Dozierende sollten für ihr Fach brennen

Im Studium von Gesundheitsberufen kommt man sich nahe: Man übt aneinander und
erteilt sich persönliches Feedback. Der Umgang mit Gefühlen geniesse im Unterricht deshalb einen hohen Stellenwert, sagt Professorin Cécile Ledergerber.

Von Andrea Söldi

Frau Ledergerber, was ist guter Unterricht?
Cécile Ledergerber:
Den einen guten Unterricht gibt es nicht, ebenso wenig wie ein allgemeingültiges Musterrezept. Vielmehr muss die Lehre der Stufe, dem Inhalt und den Teilnehmenden angepasst werden. Generell kann man sagen: Je besser die Lernenden kognitiv und emotional abgeholt werden, desto motivierter sind sie und desto mehr bleibt langfristig hängen.

Welche Fähigkeiten sind in Gesundheitsberufen wichtig?
Wer Pflege, Physio- oder Ergotherapie, Hebamme oder Gesundheitsförderung und Prävention studiert, kommt im Berufsalltag Menschen sehr nahe. Es braucht deshalb neben hoher fachlicher Expertise unbedingt auch praktische Kompetenzen – mehr als in theorielastigeren Studiengängen. Wichtig sind zudem Persönlichkeitsentwicklung, Selbständigkeit und die Fähigkeit, interdisziplinär zu arbeiten. Studierende von Gesundheitsberufen haben unterschiedlichste Hintergründe: Einige haben eine gymnasiale Maturität, andere schon viel Erfahrung im Gesundheitswesen, wieder andere sind Quereinsteigende und bringen anderes Vorwissen mit. Der Unterricht sollte sich an diesen verschiedenen Bedürfnissen orientieren.

Wie werden Sie den verschiedenen Ansprüchen gerecht?
Bei diesem Punkt stecken wir in einem Dilemma. Wir möchten viel selbstgesteuertes und interessengeleitetes Lernen ermöglichen, weil das die Motivation nachweislich fördert. Doch die Reglementierung unserer Berufe zwängt uns in ein Korsett. Der Bund gibt vor, welche Kompetenzen zur Berufsbefähigung nötig sind. Deshalb können die Studierenden ihre Inhalte nicht frei wählen. Wir gewähren ihnen aber so viel Spielraum wie möglich. In den interprofessionellen Modulen haben sie mehr Wahlfreiheiten als in den berufsspezifischen. Und auch bei den Bachelorarbeiten steht ihnen ein breites Themenspektrum offen.

Bei Kindern ist die Beziehung zur Lehrperson bekanntlich die wichtigste Grundvoraussetzung für die Motivation und den Lernerfolg. Gilt das auch auf Hochschulebene?
Ja, bestimmt. Gerade in den Gesundheitsstudiengängen ist die Beziehung zu den Dozierenden extrem wichtig fürs Lernen. In praktischen Fächern arbeiten wir meist in kleineren Gruppen. Dozierende sind Vorbilder und sollten möglichst authentisch wirken. Sie zeigen praktische Handlungen vor und machen dabei ihre Gedanken transparent. Sie geben den Studierenden Feedback und korrigieren sie. Dabei lassen sie ziemlich viel Nähe zu. Häufig nehmen sie sich Studierenden bei speziellen Schwierigkeiten sogar ganz persönlich an. Und auch die Beziehung der Studierenden untereinander ist wichtig. Denn sie üben praktische Anwendungen und Untersuchungen aneinander und fassen sich dabei gegenseitig an. Bei solchen Lerneinheiten gehört es dazu, dass man abschliessend darüber spricht, wie sich eine Handlung für beide Seiten angefühlt hat. Man erteilt sich Feedback – auf fachlicher und auf persönlicher Ebene. Das erfordert ein Klima des Vertrauens.

Es herrschen also fast familiäre Verhältnisse auf dem Campus?
Das ist jetzt übertrieben. In den theoretischen Lerneinheiten sind die Beziehungen sicher weniger eng als in den praktischen. Aber natürlich braucht es in beiden professionelle Distanz. Unsere Dozierenden haben ja früher alle selbst mit Patient:innen gearbeitet und die meisten haben auch heute noch einen Fuss in der Praxis. Eine gute Balance zwischen Nähe und Distanz ist elementar. Diese zu erlernen ist Teil der Ausbildung. Die Hochschule bietet dafür ein gutes Übungsfeld.

In der Beziehung zwischen Studierenden und Dozierenden spielen bestimmt auch Sympathie und Antipathie eine wichtige Rolle. Wie soll man mit diesen Gefühlen umgehen?
Zuerst muss man sich dieser Empfindungen überhaupt einmal bewusst werden und sie zulassen. Es ist sehr wichtig, nicht einfach aus dem Bauch heraus zu reagieren, sondern zu reflektieren, weshalb einen jemand nervt, aber auch, warum einem eine andere Person auf Anhieb sympathisch ist. Wer sich mit den eigenen Hintergründen befasst, kann derartige Gefühle besser einordnen und das spontane Urteil über andere relativieren. Dies ist die Voraussetzung, um eine professionelle Beziehung zu gestalten. Wenn Studierende an der Hochschule lernen, konstruktiv mit Emotionen umzugehen, wird ihnen das auch bei den Patient:innen besser gelingen.

