Die Ergotherapie und ihre Erfolgsgeschichten

Auf der neuen Online-Plattform «Ergostories» sprechen und schreiben Ergotherapeut:innen über ihre Erfolge. Die Geschichten lösen positive Emotionen aus und stärken das Wir-Gefühl der Branche. Gleichzeitig wirken sie motivierend für Berufseinsteiger:innen – das zeigt auch die Forschung.

Marion Loher

Eine 75-jährige Frau weigert sich hartnäckig, aufzustehen. Nachdem sie im Kantonsspital eine Hüftprothese bekommen hat, ist für sie klar, dass sie nicht mehr gehen kann. Alle Bemühungen, sie zum Gehen zu motivieren, schlagen fehl. Im ergotherapeutischen Erstgespräch erzählt die gebürtige Italienerin von ihrem Tagesablauf vor der Operation. Sie war eine leidenschaftliche Köchin. Die Ergotherapeutin bittet sie, ihr in der nächsten Therapiesitzung zu zeigen, wie man Gnocchi zubereitet. Die Frau willigt ein, doch zum Zeitpunkt der geplanten Therapiestunde ist sie unauffindbar. Nach einiger Zeit kommt sie völlig erschöpft in den Therapieraum.

Sie hat sich selbständig an Stöcken auf den Weg in die Küche gemacht. Doch statt in der Küche der Ergotherapie landete sie in der Reha-Küche und musste den ganzen Weg zurückgehen. In der richtigen Küche angekommen, lässt sie es sich aber nicht nehmen, ihre Kochkünste zu zeigen und gemeinsam mit der Ergotherapeutin italienische Gnocchi zuzubereiten. Am nächsten Tag erzählt sie voller Stolz, wie sie am Abend müde ins Bett gefallen ist. Von diesem Tag an macht sie schnell Fortschritte und kann die Rehabilitation bald verlassen.

Ergotherapie praktisch erklärt

Dies ist eine von mehreren Erfolgsgeschichten der Ergotherapie, die seit Januar 2023 auf der Website «Ergostories» aufgeschaltet sind. «Mit den Geschichten erklären wir Ergotherapie praktisch. Wir zeigen, wie unterschiedlich unsere Klient:innen sind und wie vielfältig unser Beruf ist», sagt Barbara Aegler, Ergotherapeutin und Unternehmerin. Sie führt in Zürich eine eigene Praxis mit zehn Mitarbeitenden. Die Geschichte der älteren Frau zeige sehr schön, dass hinter den ergotherapeutischen Massnahmen mehr stecke. «Es geht um das Zurückgewinnen von Lebensqualität.» Und über diesen Erfolg – und sei er noch so klein – müsse die Branche mehr reden. Aus diesem Grund hat die ehemalige ZHAW-Dozentin zusammen mit Berufskolleginnen die Plattform «Ergostories» aufgebaut.

Hier finden sich momentan rund zwei Dutzend Geschichten, die allesamt ihren Fokus auf den therapeutischen Erfolg richten. Etwa die des jungen Mannes, der seit einem Motorradunfall auf den Rollstuhl angewiesen ist, und mittlerweile wieder selbständig duschen und sich anziehen kann. Ein anderes Beispiel ist die 60-jährige Pflegefachfrau, die unter den Folgen einer Covid-Erkrankung leidet und beim Gehen rasch ermüdet. In der ambulanten Ergotherapie wird ihr zu einem Rollator statt zu Stöcken geraten, was ihr wieder mehr Lebensqualität und Selbständigkeit verleiht. Geschrieben wurden die Erfolgsgeschichten von Ergotherapeut:innen aus der ganzen Deutschschweiz. «Positive Geschichten lösen positive Emotionen aus. Sie stärken einen selbst und das Wir-Gefühl. Dadurch wird die Berufszufriedenheit gefördert», sagt Aegler.

