«SCHNITTSTELLEN WERDEN ZU NAHTSTELLEN»

Im Sommer 2018 hat das ZHAW-Departement Gesundheit die Kooperationen mit anderen Schweizer Hochschulen durch eine interprofessionelle Ausrichtung ihrer Masterstudiengänge Hebamme, Pflege und Physiotherapie ersetzt. Die Studiengangleitenden erklären, was das ab dem kommenden Herbstsemester für Neuerungen mit sich bringt.

VON JOSÉ SANTOS

Was nützt es einer Physiotherapeutin, wenn sie zusammen mit einer Hebamme studiert?

Karin Niedermann: Indem wir auf Masterstufe die Denk- und Arbeitsweisen der anderen Gesundheitsberufe kennenlernen, verstehen wir besser, wofür wir als Physiotherapeutinnen selber verantwortlich sind und wo eine Arbeit oder ein Entscheid Sache der Pflege, der Hebamme oder weiterer Professionen ist. Wenn es uns gelingt, das interdisziplinäre Studium zu leben, dann ist das für alle eine Bereicherung.

Wie profitieren Pflege und Hebammen von den anderen Berufsgruppen?

André Fringer: Die Berufsgruppen durchlaufen gegenwärtig alle eine weitere Phase der Professionalisierung. Und in der Professionalisierung bedeutet Sprache Macht. Über eine eigene Sprache können sich Disziplinen voneinander abgrenzen. Dies ist in den letzten 20 bis 30 Jahren geschehen, und die Physiotherapie, die Pflege und der Beruf der Hebammen haben sich zu eigenständigen akademischen Disziplinen entwickelt. Heute – im sich schnell verändernden Gesundheitswesen – geht es aber darum, die Umwege, die durch die verschiedenen Sprachen entstanden sind, abzubauen. Die Gesundheitsberufe sollen die gleiche Sprache sprechen und sich auf Augenhöhe begegnen. 

Karin Brendel: Den konsequent interprofessionellen Ansatz, den wir in den drei Masterstudiengängen verfolgen, sehe ich als grosse Chance und als Vorstufe für eine weitere Entwicklung: Mein Wunsch ist es, dass auch die Medizinstudenten/-innen mit unseren drei Professionen zusammen studieren. Insbesondere für Hebammen wäre es wichtig, dass Studierende der Medizin Teile ihres Studiums mit ihnen gemeinsam absolvieren würden. Zusammen mit den Ärztinnen und Ärzten entsteht sozusagen die Interprofessionalität 3.0.
Gemeinsame Module mit der Medizin sehe ich zum Beispiel im Bereich von komplexen Situationen, des Family- und des Community-Systems sowie der Diversity.

Wie profitieren Patientin und Klient von der interprofessionellen Ausbildung?

Karin Brendel: Unsere Absolventinnen und Absolventen werden die Versorgungswege kürzer machen und Zuständigkeiten rascher klären.
Wenn ich als Hebamme etwas bei einer Frau entdecke und weiss, wie ich es den Kollegen der Physiotherapie oder Pflege weitergeben muss, ohne dass die Frau nochmals alles erklären muss, werden die Schnittstellen zu Nahtstellen. Eine Berufsgruppe macht die Anamnese und gibt diese an die anderen weiter. Alles geht viel schneller und die Patienten merken, dass sie im ganzen System gut aufgehoben sind.

Karin Niedermann: Schlussendlich erfolgt der grosse Schritt zu Gunsten des Patienten aber erst, wenn auch die Medizin näher rückt. Wie Karin Brendel sagte: Erst wenn die Mediziner gemeinsame Ausbildungselemente mit uns Gesundheitsberufen an der Fachhochschule absolvieren – oder wir substanzielle Teile mit den Medizinerinnen an der Universität –, findet die gemeinsame Sozialisation von Anfang an statt.

Wo wird die Interprofessionalität zwischen Physiotherapie, Hebammen und Pflege konkret gelebt?

André Fringer: Zuerst einmal in der Forschung. Weil unsere drei Disziplinen keine eigenen Forschungsmethoden haben, sondern sich aus den Sozial- und Naturwissenschaften bedienen, können die Studierenden ihre Methodenkompetenzen gut gemeinsam entwickeln.

Karin Niedermann: Dann auch in der Advanced Practice (AP). Tatsache ist: Es gibt heute schon in allen drei Professionen Leute, die in der Praxis AP-Rollen ausüben. Zum Beispiel werden im Inselspital Bern übergeordnet AP-Rollen implementiert und Stellenbeschriebe für Pflege und Therapien entsprechend formuliert. Beim MSc legen wir mit zwei ganzen Modulen nun einen Schwerpunkt auf AP. Damit schaffen wir auch Fakten. Das Gesundheitsberufegesetz wird diese Entwicklungen irgendwann anerkennen und die MSc-Stufe reglementieren müssen. Dafür wollen wir Vorarbeit leisten.

