HEBAMME MIT DOKTORTITEL UND BODENHAFTUNG

Elisabeth Kurth ist die erste Hebamme, die an einer Schweizer Universität promovierte. Heute forscht und lehrt sie, leitet in Basel ein Hebammen-Netzwerk und betreut immer noch selber Familien mit Neugeborenen. «Das ergibt befruchtende Wechselwirkungen», sagt sie.

VON SUSANNE WENGER

Den 3. März 2010 wird Elisabeth Kurth nicht mehr vergessen. Es war der Tag, an dem sie ihre Dissertation an der Universität Basel öffentlich verteidigte. «Kurzfristig musste ein grösserer Raum organisiert werden», erinnert sie sich. Neben dem international zusammengesetzten professoralen Komitee waren auch zahlreiche Hebammen erschienen, um sich die Forschungsergebnisse zum Thema «Schreiende Babys, müde Mütter – Hürden beim Start als Familie» anzuhören. Denn dass so etwas von einer Berufskollegin untersucht wurde, die den akademischen Weg eingeschlagen hatte, war ein Novum für das Schweizer Hebammenwesen.

«Es war ein Meilenstein für den ganzen Berufsstand», blickt Elisabeth Kurth mit feinem Lächeln zurück. Zu Beginn des Vortrags spielte sie das Schreien eines Neugeborenen ab. «Alle waren heilfroh, als ich wieder abstellte.» Danach legte sie dar, was sie in ihrer Doktorarbeit bei 7700 Mutter-Kind-Paaren in der Schweiz herausgefunden hatte. Dass Säuglingsschreien und mütterliche Erschöpfung in den ersten drei Monaten nach der Geburt zusammenhängen. Dass Babys mehr schreien als üblich, wenn die Familie zusätzlichem Stress ausgesetzt ist, etwa weil die Mutter eine Depression hat oder das familiäre Netz fehlt. Und dass das Schreien abnimmt, wenn die Eltern beim zweiten Kind schon erfahrener sind.

«Die Daten zeigten eine Versorgungslücke auf», resümiert die Forscherin: «Frauen werden nicht genügend beraten, wenn sie mit dem Baby nach Hause zurückkehren.» Die Erschöpfung der Mütter sei nicht naturgegeben. Diese bräuchten mehr Unterstützung und Wissensvermittlung, gerade auch im Umgang mit den weinenden Babys. Die Verteidigung der Dissertation gelang. Elisabeth Kurth erhielt den Doktortitel in Pflegewissenschaften. Sie war damit die erste Hebamme, die an einer Schweizer Universität promovierte. Und dank Fachfrauen wie ihr begann sich nun allmählich auch hierzulande zu etablieren, was der angelsächsische Raum schon länger kannte: Hebammenforschung.

Eine Radiosendung mit Folgen

Neun Jahre später sitzt die 50-jährige Dr. phil. am Esstisch ihrer Kleinbasler Altbauwohnung und erzählt, wie alles kam. Aufgewachsen bei Bern, Gymnasium, Matur. Austauschaufenthalt in Dänemark, wo sie bei einem Schnuppereinsatz im Spital erstmals einer Geburt beiwohnte: «Ich war unglaublich fasziniert.» Ausbildung im Berner Frauenspital als Hebamme, dann dreizehn Jahre Anstellung in einem Emmentaler Spital. 500 Babys half Elisabeth Kurth dort auf die Welt, dann hatte sie Lust, sich weiterzuentwickeln. «Eines Tages hörte ich eine Radiosendung über das neue Institut für Pflegewissenschaft an der Uni Basel.» Dabei sei eine Studie erwähnt worden, die nachwies, dass die Trennung von Wöchnerin und Säugling im Spital schädliche Folgen hat. «Dass die Pflegeforschung so konkrete Ergebnisse hervorbrachte, fand ich interessant», sagt Elisabeth Kurth. Sie hatte sich das alles viel theoretischer vorgestellt. Prompt meldete sie sich zum Studium in Basel an, erwarb berufsbegleitend Bachelor und Master in Pflegewissenschaft. Den Hebammen-Master gab es damals noch nicht. Dann bot ihr die Uni eine Assistenz- und Doktoratsstelle an.

