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4 Tage in Brüssel, der EU-Hochburg des Dolmetschens

Zum Masterstudium in Konferenzdolmetschen an der ZHAW gehört ein Study-Visit in Brüssel. Dort schauen die Studierenden hinter die Kulissen der Dolmetschabteilungen der Europäischen Union. Und: Sie üben im Europäischen Parlament und im Ministerrat in der stummen Kabine. Dabei erleben sie, was es heisst, bei der EU als Dolmetscher:in zu arbeiten.

Autorin: Rahel Dirren, Studentin Master Konferenzdolmetschen

Im 3. Semester war es endlich soweit. Wir Studierende des Masters Konferenzdolmetschen durften den Institutionen der Europäischen Union in Brüssel einen Besuch abstatten. Während unserer viertägigen Reise in die Hauptstadt Europas haben wir einen umfassenden Einblick in die Arbeit der Dolmetschenden der Europäischen Union erhalten und erst noch Brüssel kennengelernt.

Tag 1: Ankommen in der internationalen Hauptstadt Europas

Wir flogen bereits am Sonntagmittag, damit wir den Nachmittag zur Stadtbesichtigung nutzen konnten. Und diese Stadt lässt sich sehen. Besonders auffallend waren für mich schon bei der Ankunft die vielen Grünflächen. Überall Parks, einzelne Bäume oder Pflanzen vor den Haustüren. Dadurch erhält die Grossstadt Brüssel einen gemütlichen und familiären Charakter. Da wir im europäischen Viertel übernachteten, blieben wir erst einmal hauptsächlich in der oberen «Etage» der Stadt, besuchten den Warandepark, assen die weltberühmten Frittes (tatsächlich sehr gute Konsistenz, aber etwas wenig gewürzt) und liessen den Abend in einem Irish Pub gleich neben unserem Hotel ausklingen. Die Bedienung im Pub sprach übrigens nur Englisch – endgültig unsere Begrüssung in der internationalen Stadt. Französisch oder Flämisch hörten wir in Brüssel während des ganzen Besuchs hingegen sehr selten. Besonders im europäischen Viertel waren stattdessen alle möglichen anderen Sprachen präsent: Deutsch, Japanisch oder natürlich oft Englisch. Brüssel verdient den Namen «Hauptstadt Europas» also wirklich.

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Study visit des Masters Konferenzdolmetschen in Brüssel (vlr Christina, Lena, Rahel, Maria und Belinda)

Tag 2: Die Dolmetschabteilung der EU kennenlernen

Am Montag begann dann der Ernst des Lebens. Im Vergleich zu den nächsten beiden Tagen war dieser jedoch noch sehr gemütlich. Wir besuchten ein Gebäude der Europäischen Kommission. Dort lernten wir gemeinsam mit einer Gruppe von Dolmetschstudierenden aus Wien die Dolmetschabteilungen der EU kennen. Ausserdem gab es einen Infoblock über die Akkreditierungsprüfung. Diese gilt es zu bestehen, wenn man bei der EU arbeiten will. Wir konnten uns sogar an einem Test versuchen.

Es galt eine etwa 5-7-minütige Rede über ein allgemeines Thema ohne Vorbereitung konsekutiv vor allen zu dolmetschen. Die Bewertung folgte danach von einer spontan zusammengesetzten Jury ebenfalls im Plenum. Grosse Überraschungen gab es dabei nicht: Die Bewertung fiel etwa so aus, wie wir uns das vorgestellt hatten. Das Schwierigste an der Aufgabe, da waren wir uns einig: Nicht alle Menschen haben dasselbe Allgemeinwissen. Bei einer Prüfung über unvorbereitete Themen können sich also aufgrund des Wissens unfaire Vor- und Nachteile ergeben.

