Der Kompass in agilen Arbeitswelten

Digitalisierung, Komplexität, Werteverschiebungen: Die veränderten Anforderungen der Geschäftswelt zwingen Organisationen, sich neu zu erfinden. Klar formulierte und ganzheitlich hergeleitete Unternehmensleitbilder können hier für Stabilität sorgen.

Das Unternehmen Freitag nennt es sein «Manifest»: In sieben Punkten hat die Herstellerin von Taschen und Accessoires formuliert, wie sie denken und handeln, zusammenarbeiten und Produkte entwickeln, produzieren und verkaufen will. Im Zentrum dieses Leitfadens für unternehmerisches Tun steht das Bekenntnis zur Kreislaufwirtschaft: Die Ressourcen der Produkte sollen nachhaltig sein und in geschlossenen Materialkreisläufen geführt werden, die Produkte langlebig und reparierbar sein und die Produktion von erneuerbaren Energien angetrieben werden.

«Auch wenn wir diese siebeneinhalb Punkte in ihrer einfachen Radikalität nie ganz erreichen können, so werden wir nicht aufgeben, sie knapp zu verpassen», schreibt das Anfang der neunziger Jahre gegründete Unternehmen. Für Jens Martignoni verankert dieses Leitbild von Freitag vorbildhaft das gegenwärtige Handeln im Ursprung der Firma. Denn die Gründergeschichte handelt von zwei Brüdern mit dem Nachnamen Freitag und einer Nähmaschine in der Küche, wie auf der Website ausführlich beschrieben.

Der Kern des Unternehmens

«Ein Leitbild ist wie die DNA eines Unternehmens, es verzeichnet die Geschichte, aber auch die Zukunft», sagt der wissenschaftliche Mitarbeiter des Institutes for Organizational Viability (Unternehmensentwicklung) der School of Management and Law. Er ist Co-Leiter des mit dem Departement Soziale Arbeit durchgeführten CAS Inventing Organizations, wo die Gestaltung der Zukunftsfähigkeit von Unternehmen im Zentrum steht (vgl. Box). «In einem guten Leitbild wird formuliert, warum es das Unternehmen gibt, was es macht und wie und warum es dies tut.» Bei einem Startup kann dies eine Geschäftsidee sein, bei einer Nichtregierungsorganisation ein zu lösendes Problem oder bei einem staatlichen Betrieb ein Gesetz.

«Zukunftsorientierte Organisationen basieren auf Werten, aus denen Mitarbeitende gemeinsam kohärente Ziele definieren können und diese so auch motiviert erreichen», so Martignoni. «Gerade in einer instabilen, sich schnell verändernden Arbeitswelt geben gute Leitbilder Stabilität und Resilienz.» Leitbilder seien in diesem Sinn primär ein internes, sinnstiftendes Instrument, das den Mitarbeitenden «ein Handlungsfeld für die Mitarbeit» aufzeigt und der Belegschaft in Unternehmen mit flachen Hierarchien und hoher Selbstorganisation Orientierung gibt.

In den neuen Arbeitswelten sollten Mitarbeitende ihre Rollen mitgestalten und damit auch sicherstellen, dass sie ihre zentrale Funktion im Unternehmen bewusst wahrnehmen und sich laufend weiterentwickeln. Das Leitbild sei deshalb auch ein wichtiger Baustein für die Zukunftsfähigkeit, indem Ideale, Potenziale und noch nicht verwirklichte Geschäftsbereiche bereits angezeigt würden, ergänzt Martignoni.

Zukunft denken – Vergangenheit einbeziehen

So wichtig wie diese «Tätigkeit des Weiterdenkens» sei auch der Bezug zur Vergangenheit und zur Entstehungsgeschichte. Das Woher, die Herkunft des Unternehmens, gelte es ins Leitbild zu integrieren – wie dies das Unternehmen Freitag tut. Im neuen Leitbild der Migros, welches dieses Jahr eingeführt wurde, sei dieser Bezug nur noch schwach vorhanden. Alles sei viel zu verkürzt, vergleicht Martignoni. Als Raison d’Être schreibt der Detailhändler: «Wir engagieren uns täglich mit Herz für die Lebensqualität der Menschen und für die Gesellschaft.» Das ursprüngliche «Ideengut» der Gründer Gottlieb und Adele Duttweiler werde nur einmal knapp erwähnt, so Martignoni, aber nicht integriert als Teil einer soliden Verankerung, auf die die Zukunft aufgebaut werden sollte.

Welche Werte wichtig sind als Leitmotiv für ein Unternehmen, muss jede Organisation selbst entwickeln – ein Patentrezept gebe es nicht, so Martignoni. Er verwendet im neuen CAS Inventing Organizations als Diskussionsgrundlage die vier Leitbilder des deutschen Zukunftsinstituts «für eine bessere Zukunft in der Post-Corona-Zeit»: Verbundenheit, Genügsamkeit, Offenheit und Ganzheitlichkeit. Anhand dieser Werte könnten die Weiterbildungsteilnehmenden reflektieren, wo ihr Unternehmen stehe und wo die Reise hingehen solle, so Martignoni. Zusammen mit weiteren Elementen von systematischer Beobachtung über das Aufbrechen von Mustern bis zu Ansätzen von «High Reliable Organizations» werde ein transformativer Weg sichtbar, mit dem Organisationen sich «neu erfinden» könnten.

Mehr Informationen zum CAS Inventing Organizations: www.zhaw.ch/iov/casio


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