Film_Die Anhörung_Dolmetschen_Maria Neversil_linke Seite

Dolmetschen im Scheinwerferlicht: Im Dokumentarfilm «Die Anhörung» und im richtigen Leben

Haben gute Erzähler:innen bessere Chancen auf Asyl? Im Dokumentarfilm «Die Anhörung» sucht die Regisseurin Lisa Gerig nach Antworten auf diese Frage und wurde dafür mit dem Schweizer Filmpreis für den besten Dokumentarfilm ausgezeichnet. Maria Neversil hat im Film als Dolmetscherin mitgewirkt. Im Exklusivinterview erzählt die erfahrene Dolmetscherin und Dozentin im Master Konferenzdolmetschen von ihren Erfahrungen am Filmset und der harten Realität des Community- und Gerichtsdolmetschens. Was sind die Herausforderungen und welche Rolle spielt eine fundierte Ausbildung? 

Autorin: Marta Ferreira Almeida

Maria, du bist u.a. als Konferenz- und Gerichtsdolmetscherin tätig. Was macht für dich die Faszination des Dolmetschens aus? 

Maria Neversil: Der Beruf der Dolmetscherin ist für mich immer noch so spannend wie am ersten Tag. Ich bin auf Recht, Medizin, Film und Kultur spezialisiert und blicke in die unterschiedlichsten Bereiche hinein. Dabei lerne ich immer wieder Neues, das mich persönlich weiterbringt, und begegne faszinierenden Menschen! 

Im Film von Lisa Gerig dolmetschst du die sensiblen Anhörungssituationen von Asylbewerber:innen. Wie hast du dich auf den Filmdreh vorbereitet, und was waren für dich die Herausforderungen?  

Am Set wurde uns gesagt, dass wir Dolmetscher:innen einfach dolmetschen sollten, ganz so wie in unserem beruflichen Alltag. Wir wurden weder gebrieft noch sonst wie auf die Aufnahmen vorbereitet. Die Situation sollte der Realität so nahe wie möglich kommen. Wir haben also nicht geschauspielert, das Setting entsprach eher einem Dokumentarfilm.

Dass die Szenen nicht gespielt, sondern realistisch nachgestellt wurden, stellte für mich die grösste Herausforderung dar, denn ich wurde gewissermassen bei der Arbeit gefilmt. Ich habe gedolmetscht wie in meinem Berufsalltag, aber im Wissen, dass die Kamera läuft. Ich wusste, dass eventuelle Fehler es vielleicht auf die Leinwand schaffen würden. 

maria-neversil-dolmetscherin-zhaw
Maria Neversil ist Dozentin im Master Konferenzdolmetschen an der ZHAW.

Es war also wie in einer Prüfung? 

Genau. Hinzu kam, dass ich die Asylsuchende, die ich gedolmetscht habe, vorher noch nie gesehen hatte. Ich kannte ihre Geschichte nicht, und sie sprach zudem nigerianisches Englisch mit all seinen grammatikalischen Besonderheiten. Die dargestellten Szenen sind in diesem Sinne wirklich sehr realistisch. Ich glaube, auf dem Filmplakat (Beitragsbild, erste von links) sieht man recht eindrücklich, wie konzentriert ich bin. Seitdem nehme ich mir vor, auch in stressigen Situationen öfters zu lächeln! 

Wie war es für dich, in echten Anhörungssituationen zu dolmetschen?  

Ich habe bisher nie beim SEM (Staatssekretariat für Migration) gedolmetscht, aber auch bei den Justizbehörden gibt es sehr schwierige Einsätze – Mordfälle oder Vergewaltigungen –, bei denen die beteiligten Personen detailliert beschreiben, was geschehen ist. Das kann für uns Dolmetscher:innen sehr belastend sein. Aber mit der Zeit gewöhnt man sich daran. Man braucht allerdings starke Nerven und die Fähigkeit, sich innerlich vom Gehörten zu distanzieren.

Wie bist du zu deiner Rolle in diesem Dokumentarfilm gekommen, und was hat dich dazu bewogen mitzumachen? 

Die Regisseurin, Lisa Gehrig, suchte für ihr Projekt nach Dolmetscher:innen und kontaktierte dafür den ASTTI, den Schweizerischen Verband für Übersetzen, Terminologie und Dolmetschen. Dieser leitete die Anfrage an seine Mitglieder weiter, und ich habe zugesagt. Die Zusammenarbeit kam 2021 zustande, als die Pandemie langsam abebbte und ich Zeit und Lust hatte, mich einzubringen. Ich verbrachte insgesamt zwei Tage am Set in einem ehemaligen Bürogebäude an der Badenerstrasse in Zürich.