Ungewöhnliches Portfolio? «Nein»

Heute pendelt Elisabeth Kurth zwischen Forschung, Lehre und Praxis. Sie nimmt einen Lehrauftrag am Institut für Hebammen der ZHAW in Winterthur wahr. Sie forscht zu Hebammen-Themen am Schweizerischen Tropen- und Public-Health-Institut in Basel. Sie ist Geschäftsführerin von «Familystart» beider Basel, einem Netzwerk frei praktizierender Hebammen. Und sie lässt es sich nicht nehmen, als Hebamme selber noch Wöchnerinnen und Neugeborene zu begleiten, meist in mehrfach belasteten Familien. Ein ungewöhnliches Portfolio? Eigentlich nicht, findet sie: «Ich mache alles wahnsinnig gern.» Und zum Vergleich: In der Medizin sei eine solche Kombination der Tätigkeitsgebiete üblich. Der Arzt mit Leitungsfunktion, der an der Hochschule lehrt und forscht und Patienten betreut. «Bei uns Hebammen und Pflegenden mit höherer Ausbildung ist das noch neu», sagt sie. Sie habe sich das selber so zusammengestellt. Der Transfer sei in alle Richtungen «sehr befruchtend». Aus der Praxis ergäben sich Fragestellungen für die Forschung. Umgekehrt könnten Forschungsresultate in Ausbildung und Praxis einfliessen.

Pionierarbeit aufgebaut

Ganz konkret beim Angebot «Familystart», das Elisabeth Kurth 2012 aufbauen half. Es sorgt in den Kantonen Basel-Stadt und Basel-Landschaft dafür, dass alle Familien mit Neugeborenen professionelle Betreuung durch Hebammen erhalten. «Auch Familien in weniger privilegierten Verhältnissen», wie die Initiantin erklärt. Vierzig Prozent der Familien organisieren sich die Hebamme nicht selber, weil sie nicht gut Deutsch können «oder sonst zu wenig Ressourcen und Energie haben», sagt Elisabeth Kurth. In diesen Fällen kommt das Netzwerk zum Tragen. Es umfasst sechzig Hebammen und finanziert sich durch Verträge mit den Geburtskliniken. Die Hebammen-Hausbesuche werden durch die Grundversicherung abgegolten. Das pionierhafte Projekt wirkt der Versorgungslücke bei der nachgeburtlichen Betreuung entgegen. «97 Prozent der Familien in der Region Basel erhalten heute ab Tag eins nach Spitalaustritt Hausbesuche von einer Hebamme», sagt Geschäftsführerin Kurth. Das sei umso wichtiger, als die Einführung der Fallkostenpauschalen in den Schweizer Spitälern das Wochenbett verkürzt habe. Früher blieben Mutter und Kind bei einer Normalgeburt fünf Tage stationär, heute sind es noch zwei bis drei. «Ohne eine Nachbetreuung kann der frühe Austritt zu Komplikationen führen», weiss die Forscherin. Es sei eine fragile, intensive Phase, in der fast jede Familie Unterstützung brauche. Dabei können erst noch Gesundheitskosten gesenkt werden, wie eine Evaluation ergab. Obwohl mit «Familystart» mehr Frauen durch eine Hebamme begleitet wurden, stiegen die Kosten bei den Müttern nicht an. Bei den Babys gingen sie sogar zurück. «Vorher suchten die Eltern schneller den Spitalnotfall auf, wenn mit dem Säugling etwas war», erklärt Elisabeth Kurth den Effekt. «Heute rufen sie zuerst die Hebamme an.» Diese leistet nicht nur die nötige medizinische Grundversorgung. Sie vermittelt bei Bedarf auch Hilfe und Entlastung im Alltag, besonders, wenn sie Familien in schwierigen Situationen antrifft (siehe Zweittext).

