Wien im Shutdown. Der Autor berichtet über eine unklare Kommunikationsstrategie zu Beginn der Coronakrise

Die unklare Kommunikationsstrategie Österreichs

Die erste Zeit der Coronakrise fühlte sich in Österreich ernster an als in der Schweiz. Der freie Texter und IAM-Berufspraxisassistent Lionel Hausheer berichtet, wie er die Entschleunigung im Eiltempo erlebt hat, wie sich ein Wien ohne Wiener angefühlt hat und warum er die Kommunikationsstrategie Österreichs als einen rhetorischen Winkelzug bezeichnen würde.

Von Lionel Hausheer, Berufspraxisassistent am IAM Institut für Angewandte Medienwissenschaft, freier Texter und Philosophie-Student an der Universität Wien

Die sechs Tage Skiurlaub hatten wir schon länger geplant, planen müssen, weil der grössere Teil unserer Gruppe vom anderen Ende Europas anreiste. Auf die Skiwoche im Tirol zu verzichten, hätte geheissen, fünf Monate Vorfreude zu enttäuschen. Wir scherzten, es gäbe, im absoluten Notfall, keinen besseren Ort für eine gepflegte Quarantäne als die Tiroler Berge. Trotzdem: Am dritten Tag mieden wir die Hütten. Am vierten leerten sich die Pisten, am fünften Tag reisten wir verfrüht ab, weil wir Angst hatten, tatsächlich in den Tiroler Bergen zwei Wochen Quarantäne verbringen zu müssen.

Das Virus ist jetzt bei uns

Wir fuhren so schnell es ging über die Landesgrenze nach Salzburg, nur die Google-Maps-Stimme redete. Gesperrte Landesgrenzen, Quarantäne, alles schien möglich. Erst in Salzburg, auf der Autobahn nach Wien tankten wir unser Mietauto. Ich fasste nichts an und desinfizierte mir die Hände. Wieder auf der Autobahn, zwang ich mich, vernünftig zu denken.  Was wird schon sein, vor ein paar Tagen Isolation fürchtete ich mich nicht, dachte ich. Das war der Abend vom 14. März 2020.

Wien im Shutdown. Österreich und die anfangs unklare Kommunikationsstrategie
Kein Mensch weit und breit: Unterwegs in den leeren Strassen Wiens.

Die Sendung «Zeit im Bild» zeigte seit 11 Uhr vormittags durchgehend: Steigende Zahlen, Experten mit Einschätzungen zu wissenschaftlichen Differenzierungen. Der österreichische Gesundheitsminister Rudolf Anschober, ein wacher Mann mit ruhiger Stimme und einer Igel ähnlichen Frisur, war für die Fakten zuständig. Es gab 835 Ansteckungen in Österreich, gestern noch zweihundert weniger und übermorgen, am 16. März 2020, werden es bereits über 1300 sein. «Bitte halten Sie sich an die Massnahmen, wir haben Experten konsultiert, wir tun das Beste, das Virus ist jetzt bei uns.»

Wir könnten gefährlich sein

Der Innenminister Karl Nehammer, James-Bond-Kiefer und die Frisur noch aus seiner Zeit beim Bundesheer, war für die Disziplin zuständig. Sebastian Kurz, der Kanzler, er übernahm das Thema Vertrauen. Mit genormten Gesten und Schwiegersohnblick erklärte er, er werde Österreich auf «Notbetrieb herunterfahren» und das «Team Österreich» müsse jetzt einig sein. Die Sondersendung dauerte zwölf Stunden. Irgendwann zwischendrin bestellten meine Freundin und ich Pizza, für die Moral. Aber wir verpassten nicht eine Minute der Corona-Sondersendung. Ab morgen, Montag dem 16. März wird Österreich für 50 Tage auf Pause gestellt.

Spaziergang durch Wien nach dem Shutdown während Covid-19.
Hauslieferung bevorzugt: Lionel Hausheer vor dem Schaufenster eines Lebensmittelhändlers in Wien.

Die Universität hatte geschlossen, alle Läden, ausser Lebensmittelhändler, mussten ebenfalls schliessen. Ende der ersten Woche hörten wir, dass ein Freund aus dem Skiurlaub krank war. Wir könnten jetzt eine Gefahr sein und verliessen das Haus nur noch, wenn es absolut sein musste. Ich verdiente mein Geld grösstenteils als Texter, es machte für mich keinen Unterschied, wo ich arbeitete. Ich kann gut von überall her schreiben.