Das Leben als Dolmetscherin beim Europäischen Parlament

Zum Abendessen trafen wir Paula, eine Absolventin unseres Masters Angewandte Linguistik an der ZHAW, die jetzt für das Europäische Parlament dolmetscht. Nach einem Tag voller Infos, wie es laufen sollte, war es spannend zu hören, wie das Leben der Dolmetschenden wirklich aussieht: Sehr abwechslungsreich auf jeden Fall und auch sehr unvorhersehbar. Paulas Beispiel von diesem Tag: Kurz vor ihrem Abflug am Morgen hatte sie nochmal ihren Einsatzplan für den Tag kontrolliert. Sie sollte am Nachmittag im LIBE arbeiten, im Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres. Als sie in Brüssel ankam, war sie hingegen im AGRI eingeteilt, im Ausschuss für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung. Also hatte sie sich ganz umsonst und falsch vorbereitet. Improvisation war gefragt.

Gerade für frisch gebackene Dolmetscher:innen stelle ich mir das ziemlich stressig vor. Aber langweilig wird es im Parlament sicher nie. Das merkten wir schon jetzt und dann noch mehr am nächsten Tag.

Tag 3: Die Feuerprobe als Dolmetscherin im Europäischen Parlament – natürlich in der «stummen Kabine»

Am dritten Tag unseres Besuchs durften wir endlich selbst versuchen, wie es sich anfühlt, in einem parlamentarischen Ausschuss zu dolmetschen. Natürlich waren wir in einer sogenannten «stummen Kabine». Das heisst, unsere Verdolmetschung wurde nicht in den Saal übertragen – zum Glück, denn mindestens die erste halbe Stunde waren wir hauptsächlich damit beschäftigt, überhaupt zu verstehen, was vor sich ging. Gross vorbereiten konnten wir uns für die Sitzungen nämlich nicht.

Nachdem wir uns dann in den zur Verfügung gestellten Dokumenten langsam zurechtgefunden hatten, lief es mehr oder weniger gut. Den spannendsten Teil verpassten wir aber leider, weil wir genau dann Pause machten. Während der immer hitziger werdenden Diskussion war offenbar ein Stinkefinger gezeigt worden…

Die Herausforderungen für uns Dolmetsch-Studierende

Schwierig waren vor allem die EU-internen Begriffe und Abkürzungen. Einige waren uns glücklicherweise schon aus dem Unterricht bekannt, aber die EU hat unendlich viel Terminologie.

Wir hatten im Voraus ein «kurzes» Glossar erhalten (etwa 8 Seiten!). Bis man darin jedoch den richtigen Begriff findet, hat man schon zwei Sätze verpasst. Es ist also schon ein ziemliches Reindenken nötig. Ausserdem herrscht für die meisten Sitzungen ein strenges Zeitregime. Dies wird zwar trotz stetiger Mahnung selten nach Schweizer Genauigkeit eingehalten. Aber alle wissen, dass ihnen nur wenig Redezeit zur Verfügung steht, und so sprechen sie entsprechend schnell. Oder noch schlimmer: Sie lesen einen Text ab, den die Dolmetschenden nicht vorbereiten konnten.

Ein schnell gelesener Text ist zum Dolmetschen extrem anspruchsvoll oder fast unmöglich. Im Vergleich zu einer spontanen Rede wurde der Text vorformuliert und verdichtet. Bei der Verdolmetschung müssen wir aber spontan und sofort gute Lösungen in der Zielsprache finden. Ich glaube, für die EU-Dolmetschenden ist das Alltag. Genauso, wie alle möglichen Akzente und Niveaus im Englischen. Etwa 80-90% der Mitglieder sprechen Englisch, auch wenn es nicht ihre Muttersprache ist. Das ist gemütlich für die Englisch-Dolmetschenden, die wenig zu tun haben. Für das Verständnis wäre es aber vielleicht besser, wenn sie alle ihre Muttersprache nutzten. Die meisten von uns haben ja Erfahrung damit, wie es klingt, wenn manche Deutsche, Italiener oder Spanierinnen – die Liste liesse sich beliebig fortsetzen – Englisch sprechen…

Tag 4: Weiter üben im Ausschuss des Ministerrats

Am Mittwoch waren wir ähnlich wie im Parlament in einer stumme Kabine, diesmal in einem Ausschuss des Ministerrates.

