Neue Führungsmodelle brauchen den Einsatz des ganzen Teams

Immer lauter wird der Ruf nach neuen Führungsmodellen. Doch alte Hierarchien aufzulösen und neue Modelle umzusetzen, ist für viele Unternehmen einfacher gesagt als getan. Was es dazu braucht und wie es mit vereinten Kräften gelingen kann, zeigt Christoph Negri an einem Beispiel aus unseren eigenen Teams am IAP.

Text: Christoph Negri, Leiter IAP Institut für Angewandte Psychologie
Titelbild: skeeze auf Pixabay

Auf die Frage, was gute Führung ausmacht, gibt es keine einfache und vor allem keine eindeutige Antwort. Schliesslich ist jede Führungsperson und jede Führungssituation einzigartig und damit anders. Die Bedürfnisse jüngerer Generationen stellen neue zusätzliche Anforderungen an die moderne Führung. Diesen Umstand erleben auch wir am IAP Institut für Angewandte Psychologie bereits seit einiger Zeit, teils in der Entwicklung unserer sehr unterschiedlichen Geschäftsfelder, teils in der Zusammenarbeit mit unseren Kunden aus allen Sektoren des Arbeitsmarktes.

Am IAP setzen wir uns intensiv mit der Bedeutung und den unterschiedlichen Modellen von Führung auseinander. In den fünf Fachzentren unseres Instituts werden viele Führungsmodelle gelebt: Neben «klassischen» Führungsstrukturen haben sich schon vor einiger Zeit erste Formen von «Shared Leadership» in einem Zentrum etabliert und werden laufend angepasst. In zwei Zentren werden Co-Führungsansätze gelebt und neu verfolgt das Zentrum für Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung seit dem 1. September 2019 die Führung nach einem soziokratischen Ansatz.

Die Transformation von einem klassischen Team mit klassischer Führung zu einem Team, das sich im Verständnis der Gleichwertigkeit selbst führt, birgt einige Tücken. Deshalb sind sowohl der Prozess als auch die Prozessbegleitung von entscheidender Wichtigkeit. In den folgenden Ausführungen beleuchte ich den gemeinsam gestalteten Prozess von der Idee zur Umsetzung und zeige erste Learnings auf.

Ein Zahnrad bewegt das ganze System

Jede kleinste Veränderung in der Teamstruktur zieht die Anpassung des ganzen Systems nach sich. Technisch ausgedrückt: Wenn sich das kleinste Zahnrad dreht, ist das ein Impuls im System; bei einer sauberen Verzahnung drehen sich dann alle verbundenen Räder mit. So ein Impuls war die persönliche Veränderung unseres Leiters im Zentrum für Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung, Marc Schreiber. Er hatte sich Ende 2018 entschieden, seine Rolle als Zentrumsleiter abzugeben und sich in Zukunft vor allem auf inhaltliche Aufgaben und fachliche Entwicklungen zu fokussieren. Es war uns sofort klar, dass dies für die Teammitglieder genauso eine Zeit der Unsicherheit, wie auch der grossen Chancen werden würde. Zusammen mit Marc Schreibers Stellvertreterin besprachen wir deshalb in einem ersten Schritt die gesamte Spannweite von Führungsmodellen – von einem eher klassischen Modell, bis hin zu holokratischen Ansätzen. Unser Ziel war es, nicht nur die nächstbeste Lösung zu finden, sondern eine für das Zentrum passende und auch zukunftsweisende Form der Zusammenarbeit zu entwickeln.

Immer öfter erleben wir bei unseren Einzel- und Unternehmenskunden, dass neuere Führungsmodelle wirkungsvoller sind, um die aktuellen und komplexen Herausforderungen meistern zu können. Auch bei unseren eigenen internen Entwicklungen, wo die Verantwortungen bewusst stärker und breiter in den Teams verteilt werden, sehen wir, dass agile Arbeitsformen und agile Methoden immer häufiger zum Einsatz kommen. Schliesslich kamen wir auch im betreffenden Zentrum zur Einsicht, dass die Zeit für die Einführung eines demokratischen Modells im Sinne von Soziokratie oder Holokratie stimmig war. Gerade im Bereich der Laufbahngestaltung werden Beraterinnen und Berater vermehrt mit neueren Führungsmodellen und individuellen Karrierepfaden konfrontiert. Es waren daher sowohl interne wie auch externe, marktgetriebene Gründe, die dafür sprachen, ein neues Führungsmodell einzuführen und das Team neu aufzustellen.

