BEIM GAMEN DAS SCHREIBEN ÜBEN

Bis zu einem Drittel der Schulkinder hat feinmotorische Schwierigkeiten, die sich beim Schreiben bemerkbar machen. Ein neues digitales Spiel, das am Departement Gesundheit entwickelt wird, soll dafür sorgen, dass Üben Spass macht.

VON ANDREA SÖLDI

Um das Königreich Haal zu retten, muss der kleine Fuchs seinen Weg durch ein Labyrinth suchen und unterwegs Buchstaben einsammeln. Er muss Hindernissen ausweichen, über eine schmale Brücke gehen sowie Schatztruhen finden und öffnen. Dabei helfen ihm magische Kräfte, die er aber auch wieder verliert, wenn er zum Beispiel eine der blauen Blumen berührt. Mit dem neuen digitalen Spiel «Haal» sollen Primarschulkinder mit Schreibschwierigkeiten ihre Schreibmotorik trainieren können. Sie führen das Füchslein mit einem speziellen Stift auf einem Touchscreen durch die ansprechend gestaltete virtuelle Landschaft. Das Serious Educational Game wird im Rahmen eines Forschungsprojekts entwickelt, an dem das Institut für Gesundheitswissenschaften und das Institut für Ergotherapie der ZHAW gemeinsam mit Partnern der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) und der Pädagogischen Hochschule Zürich (PHZH) arbeiten.

Hindernis beim Lernen

«Feinmotorische Schwierigkeiten beim Schreiben gehören zu den häufigsten Lernstörungen bei Schulkindern», sagt Projektleiter Frank Wieber. Betroffen seien zwischen 10 und 30 Prozent der Primarschülerinnen und -schüler. Dies sei nicht einfach nur ein Problem, weil die Arbeitsblätter nicht schön aussehen. Vielmehr können die Kinder ihr Wissen nicht zeigen, wenn es ihnen nicht gelingt, ihre Gedanken und Geschichten flüssig und gut lesbar auf Papier zu bringen. Dies führe häufig zu Frustration und einem verringerten Selbstwertgefühl, weiss der stellvertretende Forschungsleiter am Institut für Gesundheitswissenschaften. Ein Ansatz sei, den betroffenen Kindern schon früh eine Tastatur zur Verfügung zu stellen, um ihnen den schriftlichen Ausdruck zu erleichtern. Wieber findet das keine gute Lösung. «Auch in der zunehmend digitalisierten Welt sind das Schreiben von Hand wie auch andere feinmotorische Fähigkeiten weiterhin wichtig.» Im Alltag sei Geschicklichkeit zum Beispiel beim Schuhebinden, beim Essen oder Aufräumen gefragt und später auch in vielen handwerklichen Berufen, aber auch beispielsweise für Zahnärztinnen und Chirurgen unverzichtbar.

Auch hyperaktive Kindern erreichen

Um die Grafomotorik zu verbessern, führe nichts an regelmässigem Üben vorbei, betont Wieber. Eigentlich gelte der Grundsatz: Am besten eignet man sich eine Fähigkeit an, indem man genau das trainiert, was man lernen will. Damit man geschickter wird beim Schreiben, wäre es also am effizientesten, einfach regelmässig zu schreiben. Viele bestehende Materialien, die häufig in der Schreibförderung zum Einsatz kommen, beruhen exakt auf diesem Prinzip: Das Kind schreibt Buchstaben und Sätze möglichst genau nach Vorlage. So zu üben ist für Kinder aber meist langweilig und wenig motivierend. Besonders schwer fällt es Kindern mit einem Aufmerksamkeitsdefizit oder einer Hyperaktivitätsstörung (ADS oder ADHS), die häufig von Schreibschwierigkeiten betroffen sind. Die Kinder zum regelmässigen Üben zu bringen, sei für die Eltern meist mit viel Anstrengung und Konflikten verbunden, weiss Wieber. Um die Motivation zu steigern, werden die Kinder bei digitalen Programmen nach der Übung häufig mit einem Spiel oder etwas Aufheiterndem belohnt. Anders beim neuen Schreibspiel namens Haal: Eines der wichtigsten Ziele der Innovation sei, dass die Kinder bereits die Übung selber gerne machen, erklärt der Psychologe. «Für die Kinder soll es sich nicht wie lernen anfühlen, sondern sie sollen Spass daran haben.» So will man erreichen, dass sie genügend häufig trainieren, um einen Lerneffekt zu erzielen – auch jene ohne besonders engagierte Eltern, welche sie regelmässig daran erinnern. Zudem entfalle die Stigmatisierung: Für das betroffene Kind ist es viel cooler, wenn es den Kollegen sein neues Game zeigen kann, als wenn es erklärt, es müsse jetzt noch Schreibübungen machen.

