HIGHTECH-HOSEN FÜR EINEN SICHEREN GANG

Menschen mit eingeschränkter Mobilität sind häufig auf eine Gehhilfe angewiesen. Forschende der ZHAW haben die letzten drei Jahre lang an einer Leggins gearbeitet, die dereinst Gehstock und Rollator ablösen könnte.

VON TOBIAS HÄNNI

Seit zwölf Jahren geht Max Wiederkehr wie auf Stelzen. Bei einer komplizierten und riskanten Tumoroperation wurde sein Rückenmark irreparabel beschädigt, seither hat der 72-Jährige eine inkomplette Paraplegie. «Am Anfang konnte ich meine Beine überhaupt nicht mehr bewegen», erzählt der Dietiker. Heute kann er wieder Gehen – dank drei Monaten intensivster Therapie. «Mein Gang ist jedoch instabil, mein rechtes Bein schlenkert nach aussen», sagt Wiederkehr. Ausserdem fehlt ihm das Gefühl in den Beinen, weshalb er das Gehen mit Stelzenlaufen vergleicht. Mit seiner inkompletten Querschnittlähmung gehört Max Wiederkehr zu jenen Menschen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind. Und diese Gruppe wächst: Mit der Alterung der Gesellschaft nimmt auch die Zahl der Personen mit Gehbeschwerden zu. Alleine in Europa sind derzeit 40 Millionen Menschen altersbedingt, wegen eines Unfalls oder angeborener Behinderungen auf eine Gehhilfe angewiesen. Bloss: Diese Hilfen, Rollatoren zum Beispiel, sind sperrig und wenig flexibel. An einer besseren Lösung haben die vergangenen drei Jahre Physiotherapeuten und Bewegungswissenschaftlerinnen des Departements Gesundheit sowie Ingenieure der School of Engineering der ZHAW getüftelt – gemeinsam mit Partnern aus Deutschland, Island, Italien, Irland, Spanien, den Niederlanden und der Schweiz. Im Rahmen des EU-Forschungsprogramms Horizon 2020 hat das interdisziplinäre und internationale Forscherteam mit dem Projekt XoSoft den Prototyp einer intelligenten Leggins entwickelt, die Menschen mit eingeschränkter Mobilität im Alltag unterstützen soll.

Probanden für die Entwicklung zentral

Während des Projekts war die Zusammenarbeit mit Betroffenen elementar. Auch Max Wiederkehr hat als Versuchsperson massgeblich zur Entwicklung des weichen Exoskeletts beigetragen, wie Eveline Graf, Co-Projektleiterin am Institut für Physiotherapie des Departements Gesundheit, sagt. Im departementseigenen Bewegungslabor wurden die Versionen des Prototyps und die Software regelmässig mit Wiederkehr und weiteren Probanden ge testet, wobei das Gangbild mit und ohne Leggins analysiert wurde. «Die Inputs und Bedürfnisse der Testpersonen sind laufend in die weitere Entwicklung der Leggins eingeflossen», sagt Graf. Ebenso die Rückmeldungen aus Kliniken in Deutschland und den Niederlanden, wo der Prototyp mit Patienten getestet wurde. «Dieser benutzerzentrierte Ansatz fehlt bei solchen technischen Projekten häufig», ergänzt Markus Wirz, Co-Projektleiter und Leiter der Forschungsstelle Physiotherapiewissenschaft. Das habe zur Folge, dass Produkte oft an den Nutzern und deren Bedürfnissen vorbei entwickelt werden. Bei XoSoft wurde die Nutzersicht von Anfang an miteinbezogen – auch dank der engen Zusammenarbeit zwischen dem Departement Gesundheit und der School of Engineering, an der ein Teil der Technik entwickelt und in die Leggins integriert wurde.

«Diese Zusammenarbeit war sehr wichtig. Weil wir auf keine Erfahrungen mit weichen Exoskeletten zurückgreifen konnten, mussten wir mit den Probanden vieles einfach ausprobieren», sagt Konrad Stadler vom Institut für Mechatronische Systeme an der School of Engineering. Es habe zahlreiche Zyklen mit Tests und Anpassungen gegeben. Dabei musste das 40-köpfige Forscherteam auch viele Fragen zur Alltagstauglichkeit und Benutzerfreundlichkeit der Leggins klären: Wie müssen sie geschneidert sein, damit sie bei älteren Menschen mit verminderter Muskulatur nicht runterrutschen? Wie können sie eng ansitzen und von Menschen mit wenig Kraft in den Händen trotzdem leicht angezogen werden? Und wie lassen sie sich trotz der eingebauten Elektronik waschen?

