auch bei der Berner Insel Gruppe, die rund 11 000 Mitarbeitende aus über 100 Nationen beschäftigt, gibt es «zum Teil sprachliche oder kulturelle Herausforderungen», wie Angelika Hug sagt, Co-Leiterin der Fachstelle Gleichstellung. «Doch wir sehen eher die Vorteile, die die Diversität mit sich bringt.» So profitierten Teams beispielsweise davon, wenn jemand die Kultur einer Patientin besser verstehe. Ähnlich äussert sich das Unispital Zürich (USZ) zur interkulturellen Zusammenarbeit. Diese funktioniere in der Regel sehr gut, schreibt die Fachstelle Diversity & Inclusion Management auf Anfrage. «In einer diversen Arbeitsumgebung kann es aber auch zu Kommunikationsschwierigkeiten oder zu Missverständnissen aufgrund andersartiger Normen und Werte kommen.»

Um solchen Problemen in der interkulturellen Zusammenarbeit vorzubeugen, setzen die angefragten Spitäler auf verschiedene Unterstützungsangebote. Die Insel Gruppe etwa bietet intern ein Seminar «Erfolgreiche Zusammenarbeit in diversen Teams» an, zudem gibt es laut Angelika Hug neu eine Weiterbildung für Führungskräfte zum Thema «Umgang mit rassistischer Diskriminierung». Weiter existiere eine Kommission für Diversität, die sich zusammen mit der Fachstelle Gleichstellung mit Aspekten der Diversität befasse. Am USZ nimmt sich die Fachstelle «Diversity & Inclusion Management» diesen Themen an.

Es braucht eine offene Haltung

Doch wie werden ausländische Fachkräfte auf das Schweizer Gesundheitswesen vorbereitet, wie in eine fremde Arbeitskultur integriert? Über spezifische Angebote für ausländische Fachkräfte – etwa eine Anlaufstelle – oder ein Konzept für deren Einarbeitung und Integration verfügen die Spitäler nicht. Bei der Insel Gruppe erhalten ausländische Mitarbeitende vor Stellenantritt Zugang zum HR-Portal. «Dort finden sie Hilfestellungen und Checklisten zur Arbeit in der Schweiz», sagt Hug. Am USZ ist die Einarbeitung und Integration neuer Mitarbeiter:innen Sache der einzelnen Führungspersonen. Auf vielen Abteilungen gebe es ein Gotte-/Götti-System – also eine Bezugsperson, die einer neuen Kollegin während der Einarbeitungsphase zur Seite steht, so die Fachstelle.

Für Claudia Schönbächler vom Kinderspital Zürich hängt eine gelungene Integration ausländischer Fachkräfte von der ganzen Belegschaft ab. «Alle Mitarbeitenden müssen für die interkulturelle Zusammenarbeit sensibilisiert werden.» Es brauche eine offene und respektvolle Haltung. «Das fängt damit an, dass ein Betrieb kulturelle Unterschiede überhaupt adressiert.» Dies geschieht am Kinderspital etwa mit der Verankerung der Diversität im Leitbild, mit Sensibilisierungskampagnen oder Weiterbildungen für Führungspersonen.

Dem Thema mehr Beachtung schenken

Interkulturelle Kompetenzen sollten nicht nur in der Praxis gefördert werden, sondern bereits in der Ausbildung, sagt Susan Schärli-Lim, Dozentin und Forscherin am ZHAW Departement Gesundheit. In beiden Bereichen werde dem Thema aber noch zu wenig Beachtung geschenkt. «Im Pflegestudium wäre die Förderung interkultureller Kompetenzen idealerweise integraler Bestandteil jedes Moduls.» Mit dem Mentoring-Programm TraINErs, das Schärli-Lim mitentwickelt hat, sollen diese Kompetenzen in Studium und Pflegealltag künftig stärker gefördert werden (siehe Kasten).

