Traumapädagogik ist eines von den vielen wichtigen Themen, mit denen sich die Studierenden im letzten Semester des Bachelor Sprachliche Integration an der ZHAW befassen. Gastdozentin Marianne Herzog zeigt den Studierenden bei einer Live-Simulation auf, was es bedeutet, unter Stress lernen zu müssen. Dass ein sicherer Ort Basis für eine gute Lernumgebung ist und wie der Thron, die Antenne und die Echse mit unserem Gehirn zusammenhängen, ist nur ein Teil dessen, was die baldigen Absolvent:innen des Bachelorstudiengangs von Marianne Herzog gelernt haben.
Autor: Joshua Bartholdi
Am Anfang spricht sie Arabisch, zuerst noch ruhig, dann immer energischer. Sie kritzelt einen Satz auf das Flipchart und verteilt Zettelchen. Die Studierenden des sechsten Semesters im Bachelor Sprachliche Integration sind verunsichert, die Stimmung ist angespannt und der Auftrag unklar. Soll man den Namen auf den Zettel notieren oder vielleicht doch den arabischen Satz abschreiben? Sie können es ihr jedenfalls nicht recht machen. Was sie auch versuchen, sie fährt dazwischen und ist nicht zufrieden zu stellen.
Mit «sie» ist Gastdozentin Marianne Herzog gemeint, welche die Studierenden des Bachelor Sprachliche Integration mit ihrem Experiment aus der Komfortzone gebracht hat. Ihr Fachgebiet ist Traumapädagogik. Statt von Traumata spricht sie jedoch lieber vom «sicheren Ort» und fügt hinzu: «Der Ausdruck ‘Traumata’ ist eigentlich tragisch und ist in sich bereits widersprüchlich. In der Traumapädagogik geht es nicht darum, das Problem in den Mittelpunkt zu stellen. Ich nenne es darum die Pädagogik vom sicheren Ort.» Mit der anfangs beschriebenen Inszenierung will Herzog veranschaulichen, wie Menschen in einer Stresssituation reagieren. Dabei zeigt sich, dass jeder Mensch und eben auch die Studierenden im Experiment unterschiedlich mit solchen Extremsituationen umgehen. Die einen fangen an, miteinander zu tuscheln und verlegen zu lachen, andere ziehen es vor, sich hinter dem Bildschirm zu verstecken. Mit dem Wechsel vom Arabischen ins Deutsche markiert Herzog schliesslich das Ende der inszenierten Arabischlektion. Den Studierenden wird klar: In einem solchen Setting unter Druck und Stress lässt es sich nur schwer lernen. Dies ist für ihr zukünftiges Berufsfeld wichtig, zu verstehen.
Traumapädagogik und Resilienz im Migrationsbereich
Marianne Herzog macht Supervisionen, Beratungen und Coachings im Migrationsbereich sowie in verschiedenen Institutionen wie Schulen oder Heimen. Sie ist spezialisiert auf die Themen Traumapädagogik und Resilienz. «Jedes Kind, jeder Mensch braucht einen minimal sicheren Ort, um zu lernen», betont Marianne Herzog während ihres Gastauftritts im Bachelorstudiengang Sprachliche Integration. Für die angehenden Absolvent:innen ist dies im Umgang mit Geflüchteten, die Deutsch lernen, besonders relevant. Was sie mit dem sicheren Ort genau meint, erklärt sie am liebsten mit Gegenständen: Ein Thron, ein Gehirn mit einer Antenne, Bücher, eine Echse, zerfetzte Seiten. Damit veranschaulicht sie hirnorganische Vorgänge unter Belastung. Normalerweise sitzt die Vernunft auf dem Thron. In Notsituationen wird jedoch ein anderer Teil des Gehirns aktiv: die Echse. Sie reagiert schnell, indem sie kämpft, flieht oder erstarrt, aber sie erinnert sich schlecht und kann in diesem Moment nicht gut auf gespeichertes Wissen zugreifen. Die Erinnerungen sind fragmentiert, zerfetzt, ungeordnet. Das geschieht in traumatischen Situationen häufig. Der sichere Ort als Konzept hilft diese Fragmente wieder zusammenzufügen. Gerade auch das Arbeiten an einer Sprache trägt dazu bei, dieses Zusammenfügen zu erleben und zu lernen.
Wirksamkeit in der sprachlichen Integration
So wie Hilflosigkeit und andere negative Gefühle häufig auch auf das Umfeld einer Person übertragen werden, kann auch der sichere Ort an andere weitergegeben werden und so eine positive Wirkung entfalten.
Um das Kennenlernen und Weitergeben dieses sicheren Orts geht es im Bilderbuch «Lily, Ben und Omid». Alle drei Kinder kämpfen auf ihre Art mit ihren Schwierigkeiten im Schulalltag (im Umgang mit anderen Kindern, in Bezug Konzentration oder auf Selbstwirksamkeit) und lernen den Umgang damit. Marianne Herzog hat das Buch verfasst und verwendet es regelmässig in der Therapie, Beratung und Weiterbildung. Sie erzählt den Studierenden, dass das Buch bereits in 17 Sprachen in gedruckter Form erschienen ist.
«Der sichere Ort ist in der sprachlichen Integration absolut zentral. Die sprachliche Integration ist ein wunderbarer Bereich, in dem Menschen Wirksamkeit entdecken und lernen können», bringt es Marianne Herzog auf den Punkt. Die anwesenden Studierenden werden dafür bald die Gelegenheit erhalten. Im Rahmen des Moduls Praxis 5 planen und führen sie ein Integrationsprojekt durch, so etwa in zwei Durchgangszentren der Asylorganisation Zürich (AOZ), bei Interunido in Langental oder beim Sprachmobil in Basel. Die Projekte sind vielseitig und reichen von der Erschliessung neuer Standorte über Freizeitaktivitäten für Unbegleitete minderjährige Asylsuchende (MNAs) bis zu Velofahrkursen für Asylsuchende.
Mehr über Traumapädagogik: Was geht in meinem Kopf ab, Psychoedukation über hirnorganische Vorgänge unter Belastung, Übertragungsphänomene, Buch zum sicheren Ort als Video in verschiedenen Sprachen.
Unterrichtssituationen sollten immer Sicherheit vermitteln und gute Gefühle wecken. Unterrichten bedeutet, die Lernwilligen sicher durch ihren Lernprozess zu begleiten und sich gemeinsam an Entwicklungen zu freuen.