Touchscreen registriert Druck

Mit dem neuen Spiel, das für gewöhnliche Tablets entwickelt wird, üben die Kinder zwar nicht direkt das Schreiben von Wörtern, doch sie müssen anspruchsvolle, schreibähnliche Bewegungsfolgen umsetzen. Zum Beispiel ziehen sie lange, gerade Striche, um das Füchslein über eine immer schmaler werdende Brücke zu führen. Oder sie räumen Steine aus dem Weg, indem sie diese mit dem Stift umrunden und anstossen. Der Touchscreen registriert zudem, mit wie viel Druck die Benutzenden den Stift führen und in welchem Winkel sie ihn halten. Denn viele Kinder mit Schreibschwierigkeiten verkrampfen ihre Hand und drücken viel zu stark. «Für die Kinder soll es sich nicht wie lernen anfühlen.» Das Programm ist deshalb so gestaltet, dass gewisse Aufgaben nicht gelingen, wenn das Kind allzu grossen Druck ausübt: Zum Beispiel kann es dann den Stein, der im Weg liegt, nicht auf die Seite schieben.

Lehrpersonen oder Therapeutinnen sollen mit der Software eine direkte Rückmeldung zum Übungsverhalten und zu den Lernfortschritten erhalten und die Schwierigkeit anpassen können. Wie bei vielen digitalen Games steigen die Spielenden dann in ein höheres Level mit höheren Ansprüchen an Geschwindigkeit und Genauigkeit auf. Die Entwickler wollen jedoch vermeiden, dass ein Suchteffekt entsteht und die Kinder immer weiterspielen. «Das Programm ist ethisch designt. Spätestens nach einer halben Stunde ist das Tagesziel erreicht», erklärt Frank Wieber. Sinnvoll sei es, während mehrerer Wochen täglich 15 bis 30 Minuten zu spielen. Ob diese Zeitspanne und Häufigkeit zu einer deutlichen Verbesserung führt, muss aber erst noch getestet werden.

Finanzierung noch nicht gesichert

Das Forschungsprojekt ist im Sommer 2018 gestartet. Die erste Projektphase hat das interprofessionelle Team mit Eigenmitteln finanziert. Seit diesem Jahr wird das Projekt mit Mitteln eines Fellowship vorangetrieben, das die stellvertretende Projektleiterin Annina Zysset von der Digitalisierungsinitiative der Zürcher Hochschulen (DIZH) erhalten hat. So wurde ein erster Prototyp entwickelt und auf Funktionalität und Akzeptanz überprüft. Inzwischen ist die erste Version überarbeitet und mit Schülerinnen und Schülern von der ersten bis dritten Klasse getestet worden. Die Ergebnisse waren vielversprechend.

Für den nächsten Schritt muss das interdisziplinäre Projektteam nun weitere Finanzen akquirieren. Damit soll der Prototyp mittels eines partizipatorischen Prozesses weiterentwickelt werden: Kinder, Lehrpersonen und Eltern sind stets involviert und geben regelmässig Feedback. Nach der Fertigstellung soll das Spiel für die Verbesserung der Schreibmotorik mittels einer Pilotstudie in einer Schule auf seine Wirksamkeit geprüft werden. Läuft alles nach Plan, wird 2023 ein Produkt zur Verfügung stehen, das in den ersten

Schulen zum Einsatz kommt. Frank Wieber hofft sehr, dass sich Geldgeber finden, um das Projekt zu Ende zu führen. «Unsere Idee ist einzigartig», sagt der Professor für Public Health. Bisher gebe es kein vergleichbares Angebot auf dem Markt, das alle Eigenschaften des neuen grafomotorischen Spiels in sich vereine: eine grosse Motivierung der Kinder, selbstständig und häufig zu üben, sowie eine evidenzbasierte Gestaltung. Dank des niederschwelligen Zugangs über die Schule und einer einfachen Einbindung in den Alltag soll zudem eine grosse Reichweite erzielt werden, erklärt Frank Wieber: «Wir hoffen, damit möglichst vielen Kindern mit Schreibschwierigkeiten eine ressourcenorientierte und wirksame Unterstützung bieten zu können.» //

Spielerisch Schreibmotorik trainieren: Entwicklung eines Serious Games zur Unterstützung bei Schreibschwierigkeiten

Projektleitung ZHAW:
Prof. Dr. Frank Wieber (stv. Leiter Forschung am Institut für Gesundheitswissenschaften)

