«Prävention sollte nicht zur Pflicht werden»

Wie viel Selbstoptimierung ist noch gesund? Und wie weit soll Prävention gehen? Ein Gespräch mit Medizinethikerin Susanne Brauer über die Risiken und Chancen der aktuellen Gesundheitsentwicklung.

VON LUCIE MACHAC

Frau Brauer, heutzutage kann man nie genug für seine Gesundheit tun. Was halten Sie von diesem Trend?
Susanne Brauer: Körperliches wie seelisches Wohlergehen gehören heute genauso wie Glück fast selbstverständlich zu einem erfüllten Leben. Aber man kann diese Erwartungen natürlich immer weiter steigern – und da sind wir schnell in der Optimierungslogik gefangen. Könnte ich mich nicht noch wohler fühlen, wenn ich mich gesünder ernähre, täglich jogge und mehr Gedächtnistraining mache? Dieser ständige Anspruch an sich selbst kann natürlich belastend sein. Gleichzeitig setzt auch die Gesellschaft immer höhere Massstäbe an unsere Funktionalität, sei dies im Arbeits- oder Familienleben, sei dies in der Freizeit.

Wie meinen Sie das?
Wenn ich zum Beispiel mit 50 aussehen soll wie mit 30 und auch dieselbe Leistungsfähigkeit an den Tag legen soll, dann sind das Forderungen, die bei vielen Menschen Stress verursachen. Im Grunde meinen diese Appelle nichts anderes als: Willst du im Leben und auf dem Arbeitsmarkt bestehen, musst du ständig an dir arbeiten und dich optimieren. Entspannung? Fehlanzeige.

Gesund sein bedeutet also primär leistungsfähig zu sein?
Gesellschaftlich betrachtet gibt es so gut wie keinen Bereich mehr, vor dem der Leistungsgedanke Halt macht. Bei der Gesundheit war es am Anfang die körperliche Fitness, später kam die Ernährung dazu und in den letzten Jahren hat man auch den Geist als Optimierungsplattform entdeckt, indem man an die Achtsamkeit und Selbstfürsorge des Individuums appelliert. Dabei hat Spiritualität im Grunde nichts mit einer gesellschaftlichen Leistungserbringung zu tun.

Weshalb nicht?
Bei der Achtsamkeit geht es um den Menschen, der sich zweckfrei und für sich selbst für ein achtsames Leben entscheidet, ohne dass andere daraus einen Vorteil ziehen können. Achtsamkeit ist ausserdem eine sehr intime Angelegenheit. Eigentlich geht es niemanden etwas an, ob ich meditiere. Auch nicht, ob ich jogge und wie gesund ich mich ernähre. Doch heutzutage werden diese Grenzen nicht mehr wahrgenommen. Wir haben Körper, Seele und das Spirituelle dem Privaten entzogen und zum Gegenstand von öffentlichen Diskussionen gemacht. Alle dürfen hinschauen, werten, kritisieren und Ratschläge erteilen.

Apropos Ratschläge: Ist eine gesunde Lebensweise überhaupt noch mit Genuss vereinbar?
Das hoffe ich doch! Ein gutes Erlebnis beim Essen hat einen positiven Gesundheitseffekt. Und Genuss ist eine wichtige Dimension zum Glücklichsein.

Aber bei Schokolade oder ein paar Glas Wein meldet sich sofort das schlechte Gewissen. Und immer mehr Menschen verzichten auf Zucker oder Alkohol.
Aber sind Schokolade oder Wein ungesund? Nein, es geht wie so oft im Leben um das richtige Mass. Genauso ist es nicht unbedingt genussfeindlich, wenn sich jemand vegan ernährt. Genuss ist nicht an bestimmte Produkte gebunden. Gleichzeitig ist das sinnliche Leben aber auch von gesellschaftlichen Dynamiken und Gruppenvorstellungen geprägt. Heute liegen gesunde Produkte im Trend und deshalb kann man Sojakäse und Hafermilch ebenso schmackhaft erleben wie Schokolade oder Wein.

Nehmen wir ein noch extremeres Beispiel als Veganismus: Sogenannte Biohacker richten ihr ganzes Leben strikt darauf aus, die beste Version ihrer selbst zu schaffen. Ist das noch gesund?
Sagen wir so: Extreme oder rigorose Lebensformen, bei denen es in irgendeiner Form um Optimierung geht, sind kein neues Phänomen. Nehmen wir zum Beispiel Mönche. Sie haben ganz bestimmte Tagesrituale, Fastenzeiten und sogar Selbstkasteiung. Neu ist vielleicht, dass man sich aus gesundheitlichen Gründen optimieren will.