Da ich schon immer extrovertiert war und gerne auf der Bühne stehe – ich habe früher Flamenco getanzt und gesungen –, freute ich mich darauf, für einmal im Rampenlicht zu stehen. Aber ich hätte nie gedacht, dass der Film einen solchen Siegeszug erleben würde. Ich dolmetsche seit Beginn meiner Laufbahn auch im Filmbereich und dachte, «Die Anhörung» würde vielleicht an ein paar Filmfestivals gezeigt, dass aber der Film gleich drei Schweizer Filmpreise gewinnen würde, hätte ich mir nie träumen lassen. 

Und natürlich ist dieser Film eine einmalige Gelegenheit, PR für unseren Beruf zu machen. Er gibt Einblick in eine Tätigkeit, die die breite Öffentlichkeit nicht oft so hautnah miterlebt. Seither werde ich immer wieder auf den Film und meine Tätigkeit als Dolmetscherin angesprochen und gefragt, wie es ist, in solchen Situationen zu dolmetschen.

Es hat Spass gemacht, bei den Dreharbeiten mitzumachen und es freut mich, dass Lisa Gehrig mit ihrem Film so erfolgreich ist.

Die Anhörung: Filmset und Dreharbeiten
https://www.outside-thebox.ch/de/die-anhoerung/ – Copyright © Ensemblefilm


Jetzt haben wir verschiedene Arten von Dolmetschen erwähnt. Was ist der Unterschied zwischen Community Interpreting, Gerichtsdolmetschen, Konferenzdolmetschen …?

Beim Community Interpreting wird in der Regel in einem informellen Setting gedolmetscht – bei einem Spitalbesuch, einem Elterngespräch in der Schule usw. Dabei ist man als Dolmetscher:in viel direkter involviert  als zum Beispiel beim Dolmetschen für die Justizbehörden oder an Konferenzen, wo man ohne «Draht zurück» in einer Dolmetschkabine sitzt. Das heisst, man kann z. B. bei akustischen oder terminologischen Problemen eher eingreifen und auch zurückfragen. Im Gerichtssaal ist es tendenziell schwieriger, sich als Dolmetscher:in einfach so zu Wort zu melden. Da ich keine Erfahrung mit dem Dolmetschen beim SEM habe, kann ich nicht genau sagen, wie die Bedingungen dort sind. Ich gehe aber davon aus, dass sie ähnlich sind wie beim Dolmetschen für die Justizbehörden.

Welche Unterschiede gibt es in der Ausbildung und den Anforderungen an Community Interpreting und Konferenzdolmetschen?

Als Konferenzdolmetscher:innen arbeiten nur bestens ausgebildete Dolmetscher:innen mit Master-Abschluss, die sich während des Studiums eine einwandfreie sprachliche Ausdrucksweise und Grundkenntnisse in vielen Fachgebieten angeeignet haben. Sie dolmetschen in politisch, fachlich oder wirtschaftlich hochkomplexen Settings z. B. bei politischen Verhandlungen der EU, medizinischen Kongressen oder Streitigkeiten zwischen Unternehmen. 

Für das  Gerichtsdolmetschen und beim «Community Interpreting» muss man die Grundlagen des Dolmetschens kennen und vor allem hervorragende Sprachkenntnisse haben (Anm. d. R. : beides vermittelt der Bachelor Mehrsprachige Kommunikation). Deshalb kommen hier auch Dolmetscher:innen zum Einsatz, die nicht Konferenzdolmetschen studiert haben, insbesondere für exotische Sprachen. Beim «Community Interpreting» oder interkulturellen Dolmetschen wird beispielsweise in Schulen oder Spitälern gedolmetscht. Die Dolmetscher:innen übersetzen in der Regel Satz für Satz. Dafür brauchen sie keine ausgeklügelte Notizentechnik, wie sie Konferenzdolmetscher:innen im Studium erlernen. 

