Das Arbeiten in der Arbeitswelt 4.0 wird immer agiler. Kundenbedürfnisse werden genau beobachtet, Änderungen werden kleinzyklisch vorgenommen, Ziele immer schneller angepasst. Ist es da nicht ein Anachronismus, Leistung im Abstand von einem Jahr zu besprechen und bewerten?
Von Birgit Werkmann-Karcher, Dozentin und Beraterin am IAP Institut für Angewandte Psychologie
Erinnern Sie sich an Ihr letztes Jahresgespräch? Wenn ja, haben Sie darin mit hoher Wahrscheinlichkeit erfahren, ob Sie Ihre Ziele erreicht und die Erwartungen erfüllt haben – vollständig, knapp, überdurchschnittlich usw. Sie arbeiten wahrscheinlich in einem Unternehmen, das (noch) eine Leistungsbeurteilung durchführt und diese Leistung mit einem Gesamt-Rating bewertet, das gerne als «Note» bezeichnet und in einem Ampelsystem kodiert wird. Vermutlich haben Sie eine gute «Note» erhalten, im unauffälligen grünen Bereich. Möglicherweise haben Sie sich dann überlegt, ob Ihre Chefin oder Ihr Chef überhaupt differenzierte Bewertungen erstellt oder ob sie oder er einfach taktisch vorgeht und alle Kollegen gleich bewertet, um den Frieden im Team und die Harmonie in der Arbeitsbeziehung aufrechtzuerhalten. Vielleicht haben Sie vor diesem Gespräch auch gedacht – wie 60 Prozent der Befragten einer Accenture Umfrage zum Performance Management –, dass die Existenz einer solchen Note doch zu einem negativen Erlebnis führen muss, wenn man nicht gerade zu den Topleistern zählt, die ohnehin schon eine Aura des Erfolgs umgibt. Und vielleicht teilen Sie auch die Meinung jener zwei Drittel, die laut der genannten Befragung nicht daran glauben, dass ihr System der Leistungsbeurteilung eine Basis für faire Gehalts- und Beförderungsentscheidungen liefert. Und dafür so ein Aufwand – lohnt sich das?
Ziele der Leistungsbeurteilung
Die Liste der bereits aufgezählten Argumente gegen die Leistungsbeurteilung als Kernelement der betrieblichen Leistungssteuerung (Performance Management) könnte man problemlos fortsetzen. Seit sich die Arbeitswelt in weiten Bereichen so spürbar verändert hat, wird immer stärker hinterfragt, ob die bisherige Praxis tatsächlich beiträgt zu
- Motivation, Engagement und Bindung,
- Lernen und Entwicklung,
- dem Erstellen objektiver Grundlagen für Personalentscheidungen (Beförderung, Kündigung) und für Honorierungsentscheidungen,
- der wirksamen Ausrichtung individueller Leistungsbeiträge zur organisationalen Zielerreichung.
Nun ist also die Praxis der Leistungsbeurteilung auf die Agenda der HR-Prozesse geraten, die nicht mehr so richtig in die Taktung der Arbeitswelt 4.0 passen wollen. Zunächst waren es Softwarefirmen (wie Adobe, Microsoft, IBM), dann die Unternehmensberatungen (wie Accenture, Deloitte, PWC), die verkündeten, dass sie Änderungen am Performance Management vornehmen würden. Inzwischen sehen wir auch bei schweizerischen Firmen und Institutionen aus anderen Branchen wie der Zürcher Kantonalbank (ZKB) oder dem Kinderspital Zürich Anpassungen im Performance Management System.
Veränderungen im Performance Management
Die Stossrichtung der Veränderungen betrifft häufigere und kürzere Mitarbeitergespräche anstelle des einen grossen Jahresgesprächs. Diese kürzeren Gespräche sind in schnelllebigen Arbeitskontexten besser an reale Arbeitszyklen angebunden und fokussieren auf Reflexion von Ergebnissen mit Fragen wie «Was läuft gut, was funktioniert nicht? Was könnte man anders machen?».