Karin Brendel: Ich denke auch, dass nicht viele Länder und Hochschulen so weit gegangen sind wie wir und für drei Berufsgruppen die gemeinsame Basis von AP herausgeschält haben.

Bleiben wir bei der Advanced Practice: Sind die drei Berufe hier nicht unterschiedlich weit?

André Fringer: Das stimmt, Hebammen, Pflege und Physiotherapie stehen an unterschiedlichen Punkten. Aber alle drei Berufsgruppen sprechen von AP, wir haben ein gemeinsames Interesse. Wenn wir mit einer gemeinsamen Sprache die AP für alle drei Berufsgruppen entwickeln, werden unsere Absolventinnen zu Advokaten für die Transformation des Gesundheitswesens. 

Karin Niedermann: AP bedeutet mehr, als einfach Aufgaben der Ärzteschaft zu übernehmen. Dazu gehören auch Verantwortung und Kompetenzen. So ist es zum Beispiel in der Orthopädie nicht getan, wenn der Physiotherapeut nach einer Operation die Fäden ziehen darf. Er muss die Verantwortung für postoperatives Management bekommen und entscheiden können: Ja, der Patient kann wieder Sport treiben oder arbeiten.

Wo bleibt bei so vielen Gemeinsamkeiten der professionsspezifische Anteil?

Karin Niedermann: Abgesehen von Forschung und AP sind die anderen Module professionsspezifisch. Das ist wichtig, weil wir drei eigenständige Professionen sind. Ich vergleiche das gerne mit einem Hausbau. Niemand würde behaupten, es komme nicht darauf an, ob eine Arbeit vom Schreiner, Elektriker oder Bodenleger gemacht werde. Aber auch auf dem Bau müssen die Schnittstellen als Nahtstellen bearbeitet werden. Und wie auf dem Bau gibt es im Gesundheitswesen das Konzept, dass die Berufe zwar unter Anleitung Arbeiten von einander übernehmen können, es aber immer klar sein muss, wer dafür zuständig ist, und alle Kompetenzen der Beteiligten gefragt sind

Gibt es mit dem MSc-Abschluss zugleich den Titel APP, APM, APN?

Karin Niedermann: AP ist ein Konzept und die Praxis will APNs oder APPs. Unsere Botschaft ist, dass der MSc-Abschluss eine zentrale Voraussetzung ist, um AP-Rollen in der Praxis zu übernehmen.

André Fringer: Schlussendlich sind wir ein Modellprojekt. Bei den jüngsten Anmeldezahlen wird aber deutlich, dass Interesse an den neuen MSc-Studiengängen vorhanden ist.

Apropos Interesse: Gibt es auch erste Rückmeldungen aus der Praxis?

André Fringer: In der Pflege haben wir das neue Masterkonzept Praxisinstitutionen wie dem KSW, dem Universitätsspital Zürich, der Spitex Zürich oder dem Kantonsspital St. Gallen vorgestellt und das Curriculum mit den Bedürfnissen der Praxis gespiegelt. Die Rückmeldungen waren durchaus positiv.

Das klingt nach wunderbarer Eintracht. Kann der MSc wirklich alle Anforderungen erfüllen?

André Fringer: Nein, schliesslich ist das Vollzeitstudium auf drei, das Teilzeitstudium auf sechs Semester beschränkt. Betriebswirtschaftliche Führungskompetenzen oder auch gesundheitsökonomische Themen müssen in nachfolgenden Weiterbildungen erworben werden – je nachdem, welche zusätzlichen Kompetenzen die betreffende Person eben für ihren Job benötigt.
Auf jeden Fall sind nun auch die grossen Player in unserer Region wie KSW oder USZ mit uns auf einer Linie; das war im Herbst 2018 noch nicht so.

Karin Brendel: Auch pädagogische beziehungsweise andragogische Kompetenzen kann unser Master nicht abdecken.

Karin Niedermann: Im Kontext von AP beschäftigt uns die Frage, wie wir etablierte Berufsleute mit MAS oder klinischer Spezialisierung einbeziehen oder so aufwerten können, damit auch sie eine AP-Rolle in der Praxis übernehmen – oder sogar behalten – können.