Beim Gerichtsdolmetschen muss die Verdolmetschung so nah wie möglich am Original bleiben. Fehler oder eine schlechte Ausdrucksweise müssen nach Möglichkeit wiedergegeben werden, damit sich die Polizei, die Staatsanwaltschaft oder auch die befragende Person beim SEM ein Bild vom Bildungsstand und der Ausdrucksweise der befragten Person machen kann. Konferenzdolmetscher:innen werden demgegenüber darauf trainiert, sich auf einem hohen sprachlichen Niveau eloquent auszudrücken. Am einen Ende des Spektrums dolmetscht man z. B. für eine Person, die wenig gebildet ist, im Extremfall weder lesen noch schreiben kann, sich vielleicht etwas holprig ausdrückt. Am anderen Ende des Spektrums dolmetscht man z. B. für ein Staatsoberhaupt im Parlament, im hohen sprachlichen Register, das ein solcher Einsatz erfordert.

Wie meisterst du die Herausforderung, zwischen verschiedenen Dolmetschmodi zu wechseln?    

Da ich in beiden Bereichen dolmetsche – bei Kongressen und bei den Justizbehörden –, muss ich mich immer wieder an die unterschiedlichen Anforderungen anpassen. Das heisst, ich muss mir in Erinnerung rufen, dass ich bei polizeilichen Befragungen die Aussagen genauso dolmetsche, wie sie gemacht werden, ohne zu beschönigen. Und bei einer Konferenz muss ich mich sprachlich so elegant und schön wie möglich ausdrücken. Beide Arten des Dolmetschens können sehr anspruchsvoll sein.

Aus deinen Antworten ist klar geworden, dass eine fundierte Ausbildung für diesen Beruf entscheidend ist. Warum genau das Konferenzdolmetschen-Studium? 

Bei meinen Einsätzen an Gerichten im Kanton Bern höre ich oft, dass noch nie jemand so gut gedolmetscht habe. Das freut mich natürlich, aber es ist kein Kunststück, sondern das Ergebnis einer fundierten Ausbildung. Ich unterrichte auch im Gerichtsdolmetschkurs im Kanton Bern. Dort sehe ich ab und zu angehende Gerichtsdolmetscher:innen, die glauben, dass das Beherrschen einer Sprache ausreicht, um zu dolmetschen. Sie unterschätzen die Komplexität eines Dolmetscheinsatzes und wissen nicht, wie man sich umfassend auf einen Einsatz vorbereitet, Terminologie recherchiert, ein Glossar aufbaut oder effizient Notizen macht. Es sind diese Dolmetscher:innen, die dann auch die Prüfung nicht schaffen. Seit der Einführung des Gerichtsdolmetscherkurses in Bern hat sich die Qualität der Gerichtdolmetscher:innen verbessert.

Das Konferenzdometschen-Studium erachte ich als unabdingbar für diesen Beruf. Im Studium lernt man die Techniken, die erforderlich sind, um unter Druck und in schwierigen Situationen gut zu dolmetschen und richtig zu reagieren. Die Studierenden haben die Möglichkeit, ihre Fertigkeiten in vielen Übungssituationen zu perfektionieren. Wenn sie nach bestandener Prüfung ihren ersten Arbeitseinsatz absolvieren, haben sie bereits viel Erfahrung im Dolmetschen gesammelt – und das merkt man! 

Als Konferenzdolmetscher:in – z. B. an einer internationalen Konferenz oder an einem Gipfeltreffen – arbeitet man in einem höchst anspruchsvollen Feld, in dem Fehler eine grosse Tragweite haben können. Obschon im Studium intensiv geübt wird, kann der erste Auftrag trotzdem eine Herausforderung sein. Es ist für mich unvorstellbar, wie man sich in eine Dolmetschkabine setzen kann, ohne diese Ausbildung absolviert zu haben.

Maria, ganz herzlichen Dank für deine spannenden Antworten und Einblicke in den Film «Die Anhörung». 


Der preisgekrönte Dokumentarfilm «Die Anhörung» wirft einen einzigartigen Blick auf die sensiblen und heiklen Anhörungssituationen von vier abgewiesenen Asylbewerber:innen und hinterfragt dabei grundlegende Aspekte des Schweizer Asylverfahrens, indem die Asylsuchenden im Verlauf des Films auch in die Rolle der Befragenden schlüpfen. 

AWARDS


Master Konferenzdolmetschen

Seid ihr neugierig auf den Film und das Studium geworden? Hier findet ihr weitere Infos zum Film und zum Studium!

Credits Titelfoto: https://www.outside-thebox.ch/de/die-anhoerung/ – Copyright © Ensemblefilm


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert