Geschwindelt – gemogelt – geschummelt – geflunkert…. Die Unterscheidung dieser Kategorien der Verschönerung von Realität fällt nicht leicht, und doch scheint es sie zu geben. Untersuchungen zeigen, dass jeder von uns mehrere Male pro Tag lügt. Gleichzeitig lehren wir unsere Kinder, nicht zu lügen und machen Ehrlichkeit zu einem wichtigen Wert in unserer Gesellschaft. Was also motiviert Menschen, die Wahrheit nach ihren Bedürfnissen zu verbiegen? Und wo ist die Grenze?
Von Maja Goedertier, Beraterin am IAP Institut für Angewandte Psychologie
Lügen haben Tradition
Die Grenze zwischen Lüge und Irrtum war historisch betrachtet schon immer fliessend. Die christliche Kultur lehrt uns, dass lügen schlecht ist. Andere Kulturen gewichten verschiedene Werte anders. So wissen wir heute, dass Höflichkeit in manchen Kulturen einen höheren Stellenwert hat als blosse Ehrlichkeit. Das Gesicht zu wahren, einem anderen Menschen nicht unnötig wehzutun, solche Züge finden sich in asiatischen Ländern ebenso explizit wie im europäischen Kulturraum. So wird die Wahrheit in allen Gesellschaften auf unterschiedliche Art gebogen: durch Höflichkeitslügen, Notlügen, Heuchelei oder Scherzlügen. Deren Akzeptanz ist aber unterschiedlich. Nicht selten wird die Motivation zur Lüge als Hauptkriterium herbeigezogen, um eine Lüge zu beurteilen. Ebenso können Lügen ein Unvermögen zum Ausdruck bringen, mit gewissen Gegebenheiten umzugehen. Wir sind also mit einem Phänomen konfrontiert, welches wir in irgendeiner Form in unsere Interaktionskultur integrieren müssen.
Jeder möchte gut dastehen
Was Lügen sind, wissen wir alle – selbst, wenn wir sie nicht immer erkennen. Von klein an erlernen wir kultureigene Normen und Werte. Die Moral – definiert als die Gesamtheit dieser Normen, Grundsätze und Werte – reguliert das zwischenmenschliche Verhalten in einer Gesellschaft. Dementsprechend definiert eine Gesellschaft durch Konvention, welche Grundsätze von ihr als verbindlich akzeptiert werden und welche nicht. Gleichzeitig lehrt uns die Gesellschaft, welche Verhaltensweise im sozialen Umfeld zu Anerkennung verhilft, und welche uns auschliesst. Dabei zeigt das unmittelbare soziale Umfeld an, wann es einem Menschen Vorteile verschafft, die definierte Moral ernst zu nehmen und wann nicht. Uns allen ist der persönliche Eindruck auf andere wichtig. So ist es im Bereich der Selbstdarstellung (Impressionmanagement) relevant, zu wessen Wohl gelogen wird und wem die Lüge dient. Ob ich mir nun Ärger ersparen, das Leben erleichtern oder einfach geliebt werden will – in der Regel geht es darum, besser dazustehen. So werden auch in Coachings oder Therapien Techniken und Methoden angewandt, um leidvolle Situationen erträglicher zu gestalten. Dabei führt der Weg nicht selten darüber, Enttäuschungen oder Selbsttäuschungen aufzudecken und den Grad der Realitätsanpassung neu zu definieren.
Lügen in der Selbstpräsentation
Um unser Aussenbild zu optimieren, nutzen wir täglich verschiedene Werkzeuge. Seien es Filter für die Selbstdarstellung in den digitalen Medien oder Schminke und Kleider für den persönlichen Auftritt. Auch für die Optimierung unserer Karriere sind wir demnach zu Täuschungen bereit. Schliesslich verlangen Arbeitgeber mehrheitlich hochmotivierte, leistungsorientierte Mitarbeitende. Es geht also darum, insbesondere in einer Interviewsituation zu überzeugen und in der Stellenfindung zu reüssieren. In diesem Fall unterliegt die Selbstpräsentation per se einem individuellen Nutzen, den es durch verbale und nonverbale Kommunikation zu transportieren gilt. Die Kommunikation dient demnach der Wahrheit genauso wie der Lüge, wobei zu beachten bleibt, dass nicht jede Lüge schädlich ist. Taktvolles Schweigen und höfliches Lächeln, gehören in der Arbeitswelt unweigerlich dazu, um sich nicht selbst zu schaden. In Bewerbungsunterlagen zum Beispiel, kommen Auslassungen vor, Dokumente werden geschönt und das Foto möglichst vorteilhaft aufgenommen, um das Eigenbild optimaler auf unausgesprochene Erwartungen abzustimmen. Bedeutet dies, dass wir uns auch in unserer Arbeitskultur ständig an der Grenze der Ehrlichkeit bewegen?