Vier gute Gründe und das Team Österreich

Innenminister Nehammer wiederholte in dieser Zeit Mantra-artig: «Es gibt nur drei Gründe das Haus zu verlassen: Systemrelevante Arbeit, einmal die Woche Dinge des täglichen Bedarfs einkaufen und drittens, anderen helfen.» Die Regierung prügelte in Rekordzeit Gesetze durchs Parlament, teilweise ohne Gegenstimmen. Im Treppenhaus hingen Zettel mit Hilfsangeboten für ältere Nachbarn. Social Media wurde von Solidarität durchtränkt. Vielleicht war das jetzt tatsächlich Kurz’ nationalromantisches «Team Österreich.»

Ende der dritten Woche war ich noch immer nicht krank geworden und wollte mein Fahrrad holen, das am anderen Ende Wiens stehen geblieben war. Der Spaziergang fühlte sich verboten an und ich formulierte im Kopf Erklärungen, falls Kurz oder Nehammer mich draussen erwischen würden. Ich brauchte das Rad, weil die U-Bahn bestenfalls sporadisch verkehrte und man den öffentlichen Verkehr nicht benutzen soll, sagten Sie ja selber, die Herrn Anschober und Nehammer. Ich ging über die Mariahilferstrasse, eine grosse Einkaufsstrasse, die so leer war, dass ich mir sicher war, meine Schritte müssten wie in einer Kirche hallen. Georg Kreisler singt, Wien ohne Wiener, dann wäre es richtig schön hier. Aber Wien ohne Wiener ist trotz Frühlingssonne traurig.

«Es sind die Fakten, die mir Angst machen!»

Auf dem Weg rufe ich meine Eltern in der Schweiz an und sage ihnen, sie sollen nicht mehr aus dem Haus gehen. Sie würden schon aufpassen, sagen sie. «Nein, ernsthaft, das ist gefährlich!» Man sieht es ja in den Nachrichten, die Schweizer, die verstehen das nicht richtig, die nehmen das nicht ernst, da steigen die Zahlen, Leute sterben, ein Corona-Drittwelt-Land. «Werde nicht panisch», sagte meine Mutter. «Ich bin nicht panisch! Es sind Fakten, die mir Angst machen!», sagte ich wütend. Seit vier Wochen war ich zuhause, ganz Wien blieb zuhause und die Zahlen sind noch immer jeden Abend gestiegen, wenn auch zuletzt nur noch schwach. Es war der dritte April und wir hatten an dem Tag den Höchststand erreicht, aber das konnte ich nicht wissen.

April und Mai waren Routine. Kurz, Anschober und Nehammer erlaubten nun Spazieren mit Leuten aus dem gleichen Haushalt. Ein Pärchen erzählte aus zwei Meter Abstand, dass Bussen verteilt werden, sicher so 500 Euro. Wir nickten, erst gestern sahen wir, wie Polizisten einen Mann mit Kaffee auf einer Parkbank umkreisten, das musste sowas gewesen sein. Tja, so sind gerade die Regeln, vier Gründe, man weiss es.

So normal wie möglich

Ostern war österreichweit abgesagt, Geburtstage feierten wir per Videocall, Zuprosten und Glückwünschen ging gut, Umarmen und Kerzenausblasen nicht. Die Tutorien für mein Philosophie-Studium fanden per Zoom-Call statt, sie waren chaotisch, das Tool wechselte mit jedem Versuch. Irgendwann gab ich frustriert auf, und fühlte mich noch ein wenig mehr isoliert. Manchmal fühlte sich das an, wie ein langer fauler Tag am Strand.

Ab der zweiten Maiwoche war ein Ende in Sicht. Als Erstes gingen die Baumärkte wieder auf, dann kleine Läden, grössere Läden. Der Verkehr nahm wieder zu, die U-Bahn fuhr im gewohnten Takt. Am 15. Mai 2020 sperrten die Lokale wieder auf, nach 50 Tagen Notbetrieb wurde es wieder so normal wie möglich, bloss mit mehr Masken und etwas saubereren Oberflächen.

Vier wackelige Gründe und eine gelungene Kommunikationsstrategie

Am 10. Juni entschied das Wiener Verwaltungsgericht, dass man jederzeit das Haus hätte verlassen dürfen. Die vier Gründe sind also, so wie sie kommuniziert wurden, nie Gesetz gewesen. Strafen in der Höhe von 500 oder 600 Euro müssten in diesem Zusammenhang nicht bezahlt werden, schreibt das Gericht im Urteil. In der Zeitung «Der Kurier» schreibt ein Verfassungsjurist, die Corona-Verordnungen seien so verunglückt gewesen, dass eigentlich weder Polizei noch Bürger hätten wissen können, was rechtens sei. Die Tageszeitung «Der Standard» berichtete von einem Sitzungsprotokoll, in dem Sebastian Kurz davon redet, die Angst der Bevölkerung, nahe Verwandte zu verlieren, könne man als Strategie in der Krisenkommunikation verwenden. Bei mir hat es gewirkt.


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