Wie beurteilen Sie den Trend, dass sich immer mehr Menschen von Tracking-Apps sagen lassen, wie sie sich fühlen und was ihnen guttut?
Ich finde das nicht a priori negativ. Unsere Orientierung in der Welt hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Mittlerweile ist unser Leben fast gänzlich durch das Smartphone und diverse andere digitale Gadgets geprägt. Wir alle gehen sehr selbstverständlich mit Apps um. Deshalb fühlt es sich auch nicht mehr so fremdgesteuert an, wenn Leute heutzutage auf die Uhr schauen, um zu erfahren, ob es ihnen gut geht.

Zählen Sie auch Ihre Schritte?
Meine Uhr macht das automatisch – und ab und zu schaue ich in die Statistik. Ich habe aber Bekannte, denen es unglaublich hilft, ein Feedback von ihrer Smartwatch zu bekommen, wie ihr Schlaf denn tatsächlich war und wie sie diesen verbessern könnten. Die Messung gibt ihnen eine Sicherheit und dank den Daten können sie ihren Schlafzustand objektiver beurteilen. Dadurch gewinnen sie letztlich die Kontrolle über einen Bereich, dem sie früher vielleicht schlaflos ausgeliefert waren.

Auch Krankenkassen setzen immer mehr auf Gesundheitsförderung und belohnen Kund:innen, die gesund leben. Was sagen Sie zu dieser Entwicklung?
Das finde ich problematisch. Wenn Krankenkassen eine Gesundheitsleistung an einen bestimmten Lebensstil knüpfen, zum Beispiel dass Menschen nicht rauchen oder eben täglich 10 000 Schritte gehen, dann untergräbt das die Solidarität, auf die wir uns mit der Gesundheitsversorgung geeinigt haben. Es gibt ein Recht auf Gesundheitsversorgung für alle Menschen in der Schweiz, egal wie ihre Lebensführung aussieht, egal ob sie Risikosportarten machen oder rauchen. Das ist ein wichtiges Menschenrecht und davon sollten wir nicht abrücken.

Hat der Gesundheitstrend die Wahrnehmung von kranken Menschen verändert?
Was sich heute sicherlich akzentuiert hat, ist die Idee: Du bist selbst schuld, wenn du krank bist. Schliesslich wir haben ja alle die Möglichkeit, gesund zu leben. Ich denke, dass diese überzogene Vorstellung von Verantwortlichkeit auch mit der Individualisierung unserer Gesellschaft zu tun hat.

Inwiefern?
Wir übertragen dem Einzelnen sehr viel Verantwortung, nicht nur für sein eigenes Glück, sondern inzwischen auch für den eigenen Gesundheitszustand. Doch gerade beim Rauchen wird die Gewohnheit in einer Lebensphase ausgebildet, in der der Verantwortungsbegriff nicht unbedingt Sinn macht. Man kann auch einem Heroinsüchtigen nicht vorwerfen, er sei an seiner Krankheit selbst schuld. Deshalb sollten wir unbedingt wieder mehr Toleranz entwickeln für all jene, die sich nicht optimieren oder die nicht so gesund sind, wie es die Gesellschaft erwartet. Ausserdem gibt es auch Menschen, die nicht jede Präventionsmassnahme mitmachen wollen, weil sie sich dadurch in ihrem Wohlbefinden zu sehr eingeschränkt fühlen.

Wie sieht eine sinnvolle Prävention und Gesundheitsförderung aus?
Prävention soll ein Angebot bleiben und keine Pflicht, das finde ich wichtig. Der Staat und die Institutionen sollen Bürger:innen zu einer gesunden Lebensweise animieren und über Gesundheitsrisiken aufklären. Aber es sollte kein Druck entstehen, dass alle präventiv vorsorgen müssen. Jede Person hat ihre persönlichen Gründe, warum sie sich gewissen Dingen entzieht, und das sollte man respektieren. Ein ganz wichtiger Grund kann zum Beispiel sein, dass jemand nicht in ständiger Angst leben möchte, er oder sie könnte nicht ausreichend gesund sein. //


Susanne Brauer
ist Medizinethikerin. Die 49-Jährige studierte Philosophie, Germanistik, Erziehungs- und Sozialwissenschaften in Deutschland und promovierte an der University of Chicago in Philosophie. Sie war und ist in zahlreichen Kommissionen mit Ethik- und Forschungsbezug aktiv, aktuell als Mitglied der Zentralen Ethikkommission der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften. Zuvor entwickelte sie unter anderem für die Paulus Akademie einen neuen Fachbereich für Bioethik, Medizin und Life Sciences, den sie von 2011 bis 2019 leitete. Sie ist Mitgründerin von «Brauer&Strub», einem Büro für Auftragsforschung, Beratung und Moderation, und leitet den Bereich Soziales und Bildung bei der Katholischen Kirche im Kanton Zürich. Zudem hat Brauer an verschiedenen Fachhochschulen und Universitäten Lehraufträge in der angewandten Ethik (Medizin, Pflege, Life Sciences, Forschung).

Vitamin G, S. 10-12

Magazin «Vitamin G – für Health Professionals mit Weitblick»


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