Der Weg ist das Ziel

Der Startschuss für den Transformationsprozess fiel Anfang Januar 2019. Kommunikation, Respekt und Offenheit waren uns dabei von Anfang an wichtig. Daher informierten Marc Schreiber als Zentrumsleiter und ich als Leiter des Instituts das betreffende Team und auch die Mitarbeitenden des gesamten Instituts über das Vorhaben und die Entscheidung. Gleichzeitig wurde auch schon ein möglicher Prozess skizziert. Für die Kolleginnen und Kollegen des betreffenden Zentrums sowie für die IAP-Führungscrew war es zunächst eine grosse Überraschung. Die Entscheidung wurde jedoch grundsätzlich positiv und mit viel Neugierde aufgenommen; oder anders gesagt, mit einer neugierigen, offenen, teils auch kritischen, aber im Grundsatz positiven Grundhaltung.

Von Beginn an war klar, dass wir den gesamten Entwicklungsprozess gemeinsam – also unter Einbezug aller Zentrumsmitarbeitenden – gestalten und für den Prozess genügend Zeit einplanen wollten. Es war auch klar, dass der Prozess von einer externen Fachpersonbegleitet werden musste. Für diese anspruchsvolle Aufgabe haben wir mit einer Organisationsberaterin zusammen gearbeitet, die den ganzen Prozess fachlich, methodisch und als Sparringpartnerin begleitete. Das Ziel des Teams war die Umsetzung einer neuen Führungsstruktur ab dem 1. September 2019. Wie diese neue Struktur aussehen würde, wusste zu diesem Zeitpunkt aber noch keiner von uns.

Aufbruch im Team

In den neun Monaten, die uns für den Prozess blieben, führten wir insgesamt acht Workshops durch, bei denen jeweils alle Teammitglieder dabei waren. Schon in dieser Planungsphase zeigt sich, ob ein Wandel von allen Mitarbeitenden unterstützt oder von einzelnen still boykottiert wird. Bei uns herrschte eine klare Aufbruchsstimmung, eine spürbare Mischung aus Unsicherheit, Neugier und Inspiration. Nach jedem der acht Workshops fand ein intensiver Austausch und eine kritische Reflexion zwischen mir als Hauptveranwortlichem des Prozesses und unserer externen Beraterin statt. Denn so viel kann ich verraten: Selbst für unsere Expertinnen und Experten aus der Berufs,- Studien- und Laufbahnberatung war die eigene Neuorientierung und die damit verbundene innere Reise eine Herausforderung.

Auch zwischen den Workshops wurde an der Transformation gearbeitet. Die Teams übernahmen die Nach- und Vorbereitung der Workshops, arbeiteten Vorschläge aus und diskutierten sie gemeinsam durch. Aus meiner Sicht wurde der gesamte Prozess durch das grosse Engagement aller involvierten Personen und die positive Grundhaltung gemeinsam, effizient und zielführend gestaltet. Sogar bestehende Unsicherheiten, Widerstände, Konfusionen sowie unterschiedliche Bedürfnisse bei der Vorgehensweise konnten offen eingebracht und besprochen werden. Neben diesem allgemeinen Vorgehen wurden die Workshops und die Arbeiten in den Teilgruppen durch Einzelgespräche ergänzt, bei denen Unklarheiten, Fragen oder kritische Feedbacks Raum bekamen.

Bewusst aus der Komfortzone

Wer sich entwickeln und weiterkommen möchte, muss Neues wagen. Anders ausgedrückt: Man muss aus der Komfortzone raus. Das ist immer anstrengend, manchmal auch frustrierend, doch wenn man Motivation mit Kreativität verbindet, kommen Lernwillen und Lernlust zusammen. Dadurch lernt man einfacher und schneller. Und entsprechend bunt wurden auch unsere Workshops:

Gemeinsam steckten wir das Ziel fest, bestimmten den Weg dorthin und erarbeiteten ein gemeinsames Verständnis für den Prozess.

Je eigenständiger ein Team handeln soll, desto klarer müssen die Rollen und deren Geltungsbereiche sein. Für jede neue Rolle legten wir deshalb nicht nur die Person, sondern auch die Verantwortlichkeiten und Grenzen fest. Auch zwischen den Workshops müssen die anstehenden nächsten Schritte immer klar sein. Dabei «Checks» zu machen, hilft nicht nur der Einhaltung, sondern fördert die Motivation und das Erfolgserlebnis.

