Motiviert bleiben auf dem langen Reha-Weg

Nach einem Schlaganfall oder bei Erkrankungen wie Multipler Sklerose brauchen Betroffene regelmässig Rehabilitation, darunter auch Physiotherapie. Im ambulanten Reha-Zentrum Revigo in Volketswil (ZH) wird spielerisch auf die Therapieziele hingearbeitet – mit sogenannten Exergames in Robotikgeräten.

VON SUSANNE WENGER

Ein kleiner Raumfahrer spaziert durch eine Planetenlandschaft und entfacht möglichst viele Lichter. Autos sausen durch Strassenschluchten, man muss ihnen ausweichen. Und in einem Garten fällt Obst in bereitgestellte Körbe – wenn es denn klappt. Ist eine bestimmte Punktzahl erreicht, piepst und blinkt es vom Bildschirm, digitale Pokale werden verteilt. Los, auf zum nächsten Schwierigkeitslevel! Solche Aufgaben in virtuellen Welten dienen
üblicherweise Gamerinnen und Gamern zur Unterhaltung. Doch hier, im hellen Raum des Reha-Zentrums Revigo in Volketswil, gehören ausgewählte Videospiele zur Therapie. Sie heissen Exergames, in Anlehnung an das englische Wort «exercise» für «trainieren».

Die Exergames sind auf die Robotikgeräte programmiert, die bei Revigo für die neurologische Rehabilitation eingesetzt werden, also etwa nach Hirnschlägen, bei Multipler Sklerose, Paraplegie nach Unfällen oder bei kindlicher Cerebralparese. In dem unscheinbaren Gebäude im Volketswiler Industriequartier kommen menschliche Schicksale, technologische Innovation und fachkundige Therapie zusammen. Patient Roger Grivel steht an diesem Dienstagmorgen in einem der fünf Reha-Roboter. «Vor sieben Jahren veränderte sich mein Leben von einem Moment auf den anderen komplett», erzählt der 49-Jährige mit sonorer Stimme. In einer Nacht im Mai 2014 erlitt er einen schweren Schlaganfall und lag eine Zeitlang im Koma. Die linke Körperseite war gelähmt, Grivel war auf den Rollstuhl angewiesen.

Üben, üben, üben

Dank intensiver Reha und unbändigem Willen erzielte der frühere Bankkundenberater Fortschritte. Heute kann er wieder gehen, langsam, in kleinen Schritten, einen stützenden Arm nimmt er gerne an. Er lebt selbständig. «Das ist mir enorm wichtig», sagt er. Um die zurückerlangten Fähigkeiten zu behalten und weiter zu verbessern, gibt es für den Zürcher nur eins: üben, üben, üben. Zusätzlich zur konventionellen Physiotherapie kommt er seit einigen Monaten dreimal wöchentlich in die Reha-Robotik, um den linken Arm und das linke Bein zu trainieren. Heute gehts los mit der «C-Mill», einem Roboter für Gangtherapien. Gut gesichert mit einem Körpergurt, steht Roger Grivel auf einem Laufband, vor sich einen hochformatigen Screen.

Sporttherapeutin Deborah Knechtle ruft an einem Laptop das Programm auf, das eigens für diesen Patienten gemäss den Therapiezielen erstellt wurde. «Die Zusammenstellung der Exergames ist ein therapeutischer Akt», sagt Knechtle. Auch die Tagesform könne berücksichtigt werden. Mehr als zehn Spiele leiten Grivel in den nächsten 50 Minuten durch unterschiedliche Übungen. Er trainiert dadurch motorische wie auch kognitive Fähigkeiten, vom Gleichgewicht über die Gangsicherheit und -symmetrie bis zur Koordination und Reaktion.

Bewegung steuert Spiel

Der Roboter setzt sich in Betrieb. Auf dem Monitor erscheint eine virtuelle Büroumgebung mit herunterfallenden weissen Kugeln aus zusammengeknülltem Papier. Durch Gewichtsverlagerung von einem Bein aufs andere bewegt Roger Grivel Papierkörbe, um die Knäuel aufzufangen. Genau so funktionieren Exergames: die Bewegungen des Spielers werden durch technische Elemente erfasst und auf das Spielgeschehen übertragen. Zugleich führt die Kraftmessplatte unter seinen Füssen Ganganalysen durch und schickt die Daten auf den Bildschirm. Patient und Therapeutin können den Verlauf der Therapie verfolgen und beispielsweise sehen, ob beide Beine etwa gleich belastet werden.

Grivel steuert und trifft prima, die ersten tausend Punkte sind bald erreicht. Eine kleine Fanfare ertönt, doch der Patient will mehr. «1000 sind Standard, vorher gehe ich nicht heim», scherzt er. Beim nächsten Spiel muss er eine ganze Reihe grüner Punkte einheimsen und dafür im richtigen Takt gehen. Die Anstrengung ist ihm anzusehen und anzuhören, sein Lieblingsspiel ist das nicht. Trotzdem wird es später nochmals aufploppen. «Den Gangrhythmus zu trainieren, ist wichtig für dich», sagt die Therapeutin zu ihm. Im Revigo sind alle per du, die Stimmung wirkt locker.

«Das ist neuer Rekord»

Roger Grivel übt jetzt den Einbeinstand. Gelingt er ihm, regnet es auf dem Bildschirm Birnen, Zitronen, Erdbeeren. Später folgt sein Favorit: das Fussball-Game. Durch Körperbewegungen fängt er virtuelle Bälle mit einem mobilen Balken auf, zuerst nur einen, dann zwei, dann drei, wo sie runterkommen, weiss er nicht, mal links, mal rechts, immer mehr, immer schneller – ganz schön anspruchsvoll. So werde auf spielerische Art Alltag simuliert, erklärt Therapeutin Deborah Knechtle. Denn auch im realen Leben müsse man sich auf die Umgebung konzentrieren und ständig auf Impulse reagieren. «74 am Stück getroffen: Das ist neuer Rekord», bilanziert Grivel zufrieden. Der einstige Sportler ist ehrgeizig. Man komme nur weiter, wenn man gefordert werde, sagt er bestimmt. Diese Einstellung habe ihn davor bewahrt, nach dem folgenreichen Schlaganfall zu resignieren: «Ich habe mir
von Anfang an gesagt: Mein Kopf ist stärker als mein Körper.» Die Exergames behagen dem Patienten. Er spielte immer gern auf der Playstation, und auch die Mitgliedschaft in einem Theaterverein bezeugt seinen Bezug zu verschiedenen Ausprägungen von Spiel. «Das Gute an den Exergames ist die Ablenkung», sagt er. Er versteife sich weniger auf sein eingeschränktes Bein, die therapeutische Übung erfolge so fast nebenbei.

ZHAW-Forscherin: gegen die Monotonie

Der grösste Vorteil der Exergames sei der motivationsfördernde Effekt, sagt Eveline Graf. Die Physiotherapie-Wissenschaftlerin am ZHAW-Departement Gesundheit erforscht die Anwendung neuer Technologien in der Physiotherapie. Neurologische Reha dauere Monate bis Jahre, «manchmal ein Leben lang». Die Therapie nutze die Fähigkeit des Gehirns, ausgefallene Funktionen durch andauerndes Training in anderen Hirnregionen erneut auszubilden. Dazu müssten die Übungen wieder und wieder ausgeführt werden, sagt Graf. Da wirkten Exergames der Monotonie entgegen: «Sie machen Spass, spornen durch das Wettkampfelement an und geben unmittelbares Leistungsfeedback.» Das könne Patientinnen und Patienten dazu bringen, längerfristig dranzubleiben.

Exergames gelten als Unterkategorie der «Serious Games». Die Bezeichnung drückt aus, dass diese Spiele einen ernsthaften Zweck haben. Die auf den Reha-Robotern installierte Spielsoftware wurde von Gesundheitsfachpersonen mitentwickelt. So ist laut Eveline Graf sichergestellt, dass das Spiel die therapeutisch erwünschten Bewegungsmuster belohnt. Die Wissenschaftlerin sieht Robotik und Exergames als Mittel zum Zweck. Die wichtigste Rolle spiele nach wie vor die physiotherapeutische Fachperson. Nur sie könne beispielsweise einschätzen, ob der Patient genau an der Leistungsgrenze trainiere, also weder über- noch unterfordert sei. Graf führt derzeit im Revigo eine Studie zu Kosten und Nutzen solcher Therapien im ambulanten Setting durch, wo sie noch wenig verbreitet sind.

Ludothek im Lokomat

Die Mehrheit der Patientinnen und Patienten spricht laut Dino De Bon, Leiter des Revigo Reha-Zentrums, gut auf die Exergames an, Kinder wie Erwachsene. Wer sie nicht wolle, könne die Geräte auch ohne Spiele nutzen. Und kognitiv eingeschränkte Menschen bräuchten einfachere Spiele. «Die Therapieform steht am Anfang», sagt De Bon. «Sie wird permanent weiterentwickelt.» Revigo ist als Pionier in die Weiterentwicklung involviert. Robotikhersteller Hocoma firmiert gleich nebenan, den therapeutischen Betrieb stellt die Thurgauer Reha-Klinik Zihlschlacht.

«Roger, bist du parat?», ruft Physiotherapeutin Anne Gehrig. «Immer», lautet die Antwort. Der Patient beendet die Kaffeepause und wechselt auf den Lokomat, einen Roboter, der ihm durch eine Gang-Orthese zügiges Gehen ermöglicht. Unter stampfenden Geräuschen bewegt er sich durch neue digitale Welten. 23 Spiele umfasst die Lokomat-Ludothek, je nach Therapiefokus, von Ausdauer bis Aufmerksamkeit. Die Physiotherapeutin überwacht das Training. Berührungsängste zur Robotik und zu Exergames kennt sie nicht. «Ich sehe den Nutzen.» Zudem entlaste die Maschine sie von körperlicher Schwerarbeit. 2000 Schritte geht Roger Grivel, dann ist für diesen Tag Schluss. An den allerersten Schritt mit dem linken Bein erinnert er sich ganz genau, er gelang drei Monate nach der Hirnblutung: «Ein grandioser, emotionaler Moment.» Und der Erfolg konstanter Reha. /

Vitamin G, S. 14-17


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