Speziell am Ministerrat ist, dass pro Mitgliedsland nur eine Vertretung vor Ort ist. So waren mehr Dolmetschende im Raum als Mitglieder des Ausschusses. Die Atmosphäre ist dadurch viel familiärer.  Bei unserem Besuch führte «Schweden» durch die Sitzung. Ganz süss war der Beginn der Sitzung: Alle wurden willkommen geheissen, auch wir Studierende, und den Dolmetschenden wurde gedankt für ihren Dienst. So viel Wertschätzung bekommen die Dolmetschenden nicht überall. Beim Parlament ist man da schon weniger sichtbar.

Besprochen wurde ein Rechtsakt zum Thema Führerscheinentzug. Am Anfang verstanden wir nur Bahnhof. Mit der Papierversion des Übereinkommens vor uns fanden wir heraus, dass der Ministerrat chronologisch alle Artikel durchging und diese besprach. Und bei Artikel drei konnten wir endlich dem Gespräch folgen und unsere Dolmetschübung «am lebenden Objekt» beginnen.  Diskutiert wurde unter anderem, ob man «shall» durch «may» ersetzen sollte oder nicht. Solche sprachlichen Feinheiten zu dolmetschen ist ziemlich lustig. Ich war aber froh, dass ich nicht entscheiden musste, wie der Satz am Schluss im Übereinkommen stehen wird.

Study-Visit in der Hauptstadt Europas und des Dolmetschens – was bleibt in Erinnerung?

Nebst der Erinnerung an zwei intensive Tage als Dolmetscherin in der stummen Kabine bleibt mir von unserem Studien-Besuch in Brüssel vor allem die internationale Atmosphäre der Stadt im Gedächtnis. Sie ist geprägt von vielen Kulturen mit ihren kulinarischen Besonderheiten, vom vielen Grün und architektonischen Highlights.  Es gibt viele malerische Ecken z. B. den Grote Markt. Die imposantesten Gebäude findet man meiner Meinung nach aber im europäischen Viertel: Fast alle EU-Gebäude haben Glasfassaden und auch an der Einrichtung und für die europäischen Politiker:innen wurde nicht gespart. Im Gebäude des Europäischen Parlaments gibt es zum Beispiel ein Café im 12. Stock. Dort durften wir zwar nicht rein, aber die Aussicht bereits im Flur des obersten Stocks war schwindelerregend und sehr beeindruckend.

Eine solche Studienreise ist unbezahlbar und ein grosses Privileg. Wir genossen einen echten Einblick in das Leben bei einer allfälligen Arbeitgeberin und reisten mit unendlich vielen Eindrücken nach Hause. Ich könnte mir auf jeden Fall vorstellen, für die EU zu arbeiten. Und es klingt gar nicht so schlecht, wenn man sagen kann: «Ich arbeite in der Hauptstadt Europas».


Master Konferenzdolmetschen

Im Master Konferenzdolmetschen, einer Vertiefung des Masters Angewandte Linguistik, bildet das IUED Institut für Übersetzen und Dolmetschen Studierende für eine Karriere im Konferenzdolmetschen aus. Im Master erwerben die Studierenden Techniken und Strategien des Simultan- und Konsekutivdolmetschens für den Beruf als professionelle:r Konferenzdolmetscher:in. Hervorragende Sprachkenntnisse in der Mutter- sowie mindestens zwei Fremdsprachen bringen sie bereits mit. Als Vorbereitung auf die Aufnahmeprüfung fachliche Eignung empfiehlt die Studiengangleitung den Besuch des einsemestrigen Online-Weiterbildungskurses Passerelle Konferenzdolmetschen.


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