Gummibänder unterstützen Gelenke

Aus der dreijährigen Entwicklung ist ein Prototyp hervorgegangen, der zwar noch nicht alltagstauglich ist, mit dem im Labor der Gang der Testpersonen aber unterstützt und stabilisiert werden konnte. In den Stoff der Hose und in Schuhsohlen eingenähte Sensoren erfassen dabei die Bewegungen der einzelnen Gliedmassen. Die integrierte Software – ein lernfähiger Algorithmus – wertet die Daten der Sensoren aus und löst je nach Bewegung im richtigen Moment sogenannte Aktuatoren aus: über die Gelenke laufende Gummibänder, die sich im Zusammenspiel mit Kupplungen an- oder entspannen und dabei die Gelenke stützen, entlasten oder stabilisieren. «In den Gummibändern wird mittels der Kupplungen die Energie gespeichert, die durch die Bewegung selbst entsteht», erklärt Konrad Stadler die Funktionsweise. Dadurch brauche die Leggins weniger Energie als bestehende steife Exoskelette. Ganz ohne äussere Energiezufuhr kommt jedoch auch die Leggins nicht aus: Der Prototyp ist mit einem Schlauch an einen externen Kompressor angeschlossen, der mit Druckluft das für die Kupplung notwendige Vakuum erzeugt. «Unsere Priorität lag darauf, zu zeigen, dass ein weiches Exoskelett mit Bändern und Kupplungen funktionieren kann», sagt Stadler. Mit der Optimierung der Kupplungen liesse sich in einem nächsten Schritt die benötigte externe Energie aber wohl deutlich verringern – so dass dafür beispielsweise eine tragbare Druckluftpatrone ausreichen würde. «Wir sehen zahlreiche Möglichkeiten, die Leggins weiter zu verbessern und die Komponenten zu verkleinern.»

Derzeit kein passender Call

Ob und wann die Hightech-Leggins weiterentwickelt und eventuell zur Marktreife gebracht wird, steht derzeit in den Sternen. Im März wurde das Projekt XoSoft mit einem letzten Konsortiumsmeeting abgeschlossen. «Momentan gibt es im Rahmen von Horizon2020 keine passenden Calls, mit denen sich das Projekt in gleicher Weise fortführen liesse», sagt Eveline Graf. Unabhängig davon wird das daraus gewonnene Wissen vom Departement Gesundheit und der School of Engineering weiterverwendet – im Rahmen gemeinsamer studentischer Arbeiten werden alternative Lösungen entwickelt und erprobt. Max Wiederkehr hofft darauf, dass an der Leggins möglichst bald weitergearbeitet wird. «Mein Gang hat sich mit dem Prototyp verbessert – auch wenn der Effekt noch klein ist», sagt er. Die Technologie stecke noch in den Kinderschuhen, «doch der erste Computer war ja auch so gross wie ein Einfamilienhaus». //

«Vitamin G», Seite 32-33


XOSOFT

Modulares Soft-Exoskelett zur Unterstützung von Menschen mit eingeschränkter Mobilität

Leitung (ZHAW-Institut für Physiotherapie)

Team (ZHAW-Institut für Physiotherapie)

Partner

  • ZHAW Institut für Mechatronische Systeme
  • Istituto Italiano di Tecnologia (IT)
  • University of Limerick (IRL)
  • Saxion University of Applied Sciences (NL)
  • Consejo Superior de Investigaciones Cientificas (ES)
  • Össur hf (IS)
  • accelopment AG (CH)
  • Roessingh R&D (NL)
  • Waldkrankenhaus St.Marien (D)

Finanzierung

  • EU-Forschungsprogramm Horizon 2020, ICT-Robotics (5,4 Millionen Franken)

WEITERE INFORMATIONEN

Magazin «Vitamin G – für Health Professionals mit Weitblick»


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