Laut Susan Schärli-Lim haben die meisten Menschen eine monokulturelle Haltung – das grösste Hindernis für eine erfolgreiche interkulturelle Zusammenarbeit. «Wir alle tragen unsere kulturelle Brille und erwarten, dass andere so ticken wie wir.» Gerade in der Zusammenarbeit mit ausländischen Kolleg:innen könne diese Erwartung jedoch zu Missverständnissen führen, sagt Schärli-Lim und zählt Facetten der zwischenmenschlichen Interaktion auf, in denen sich Kulturen voneinander unterscheiden: Etwa in der Art, wie Konflikte ausgetragen werden, ob Emotionen gezeigt werden oder nicht – und nicht zuletzt bei der Kommunikation. So werde beispielsweise in Asien eher indirekt und subtil kommuniziert, Gesten, Körpersprache oder Beziehungen spielten eine wichtige Rolle. «Im Gegensatz dazu wird in westlichen Ländern explizit und vor allem verbal kommuniziert.» Träfen unterschiedliche Kommunikationsstile aufeinander, könne es zu Konflikten oder Missverständnissen kommen. «Das ist besonders dann problematisch, wenn Missverständnisse fatale Folgen haben können – etwa im Notfall.»

Gesundheitsfachpersonen müssen laut Susan Schärli-Lim deshalb eine ethnorelative Haltung verinnerlichen. «Das heisst, sie sind sich der eigenen Kultur und jener der anderen bewusst. Und sie gehen achtsam mit den Unterschieden um.» Eine solche Haltung sei nicht nur im Umgang mit ausländischen Fachkräften nötig, sondern in der Zusammenarbeit mit allen Kolleg:innen. Denn: «Kultur darf nicht mit Nationalität gleichgesetzt werden. Jeder Mensch ist kulturell anders geprägt, etwa durch das Geschlecht, den Beruf oder die Religion.»

Das illustriert beispielhaft das Erlebnis einer anderen Dozentin am Departement Gesundheit, die nicht namentlich genannt werden möchte. «Als ich als Praktikantin von Deutschland in die Schweiz gekommen bin, hat mich der Vorgesetzte sehr vertraut behandelt, er hat offen, locker und humorvoll mit mir kommuniziert.» Das habe sie irritiert, da sie ihn als Autoritätsperson gesehen und eine eher distanzierte, hierarchische Arbeitsbeziehung erwartet habe. «Obwohl er ebenfalls Deutscher war, hatten wir eine ganz andere Vorstellung der Zusammenarbeit.» Es sei ein Trugschluss, davon auszugehen, dass Menschen gleicher Herkunft stets dieselben Werte teilen oder ähnlich kommunizieren würden. Für die Dozentin ist klar: «Sobald zwei Menschen zusammenarbeiten, wird es multikulturell.» //

Vitamin G, S. 13-15




Dank Mentor:innen interkulturelle Kompetenzen stärken

Interkulturelle Kompetenzen in der Pflege fördern – das ist das Ziel von «TraINErs – Training Intercultural Nursing Educators and Students». Kern des Projekts, an dem sich neben europäischen Hochschulen auch das Institut für Pflege am ZHAW Departement Gesundheit beteiligt, ist die Ausbildung interkultureller Mentor:innen für Lehre und Praxis. «Dafür haben wir ein Mentoring-Profil und einen Lehrplan entwickelt», erklärt Dozentin und Projekt mitglied Susan Schärli-Lim. Geplant sei, dieses Jahr die ersten Dozierenden sowie Pflegefachkräfte aus der Praxis auszubilden. «Diese geben das Wissen und die Kompetenzen anschliessend im Unterricht respektive im Betrieb weiter.» Zu den Praxispartner:innen, die bereits an einem Probelauf in Dänemark teilgenommen haben, gehören der Bereich Alter und Pflege der Stadt Winterthur und das Universitäts-Kinderspital Zürich. «Das Wissen aus dem Programm möchte ich für die Entwicklung eines Weiterbildungsmoduls nutzen», sagt Claudia Schönbächler vom Kinderspital, die am Probelauf teilgenommen hat.


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