Die wichtigsten Verantwortungen im Prozess

Eine klare Rollenteilung und eine konstante externe Begleitung sind für das Gelingen einer solchen Transformation zwingend notwendig. Sie geben dem Team sowohl bei der inhaltlichen wie auch bei der Prozessgestaltung die notwendige Sicherheit. In unserem Fall sah die Aufteilung der Verantwortungen zwischen mir, als Leiter des Prozesses, und unserer externen Beraterin, wie folgt aus:

Persönlich finde ich es sehr hilfreich, wenn die Begleitung eines Veränderungsprozesses sowohl durch eine interne wie auch durch eine externe Person wahrgenommen wird. Die Ausfüllung der Rollen jedoch kann unterschiedlich sein. Besonderen Wert sollte die interne Person darauf legen, für notwendige Gespräche zwischen den gemeinsam festgelegten Fixpunkten zur Verfügung zu stehen. Zudem muss sie dafür sorgen, dass die Anbindung an die Gesamtorganisation, die ja in unserem Fall an der ZHAW weiterhin sehr klassisch aufgebaut ist, sichergestellt wird. Die methodische und auch inhaltliche Prozessgestaltung sollte durch die externe Person wahrgenommen werden. Dazu braucht es entsprechende Expertise und Erfahrung in der Steuerung und Begleitung solcher Veränderungsprozesse. Und natürlich müssen sich beide Begleiter in einem solchen Prozess auf einen intensiven Austausch zwischen den einzelnen Aktivitäten einstellen. Das Ergebnis zeigt sich schon in der Visualisierung der alten und der neuen Struktur.

Die frühere Struktur des Zentrums für Berufs- Studien- und Laufbahnberatung am IAP


Die neue Struktur des Zentrums für Berufs- Studien- und Laufbahnberatung am IAP

Das Rüstzeug für die grosse Reise

Da auch wir am IAP noch aus der traditionellen Führungs- und Organisationskultur heraus agieren, ist eine Umstellung ein langandauernder Prozess. Mitarbeitende müssen zuerst lernen in diesen neuen Organisationsformen erfolgreich zu handeln. Auch die agilen Prinzipien und Arbeitsmethoden, auf denen die neuen Strukturen aufbauen, müssen erst verstanden und gelernt werden. Für diese «Prozesse innerhalb des Prozesses» braucht es Zeit, Offenheit und vor allem Vertrauen.

Am Zentrum für Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung haben wir die folgenden Learnings mitnehmen können:

  • Es ist wichtig, dass alle involvierten Personen während dem gesamten Prozess aktiv beteiligt sind, auch wenn das für Einzelne manchmal schwierig ist.
  • Es wird ein Kulturwandel angestossen, und alle müssen schrittweise hineinwachsen und sich umgewöhnen. Das neue Mindset ist nicht einfach plötzlich da. Neue Kompetenzen müssen entwickelt, die Komfortzone langsam erweitert werden.
  • Alle sind in diesem Prozess stark gefordert. Jeder nimmt den Prozess unterschiedlich wahr, die Bedürfnisse sind unterschiedlich, z.B. in welchem Tempo und in welcher Tiefe der Entwicklungsprozess gestaltet werden soll. Dafür braucht es immer wieder Klärung und Abstimmung untereinander.
  • Unser Transformations-Prozess wurde durch eine insgesamt sehr positive, offene und auch konstruktive und neugierige Stimmung getragen. Es gibt aber immer auch kritische und skeptische Stimmen, die abgeholt und eingebunden werden müssen.
  • Es besteht eine grosse Lernbereitschaft und Reflexionsfähigkeit. Das sind wertvolle und hilfreiche Kompetenzen, auf denen wir aufbauen konnten.
  • Der Lernprozess geht weiter und ist nie abgeschlossen. Er sollte aktiv gestaltet werden, indem bewusst zwischendurch auch die Metaebene betrachtet wird.
  • Widerstände und Konflikte gehören dazu: Sie sollten aufgenommen und besprochen werden.
  • Eine Transformation betrifft auch die Gesamtorganisation und wird von dieser mit grossem Interesse und viel Neugierde beobachtet und verfolgt. Es ist neu, und das macht «gwundrig».
  • Die Anbindung an die Gesamtorganisation ist wichtig und muss bewusst vorgenommen werden. Wir befinden uns häufig in hybriden Organisationsformen. Auch am IAP und an der ZHAW. Ich denke, dass dies in Zukunft noch viel häufiger der Fall sein wird.
  • Es ist wichtig, dass vor dem Start ein erstes Überprüfdatum festgelegt wird. In der Regel erfolgt diese erste Prüfung nach 9-12 Monaten. Bis dahin können Erfahrungen gesammelt, Learnings dokumentiert und Vertrauen in die neue Form aufgebaut werden.

Diese Liste unserer eigenen Learnings ist selbstverständlich nicht abschliessend. Wie zu Beginn erwähnt, ist jede Situation anders und der Prozess braucht Zeit. Jedes Team ist einzigartig. Daher gibt es auch keine formelle Checkliste für eine solche Veränderung. Wichtig für den Erfolg des Prozesses ist, dass die Führung sich der 8 agilen Werte nach Nowotny bewusst ist: Commitment, Einfachheit, Feedback, Fokus, Kommunikation, Mut, Offenheit und Respekt. Mit diesen Werten und Grundhaltungen im Gepäck und mit einem Team, das motiviert und kreativ mitarbeitet, kann der Aufbruch zu neuen Ufern gelingen.

Christoph Negri leitet das IAP Institut für Angewandte Psychologie. Er arbeitet als Dozent, hat Beratungsmandate für Profit- und Non-Profit-Organisationen und berät diverse Schweizer Spitzensportlerinnen und Spitzensportler. Seit 2015 setzt er sich für neue Entwicklungen im Bereich Lernen und Lehren ein. Am IAP treibt er den digitalen Wandel in Weiterbildung und Dienstleistung voran und führt agile Organisations- und Arbeitsformen sowie agile Methoden ein.

Weiterführende Literatur
Negri, C. (2019). Hrsg. Führen in der Arbeitswelt 4.0. Heidelberg: Springer-Verlag.
Nowotny, V. (2016). Agile Unternehmen: nur was sich bewegt, kann sich verbessern. Göttingen: Business Village.
Christoph Negri, Führung 4.0 – Von alten Werten und neuen Grundhaltungen: ZHAW Blog “Psychologie im Alltag nutzen”


4 Kommentare

  • Was für ein wunderbarer Erfahrungsbericht – vielen Dank!

    Persönlich sehe ich in neuen Organisationsmodellen die grosse Chance, Mitarbeitende emotional stärker in die Institution einzubinden: Die Mitglieder eines – wie beschrieben – gefestigten und zusammengewachsenen Teams betrachten sich nicht mehr einfach als «Söldner», die für ein anderweitiges, attraktives Angebot leicht den Arbeitgeber wechseln.

    Organisationen und Strukturen sind aber letztlich immer auch Mittel zum Zweck, den Nutzen für die Kunden*innen zu garantieren und zu stärken. Wie beschrieben wird das sicher auch am IAP der Fall sein. Ich freue mich schon jetzt auf den Erfahrungsbericht – in etwa einem Jahr!

    Bonne Chance!
    Werner Inderbitzin (ehemals ZHAW)

  • Vielen Dank für diesen Erfahrungsbericht.

    Anschliessend an den Kommentar von Werner Inderbitzin:
    Wenn Mitarbeiter*innen gleichzeitig sowohl
    Mittel zum Zweck der Kund*innen-Nutzen-Sicherstellung
    als auch
    nicht einfach Söldner*innen sind und ihre eigenen (berechtigten) Anliegen und Sichtweisen haben
    dann
    wäre es interessant, mehr auch über die Entwicklung dieser ‘inneren’ Sicht zu erfahren.

    Freue mich, mehr über den gesamten Prozess zu erfahren.

  • Vielen Dank für die Feedbacks. Wir sind mitten drin am Sammeln von ersten Erfahrungen und es ist wichtig immer wieder kritisch drauf zu schauen. Wir werden weiterhin darüber berichten. Ein nächster Beitrag von zwei Kolleginnen aus dem Steuerungsgremium wird im ersten Quartal vom neuen Jahr erscheinen und wir freuen uns auf weitere Rückmeldungen und Anregungen.

  • Vielen Dank für das Teilen eurer Learnings, Christoph.

    Mich würde für einen nächsten Bericht interessieren, wie sich Holokratie und eine herkömmliche hierarchische Organisation miteinander vertragen. Vor allem wie sich die hybride Organisationsform in der Zukunft weiterentwickelt.

    Beste Grüsse und einen guten Rutsch.
    Kevin


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