«Forschung öffnet uns neue Türen»

An der ZHAW unterrichtet Elisabeth Kurth im Master-Studiengang für Hebammen. Studierte Hebammen – ob es das jetzt wirklich auch noch brauche? Diese Frage hört Elisabeth Kurth hin und wieder. Sie antwortet nicht pikiert, sondern auf ihre wohltuend sachliche Art: «Wenn wir Hebammen qualitativ hochwertige Betreuung bieten wollen, müssen wir unsere Praxis auch selber erforschen.» Hebammen mit wissenschaftlichem Background könnten die Profession voranbringen. Die Medizin mache riesige Fortschritte, alles werde komplexer. Ohne eigene wissensbasierte Expertise für ihren Bereich würden die Hebammen auf Assistenzfunktionen reduziert. Überdies stärkten sie ihre Position im Gesundheitswesen, wenn sie in der Lage seien, Wirksamkeit und Kosteneffizienz ihrer Arbeit zu belegen. «Die Forschung öffnet uns neue Türen», sagt Elisabeth Kurth. Und mitunter bestätige sie alte Weisheiten. Wie die, dass eine Frau nach der Geburt Ruhe braucht. Früher hatten die Familien eine Abwarterin: «Das war eine Frau, die während des Wochenbettes den Haushalt führte und sich um Mutter und Kind kümmerte.» Und heute? «Ein längerer Mutterschaftsurlaub und die Einführung eines Vaterschaftsurlaubs würden schon viel bringen», sagt die Wissenschaftlerin. In der Freizeit kocht sie gerne für Freunde, spielt Viola da gamba – ein Streichinstrument – und geht zum «Bal Folk». Das seien Tanzanlässe zu Live-Musik, erklärt sie. So tankt Elisabeth Kurth neue Energie, um sich wieder mit vollem Engagement dafür einzusetzen, dass Babys und ihre Familien gut starten können: «Das lohnt sich, auch für die Gesellschaft.» //

«Vitamin G», Seite 25-27


ADVANCED PRACTICE IN DER GEBURTSHILFE

Was die Advanced Practice Midwifery (APM) betrifft, steht die Diskussion in der Schweiz erst ganz am Anfang. Von einem anerkannten Berufsbild für APM ist man hierzulande noch weit entfernt. In der spezialisierten Praxis, in leitenden Positionen und in der Lehre finden Hebammen mit erweiterten Kompetenzen dennoch bereits Einsatzfelder. Dazu gehört auch eine eigenständigere Rolle im Gebärsaal: die hebammengeleitete Geburt, wie sie inzwischen auch an einzelnen Schweizer Spitälern angeboten wird. Dabei betreuen Hebammen die ganze Geburt selbstverantwortlich. Elisabeth Kurth verweist auf internationale Forschung, die die Vorteile dieses Versorgungsmodells belegt: zufriedenere Mütter, weniger Interventionen wie Dammschnitte und Periduralanästhesien, tiefere Kosten.


WENN HEBAMMEN SOZIALE NOTLAGEN VORFINDEN

Immer wieder treffen Hebammen Familien in schwierigen Situationen an. Überforderung bei der Versorgung des Babys, finanzielle Notlagen, verschimmelte Wohnungen, häusliche Gewalt: alles schon dagewesen. «In so einem Umfeld kann sich ein Neugeborenes nicht gut entwickeln», stellt Forscherin und Hebamme Elisabeth Kurth fest. Jetzt untersucht sie, wie frei praktizierende Hebammen bei der Betreuung von Familien in Risikokonstellationen unterstützt werden können. Fachlich, aber auch finanziell, denn: «Hebammen erbringen in solchen Fällen oft Koordinationsleistungen, die ihnen nicht abgegolten werden.» Am Forschungsprojekt «Sorgsam – Support am Lebensstart» ist auch die ZHAW beteiligt. Dominique Strebel, Hebamme im Masterstudium, verfasst ihre Masterarbeit im Rahmen des Projekts. «Ich befrage mit einem Leitfaden-Interview Hebammen», erklärt sie. Sie will deren Erfahrungen erheben und dabei auch ein in Basel bereits bestehendes Coaching-Projekt für Hebammen evaluieren: «So kann ich als Masterstudentin etwas dazu beitragen, unseren Beruf weiterzuentwickeln und die Betreuung von Familien zu optimieren.»


WEITERE INFORMATIONEN

Magazin «Vitamin G – für Health Professionals mit Weitblick»


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