Unwahrheiten im Interview
Es muss wohl auch ein gemeinsamer Nutzen durch gesellschaftliche Konventionen definiert und geltend gemacht werden. In der Regel manifestiert er sich durch die Werte der Organisationskultur. Bewerberinnen und Bewerber sind somit gefordert, die Werte eines zukünftigen Arbeitgebers zu erkennen und in der späteren Zusammenarbeit auch zu leben. Im ökonomischen Kontext, wo jedoch Vorteilsstreben jeder Art vorkommt, gilt es, das Kleingedruckte – sprich Kulturaspekte – genau zu kennen. Mit rückhaltloser Offenheit kann in diesen Situationen wohl kaum gerechnet werden. Der Grad der Offenheit in der Interaktion muss jedoch ausgelotet werden. Und zwar gegenseitig. Das Herunterspielen von Schwierigkeiten oder Konflikten in einer Organisation gehört dabei ebenso dazu, wie die Bereicherungsinteressen oder Machtansprüche eines Bewerbers. Die effekthascherische Aufbereitung von grösseren und kleineren (Un)Wahrheiten hat demnach in der Rekrutierungsphase einen werberischen und damit auch manipulativen Charakter. Es sind strategische Täuschungen mit Kalkül, die wechselseitig unter kritische Aufsicht gestellt werden müssen. In diesem Zusammenhang sind Lügen ein Sprachverhalten, das einen bestimmten Zweck verfolgt. Wie jede andere Beziehung, setzt auch eine erfolgreiche Arbeitsbeziehung Vertrauen voraus. Das hingegen wird grundsätzlich von Lügen bedroht. Für das Gelingen einer Kooperation gilt es also für die Betroffenen, herauszufinden, welches Verhalten geschätzt wird (Verpflichtung ist) und welches nicht zu missachten (wichtig) ist. Das Mass an Wahrheit bestimmt die Authentizität, mit der dieser gemeinsame Prozess gelebt wird.
Ein Bewerbungsprozess ähnelt demnach einem Shakespearschen Bühnenstück von Täuschung und Wahrheit. Damit wir in diesem Stück Regie führen können, sind wir als Interviewer gefordert nicht nur Licht zu werfen, sondern ebenso ins Dunkle zu sehen und den dramaturgischen Zweck von Verhalten zu erkennen. Die Erfahrung zeigt, dass 100-prozentige Ehrlichkeit ein Mythos ist und bleibt. Es wird zwischen Interaktionspartnern immer Lügen und Geheimnisse geben. Doch nicht jedes Geheimnis erfordert eine Rechtfertigung. Erst wenn die Gefahr der strategischen Täuschung besteht, sollten wir diese aufdecken, damit der mögliche Schaden für die zukünftige Zusammenarbeit begrenzt werden kann.
Maja Goedertier, ist Psychologin und Beraterin am IAP Institut für Angewandte Psychologie im Bereich der Managementdiagnostik und Sicherheitspsychologie. Sie studierte Arbeits- und Organisationspsychologie und arbeitet seither als beratende Psychologin für Unternehmen in den Bereichen Assessment, Potenzialabklärung, Standortbestimmung, Neuorientierung und Coaching von Personen in Veränderungsprozessen. Ihr Arbeitsschwerpunkt am IAP ist die psychologische Eignungsdiagnostik von Führungspersonen sowie Personen in sicherheits-sensiblen beruflichen Kontexten.