Die Berufsidentität stärken

Die Idee stammt aus Grossbritannien, Aegler und ihre Kolleginnen haben sie für die Deutschschweiz adaptiert. «Insbesondere im ersten Corona-Jahr ist mir aufgefallen, dass viel über Pflegefachkräfte, Physiotherapeut:innen sowie Lehrpersonen gesprochen wurde. Wir kamen nirgends vor, obwohl wir nicht minder davon betroffen waren.» Dies liege wohl einerseits daran, dass der Beruf in der Öffentlichkeit noch zu wenig bekannt sei, vermutet Aegler. Andererseits würden die Ergotherapeut:innen selbst oft eher davon sprechen, was in den Therapien nicht gut funktioniere. Es werde viel geklagt. Mit dem Projekt soll ein Umdenken stattfinden. «Wir machen unsere Erfolgsgeschichten öffentlich und steigern damit unseren Bekanntheitsgrad. Gleichzeitig stärken wir unsere Berufsidentität.»

Dass das Lesen und Schreiben von Erfolgsgeschichten einen Effekt auf die Berufsidentität und die Berufszufriedenheit hat, zeigt auch die Forschung. Céline Delmée und Anne Truninger, die sich beide mittlerweile für das Projekt «Ergostories» engagieren, haben in ihrer Bachelorarbeit den Einfluss von Digital Storytelling auf die Berufsidentität untersucht. Auch Brigitte Gantschnig, ZHAW-Professorin für Evaluation und Assessment in der Ergotherapie, und Thomas Michael Ballmer, Ergotherapeut und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Ergotherapie, verfassten eine Studie über die Auswirkungen von professionellem Storytelling auf die ergotherapeutische Berufsidentität.

Gegen den Fachkräftemangel

Für die Studie, mitfinanziert von Innosuisse, führten Gantschnig und Ballmer eine Literaturrecherche durch. Gleichzeitig erforschten sie den Zusammenhang zwischen Berufsidentität, Berufszufriedenheit und einem langfristigen Verbleib im Beruf. «Gerade in Bezug auf den Fachkräftemangel ist dies ein relevantes Thema», sagt Gantschnig. Eine nationale Studie aus dem Jahr 2022, an der die Wissenschaftlerin mitgearbeitet hat, habe ergeben, dass in der Ergotherapie sieben Prozent der Stellen nicht besetzt sind. «Wir sind deshalb sehr interessiert daran, Wege zu finden, die den Fachkräftemangel reduzieren.»

Die 13 Studien, die Gantschnig und Ballmer im Rahmen der internationalen Literaturrecherche untersucht haben, zeigen, dass professionsbezogenes Storytelling einen positiven Einfluss auf die Berufsidentität von Personen in Ausbildung hat. «Leider gibt es zur Berufsidentität von Ergotherapeut:innen, die schon länger im Beruf sind, kaum Untersuchungen», so Ballmer. Aus der Studie sei aber ein deutlicher Zusammenhang zwischen Berufsidentität, Berufszufriedenheit und Berufsverbleib hervorgegangen. Ballmer betont, dass professionelles positives Storytelling lediglich eine von mehreren Massnahmen ist, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. «Der Beruf ist vielschichtig, wir müssen hier auch andere Aspekte wie Entlöhnung und Vereinbarkeit von Familie und Beruf mitdenken.»

Der Lohn ist auch für Barbara Aegler ein wichtiges Thema. «Durch das Projekt erhoffen wir uns langfristig eine bessere Entlöhnung.» Dafür brauche es aber mehr Sichtbarkeit der Ergotherapeut:innen in der Öffentlichkeit. Die «Ergostories» sollen ein erster Schritt in diese Richtung sein. «Wenn wir selbstbewusst zeigen, was wir alles leisten, können wir auch unseren Lohn besser verhandeln», ist sie überzeugt. //

Vitamin G, S. 19-20


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3 Kommentare

  • Ich wusste gar nicht, dass die Ergotherapie eine so lange Geschichte hat. Ich bin aber begeistert von Ergotherapeuten, weil sie eine neue Art schaffen Menschen zu helfen. Ich finde es schön wenn es noch viel mehr Ergotherapeuten gäbe.

  • Mein Onkel war letztens auch bei der Ergotherapie und war sehr zufrieden damit. Nun werde ich mich daher auch einmal mit diesem Thema etwas näher auseinandersetzen. Vitamin G wird mir sicherlich auch nicht schaden.


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