VON DIAKONISSEN, EHRBAREN WEIBERN UND TÜCHTIGEN MASSEUREN

Entwicklung der Gesundheitsberufe und ihrer Ausbildungen ist eng verknüpft mit der Sozialgeschichte. Pflegende, Hebammen sowie Physiotherapeutinnen und -therapeuten waren über Jahrzehnte, zum Teil Jahrhunderte, in ihre ureigenen gesellschaftlichen Strukturen eingebettet. Eine Längsbetrachtung.

VON IRÈNE DIETSCHI

Der Beruf der Heilgymnastin, so kann man in einer studentischen Projektarbeit von 2004 nachlesen, liess sich in der Schweiz lange nur privat erlernen. Die Anforderungen in den 1920er-Jahren waren der Besuch einer höheren Töchterschule oder eines Gymnasiums. Zudem empfahl sich ein Abschluss in Kranken- oder Kinderpflege. Die Aspirantinnen mussten 600 Franken Schulgeld pro Jahr hinblättern. Heilgymnastin konnte so nur werden, wer dem gehobenen Milieu entstammte.
Gleichwohl bezeichnete Richard Scherb, von 1918 bis 1950 Direktor der orthopädischen Klinik Balgrist in Zürich, die von Frauen ausgeübte Heilgymnastik abschätzig als «schlüpfrigen Beruf», wie Masseuse oder Coiffeuse. «Heilgymnastinnen finden Beschäftigung in Töchterpensionaten und bei Privaten, aber sie werden nur untergeordnet wie Köchin und Kindermädchen behandelt», schrieb er.

Mit Massage fing es an
Tatsächlich entwickelte sich die Physiotherapie in der Schweiz anders als im übrigen Europa. Sie ging nicht wie in Deutschland aus der Heilgymnastik hervor – die erwähnten privaten Heilgymnastinnen spielten eine marginale Rolle –, sondern aus dem Beruf des Masseurs. Anfang 20. Jahrhundert forderte ein Teil der Masseure eine einheitliche Ausbildung mit Diplom, um sich von den unseriösen Berufskollegen abzuheben, die unter dem Deckmantel der Massage Kurpfuscherei betrieben und der Prostitution nachgingen.
Mit ihrem Begehren gelang es den Masseuren, sich zu profilieren. 1917 wurde am Physikalischen Institut der Universität Zürich die erste Massageschule gegründet. Zwei Frauen und sieben Männer besuchten als Erste die einjährige Ausbildung. Als ärztliche Hilfsarbeiter sollten sie Ärzten physikalische Massnahmen abnehmen: Massieren, Turn- und Atemübungen, Anwendungen wie Hydro- oder Thermotherapie und mehr. «Den Ärzten fiel es jedoch schwer, Aufgaben aus der Hand zu geben», erzählt Astrid Schämann, Leiterin des ZHAW-Instituts für Physiotherapie. Zudem waren die Spitäler zurückhaltend, diplomierte Fachkräfte anzustellen und ihnen höhere Löhne zu bezahlen als unqualifizierten Hilfskräften. Viele Absolventen blieben deshalb arbeitslos.

Neustart nach dem Krieg
In den Kriegsjahren versandete der Betrieb der Zürcher Massageschule, um 1948 neu aufzublühen: Sie hiess jetzt Fachschule für Masseure, Heilgymnasten und Physikal-Therapeuten, die Ausbildung wurde auf drei Jahre erweitert. Das Niveau stieg auf jenes der tonangebenden Heilgymnastikschulen in Schweden. Von 1980 bis 1995 gewann die Physiotherapie in der Schweiz erneut an Dynamik. «Es war die Zeit der Methodenorientierung und -ausdifferenzierung», erzählt Schämann, «inzwischen existierten mehrere Schulen, jede mit einem methodischen Schwerpunkt.» Darauf folgte bis 2006 eine Phase, die den Patienten und sein Problem ins Zentrum rückten. «Ganzheitlichkeit» und «Methode der Wahl» hiessen die Schlagwörter der Lehre, die an Universitätsspitälern und in Rehakliniken starke Stützstellen hatte.
2002 initiierten Karin Niedermann und Omega Huber, heute beide an der ZHAW tätig, einen Masterstudiengang für Physiotherapie, der auf einer Kooperation der Universitäten Zürich und Maastricht beruhte. «Das war einschneidend», so Astrid Schämann. So hätten Physiotherapeutinnen und -therapeuten hierzulande schon früh Weichen gestellt, um die akademische Anschlussfähigkeit des Fachs vier Jahre später zu bewerkstelligen. 2004 entschied der Bundesrat, Physiotherapie ab 2006 auf Fachhochschulstufe anzusiedeln, zusammen mit anderen Gesundheitsberufen. Drei Viertel der Physiotherapeuten, die ihren Titel im alten System erworben hatten, holten den Fachhochschultitel nach.


Susanne Klein-Vogelbach (1909–1996)
Nach einer Ausbildung zur Lehrerin für rhythmische Gymnastik und einem Aufenthalt in Japan gründete Susanne Klein-Vogelbach am Kantonsspital Basel eine eigene Schule für Physiotherapie. Von 1955 bis 1975 entwickelte sie die «Funktionelle Bewehrungslehre», die in der Physiotherapie noch heute ihren Stellenwert hat, und erhielt 1979 die Ehrendoktorwürde der Universität Basel.


Lesen Sie im PDF weiter über den Pflege- und Hebammenberuf von damals (mit vielen Bildern)

«Vitamin G», Seite 10-13


WEITERE INFORMATIONEN

  • Schweizerische Gesellschaft für Gesundheits- und Pflegegeschichte
  • Literatur: Sabine Ruth Welti: Massage und Heilgymnastik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: zur Professionalisierung der Physiotherapie. Hg. von der Abteilung Berufsbildung SRK Wabern und dem Schweizerischen Physiotherapeuten-Verband. Wabern: Schweizerisches Rotes Kreuz, Abt. Berufsbildung 1997.


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