Projektteam ZHAW:
Dr. Annina Zysset (stv. Projektleitung)
Prof. Dr.Brigitte Gantschnig (Institut für Ergotherapie),
Prof. Dr.Christina Schulze (Institut für Ergotherapie)

Projektpartner/-innen:
ZHdK: Prof. Ulrich Götz (Leiter der Fachrichtung Game Design), Ava Thalheim
PHZH: Prof. Dr. Reto Luder, Mirjam Nievergelt (Zentrum Inklusion und Gesundheit in der Schule)

Projektwebsite

SPIELE FÜR EINEN BESSEREN AUSTAUSCH AN RUNDEN TISCHEN

Bei der Behandlung von ADHS bieten runde Tische eine wichtige Plattform für den Austausch zwischen Eltern, Lehrpersonen, Ärztinnen und anderen Beteiligten. Doch die Kommunikation ist nicht immer einfach. Nun soll ein neues Spiel Gespräche auf Augenhöhe erleichtern.

Runde Tische gehören zu den wichtigsten Instrumenten bei der Begleitung von Kindern mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Dabei sitzen alle Beteiligten zusammen – von der Ärztin über die Lehrperson und den Schulpsychologen bis zu den Eltern und eventuell dem Kind selbst – und besprechen die Situation. Doch die Treffen verlaufen nicht immer harmonisch. Die verschiedenen Hintergründe und Perspektiven können zu Missverständnissen führen. Zudem ist manchmal im Vorfeld schon so viel vorgefallen, dass das Verhältnis zwischen den Beteiligten belastet ist.

Um eine bessere Zusammenarbeit zu fördern, entwickelt das ZHAW-Institut für Gesundheitswissenschaften nun ein Spiel. Der Auftrag stammt von der Firma eyelevel, die digitale Produkte für die Förderung der mentalen Gesundheit herausgibt. Aufbauend auf den Erkenntnissen der ZHAWStudie «Kinder fördern» über den Umgang mit von ADHS betroffenen Kindern soll das sogenannte Serious Game den Beteiligten eine Kommunikation auf Augenhöhe ermöglichen, erklärt Frank Wieber, Projektleiter und stellvertretender Leiter Forschung am Institut für Gesundheitswissenschaften. Wichtig sei auch, dass den Eltern eine Expertenrolle zukomme und das Wohl des Kindes im Mittelpunkt stehe. «Statt sich gegenseitig die Schuld zu geben, sollen die Beteiligten gemeinsam nach Lösungen zu suchen.»

Gameathon für gute Ideen

Um geeignete Spielideen zu finden, wurde im Frühling 2021 ein zweitägiger Wettbewerb durchgeführt. An diesem Gameathon nahmen rund 160 Personen teil: Spielentwicklerinnen, Pädagogen, Psychologen, Kommunikationsexpertinnen, Grafikdesigner und Fachpersonen anderer Disziplinen arbeiteten zusammen in Teams. Von insgesamt 30 Projekten wurden die besten drei prämiert.

Der Gameathon hat den Grundstein für die weitere Zusammenarbeit gelegt. Im nächsten Schritt arbeiten die drei Gewinnerteams gemeinsam mit eyelevel und der ZHAW, um zwei Spieltypen zu entwickeln. In diesem Rahmen ist auch eine Testung im weiteren Projektverlauf geplant, bei denen Eltern, Kinderärztinnen und -ärzte, Lehrpersonen und betroffene Kinder die Spiele am runden Tisch ausprobieren können. So wird sichergestellt, dass sie alltagstauglich sind und den Austausch zur Unterstützung der Kinder durch die spielerischen Elemente strukturieren und bereichern.

Spiel soll Gesprächsleitung erübrigen

Die Herausforderung sei, die Spiele so zu gestalten, dass sie keine zusätzliche Zeit beanspruchen, erklärt Wieber. «Sie müssen leicht verständlich und auf die jeweilige Problematik adaptierbar sein.» Im Idealfall übernimmt das Spiel die Gesprächsmoderation, um eine gleichberechtigte Teilnahme aller Beteiligten zu unterstützen. Bis im Frühling 2022 ist die Fertigstellung der Prototypen geplant, die dann evaluiert und optimiert werden. In einem späteren Schritt sind digitale Versionen der Spiele geplant. Diese sollen in die App von eyelevel integriert werden, welche umfassende Informationen und Hilfestellungen zum Thema ADHS bietet.//


WEITERE INFORMATIONEN:

Magazin «Vitamin G – für Health Professionals mit Weitblick»


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