Karin Brendel: Die grossen Häuser haben schon Hebammen mit MSc-Abschluss und schicken auch Bachelorabsolventinnen zu uns. Wir müssen nun auch den kleineren Häusern aufzeigen, was sie davon haben. Auf den neuen Master haben wir viele positiven Reaktionen bekommen. Wir sind ja vor zwei Jahren erst mit dem MSc gestartet. Da waren sehr viele Leute skeptisch und fragten, wieso es nun zum berufsqualifizierenden Bachelor noch einen Master brauche. Heute ist das anders, zum einen, weil schon Studierende mit Master begleitend in der Praxis erfolgreich arbeiten, und zum anderen, weil sie schon zu Beginn der Neuentwicklung mit einbezogen waren.

Die Masterstudiengänge beinhalten neu auch mehr digitale Lernformen. Was gehört da dazu?

Karin Niedermann: Die Wissensvermittlung findet nicht mehr primär im Unterricht statt und die Studierenden verarbeiten das Gelernte dann daheim. Vielmehr ist es nun umgekehrt. Das Wissen wird im zeitlich und örtlich unabhängigen e-Learning vermittelt, im Unterricht werden anschliessend Fragen und Fallbeispiele interaktiv behandelt. So möchten wir das Blended Learning etablieren.

Karin Brendel: Die Studierenden sind im Blended Learning jedoch nicht gänzlich auf sich alleine gestellt. Über Foren findet bereits in der Lernphase ein Austausch mit den Dozierenden und den anderen Studierenden statt.

André Fringer: E-Learning-Sequenzen zählen nicht zum Selbststudium, sondern zum begleiteten Selbststudium. Das heisst, der Dozent ist zu gewissen Zeitfenstern verfügbar und ansprechbar. Durch vermehrtes E-Learning wird das Masterstudium vor allem für junge Leute attraktiv, die berufsbegleitend studieren wollen.

Stichwort «Konsekutiver MSc»: Soll eine BSc-Absolventin sogleich in einen der neuen MSc einsteigen oder profitiert sie mehr, wenn sie zuerst ein paar Jahre in der Praxis arbeitet?

Karin Brendel: In den laufenden Studiengängen haben wir beides: solche, die direkt nach dem BSc gekommen sind, und solche, die zuerst gearbeitet haben. Da das Studium berufsbegleitend ist, kann ich auch beides empfehlen. Viel wichtiger ist, dass es im individuellen Fall stimmt. Will jemand den Master dreisemestrig in Vollzeit studieren, empfehle ich vorgängig eine Phase mit Berufstätigkeit.

Karin Niedermann: In der Physiotherapie bieten wir nur das Teilzeitstudium an. Und darum muss ich mich für junge Bachelorabsolventinnen wehren, die konsekutiv studieren. Manchmal heisst es, sie hätten drei Jahre mehr studiert und darum immer noch keine Berufserfahrung. Tatsächlich haben sie während dieser Zeit 50 bis 60 Prozent gearbeitet, das entspricht fast zwei Jahren Vollzeit. Aber ich verstehe auch, dass Bachelorabsolventinnen nach 18 Jahren Schulzeit endlich einmal berufstätig sein sollen. Ich empfehle einfach, nicht zu lange zu warten.

Karin Brendel: Insgesamt ist die heterogene Zusammensetzung der Studierenden mit oder ohne Berufserfahrung sehr wertvoll. Die unterschiedlichen Bildungsrucksäcke bereichern den Austausch und das Lernen voneinander.

Zum Schluss noch ein Blick voraus: Im Haus Adeline-Favre, dem neuen Standort des Departements Gesundheit, wird es das ambulante Therapie-, Beratungs- und Trainingszentrum Thetriz geben. Wie müssen sich Interessierte das gemeinsame Studieren im Thetriz vorstellen?

Karin Brendel: Im Thetriz möchten wir die Schwangerenvorsorge anbieten – unter dem Namen Centrum and Pregnancy. Hier möchten wir BSc- und MSc-Studierende in konkrete Geburtsvorbereitung und -vorsorge einbinden. Dies soll in Form von Kursen geschehen, in denen die Studierenden Lektionen übernehmen.

Karin Niedermann: Ich bin eine Verfechterin von Echtpatienten. Mit einem laufenden Ambulatoriumsbetrieb wie Thetriz haben wir eine grosse Chance, Beratung und Behandlung von Echtpatienten in den Unterricht zu integrieren. Im Peer-Learning lernen BSc- und MSc-Studierende zusammen am Patienten. Damit trainieren Dozierende und Studierende auch ihre Feedbackkultur.//

«Vitamin G», Seite 34-35


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