Sie schreiben in Ihrer Dissertation, dass positive Emotionen das Lernen erleichtern. In der herkömmlichen Didaktik wurde jedoch viel mit Druck gearbeitet. Lässt sich das heute völlig vermeiden?
Nein, und das ist auch nicht das Ziel. Wir können unseren Studierenden Erfahrungen wie Misserfolge, Langeweile oder Widerwillen nicht gänzlich ersparen. Schliesslich werden sie auch später im Job mit Stress und anderen negativen Gefühlen umgehen müssen. Wir pflegen kein Kuschelklima, sondern fordern viel. Gleichzeitig unterstützen wir die Lernenden mit Mentoraten, Beratungsgesprächen oder Lerncoachings, beispielsweise bei Prüfungsangst.

Wie können Dozierende das Selbstvertrauen ihrer Studierenden fördern?
Zum Beispiel, indem wir sichere Lernumgebungen schaffen mit einem möglichst stress- und angstfreien Klima. Das ist vor allem für das Erlernen von praktischen Handlungen wichtig. Wir begleiten die Studierenden dabei mit Feedbacks und Anregungen zur Selbstreflexion. So erleben sie, wie ihre Kompetenzen stetig wachsen.

Was heisst das konkret?
Zuerst probieren die Studierenden eine Handlung aneinander aus, etwa eine Spritze zu setzen. Teilweise können sie auch an lebensgrossen Puppen üben. Zum Beispiel trainieren Hebammen-Studierende mit der hochschwangeren Roboter-Frau SimMom. Oder wir engagieren Schauspieler:innen, die Patient:innen bei Behandlungen oder in Kommunikationssituationen simulieren. Sie geben den Lernenden ehrlichere und detailliertere Rückmeldungen, als es echte Patient:innen tun würden. Tolle Chancen bieten sich auch durch das Thetriz – das angegliederte Ambulatorium. Es bildet sozusagen die Schnittstelle zwischen Hochschule und Praxis. Hier können Studierende bei echten Behandlungen dabei sein, die Interventionen werden zudem mittels ausgeklügelter Technik in die Schulzimmer übertragen. Wenn Studierende zum ersten Mal echte Patient:innen vor sich haben, ist das nicht mehr ein Sprung ins kalte, sondern ins angewärmte Wasser.

Ein weiterer wichtiger Faktor beim Lernen ist die Motivation. Wie können Dozierende diese fördern?
Die allermeisten unserer Studierenden sind bereits stark intrinsisch motiviert. Sie haben den jeweiligen Studiengang von sich aus gewählt und ein konkretes Berufsziel vor Augen. Zudem mussten sie ein aufwändiges Aufnahmeverfahren durchlaufen. In den Gesundheitsberufen ist die Sinnhaftigkeit zudem sehr naheliegend. Dozierende können die Grundmotivation verstärken, indem sie selber Begeisterung zeigen und für ihr Fach brennen. Indem sie möglichst viele reale Situationen einbringen und mit Fallbeispielen, Rollenspielen und Simulationen arbeiten, stellen sie laufend einen Praxisbezug her. Zudem besteht in unseren Studiengängen mindestens ein Viertel der Studienzeit aus Praktika. Je anwendungsorientierter der Unterricht, desto stärker erschliesst sich der Sinn dahinter.

Der Unterricht besteht also heute nicht mehr hauptsächlich aus Vorlesungen, wie es traditionsgemäss an den Hochschulen üblich war?
Frontalunterricht ist heutzutage eher die Ausnahme als die Regel. Wir wollen einen abwechslungsreichen Unterricht mit einer Vielfalt an Methoden bieten. Die Studierenden sollen aktiv mitwirken, nicht nur konsumieren. Unser neues Gebäude in Winterthur bietet dafür ideale Voraussetzungen.

Inwiefern?
Im Haus Adeline Favre haben wir kaum mehr nüchterne Hörsäle, dafür viele Zimmer, die echten Spital- oder Praxisräumen nachempfunden sind. In diesen können unsere Studierenden in realitätsnaher Umgebung miteinander üben. Zudem bietet der moderne Bau mit dem offen gestalteten Innenraum und den vielen Ecken und Nischen verschiedenste anregende Settings, sei es für Gruppenarbeiten, fürs Selbststudium oder für informelle Begegnungen.

Sie haben selbst viel Lernerfahrung – vom Schulkind bis zur Doktorandin. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?
Motiviert haben mich Lehrpersonen, die uns mit grossem Fachwissen gefordert, aber auch Humor gezeigt haben. Besondere Flow-Momente erlebte ich zudem bei der Bearbeitung selbstgewählter Themen. Und auch die Kolleginnen und Kollegen in der Schule und im Studium haben massgeblich zur Freude am Lernen beigetragen. Ausbildung ist ja mehr, als im Unterricht zu sitzen. //

Vitamin G, S. 28-30


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Magazin «Vitamin G – für Health Professionals mit Weitblick»


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