Innerhalb dieser Mitarbeitergespräche liegt ein stärkerer Fokus auf der Zukunft als auf der Bilanzierung der Vergangenheit. Entwicklung, Lernen und Beteiligung der Mitarbeitenden werden gefördert, zum Beispiel durch Festlegen der Gesprächsthemen und der Planung der eigenen Kompetenzentwicklung. Darin sind Empowerment, Augenhöhe, Selbststeuerung als Grundwerte der agilen Arbeitswelt erkennbar.
Führungskräfte haben zudem in solchen regelmässigen Gesprächen eine stärkere Coachingrolle. Sie helfen, die Zielrichtung zu justieren und die bestmöglichen Wege zur Zielerreichung zu finden.
Ausserdem findet nun in manchen Organisationen ein Verzicht auf Leistungsbewertung und Ratings oder die Entwicklung alternativer Wege statt. Während manche Firmen wie zum Beispiel die ZKB die Leistungsbewertung abgeschafft haben, existieren sie an anderen Orten in veränderter Form weiter und prägen das Jahresgespräch oder auch den Weg zur Jahresbilanz auf neue Weise: Im Kinderspital Zürich setzt man Bildkarten für die Vorauswahl von Gesprächsschwerpunkten und das Feedback an die Mitarbeitenden ein und setzt damit auf spielerische Elemente als Gesprächsgrundlage. Eine Gesamtbeurteilung existiert dort in verkürzter, prägnanter Form weiterhin. Accenture befragt Mitarbeitende und Vorgesetzte nach Abschluss von Projekten, wobei Vorgesetzte zu Leistungshonorierung, Teamfähigkeit, Beförderungsreife und Leistungsproblemen befragt werden. Es gibt aber auch Firmen, in denen Jahreszielsetzungen zum Teil aufgegeben werden, um auf schnelle Veränderungen durch adjustierte Zielsetzungen reagieren zu können.
Weiter werden als Folge der Digitalisierung zunehmend häufiger Softwarelösungen für das Performance Management eingesetzt. Sie reduzieren den Bürokratieaufwand und stellen einen kontinuierlich verfügbaren Feedbackkanal für virtuelle Führung dar.
Marcus Buckingham und Ashley Goodall berichten in «Reinventing Performance Management» übrigens von grosser Erleichterung angesichts der Lockerung bislang starrer Prozesse, aber auch vom Bedürfnis einer grossen Anzahl an Mitarbeitenden und Vorgesetzten, weiterhin Gesamtbewertungen (Ratings) zu erhalten.
Fokus: Fairness herstellen, Lernen durch Feedback
Wir werden vermutlich noch verschiedene Wellen der Systemumgestaltung erleben, die von Abschaffungen der Beurteilungen und Ratings bis hin zu einer Anpassung der Gesprächsführung und Verschlankung der bürokratischen Prozesse reichen dürfte.
Aufgrund bisheriger Forschung zur Leistungsbeurteilung erscheinen zwei Hinweise für zukünftige Systemgestaltungen besonders relevant zu sein:
Fairness: Es gibt keine objektiven Leistungsurteile, sobald man mit Jobs zu tun hat, deren Beitrag nicht klar messbar ist. Während Stückzahlen in der Produktion noch eine objektive Grösse darstellen, die unabhängig vom Beurteiler mit immer gleichem Ergebnis festgestellt werden kann, gilt dies für die Ergebnisse von hochqualifizierter Arbeit kaum. Je stärker wir in den Bereich ergebnisorientierter Wissensarbeit vordringen, desto schwieriger wird das Generieren eines objektiven, vom Beurteiler unabhängigen Urteils. Abweichungen von Objektivität liegen in verschiedenen Urteilsfehlerquellen begründet und sind nicht eliminierbar. Man sollte also nicht vorgeben, dass man objektiv urteilen kann. Sollte man deshalb gar nicht mehr urteilen? Doch, denn es bleiben immer Entscheidungen über die Verteilung von Beförderung, Karrierechancen und Gehalt zu treffen. Deren Basis wird auch weiterhin ein Urteil sein. Das Ersatz-Qualitätskriterium für solche Urteile, die nicht objektiv sein können, ist in alten wie in neuen Ausgestaltungen die erlebte Fairness einer Verteilungsentscheidung. Wir wissen seit einiger Zeit, dass die empfundene Gerechtigkeit bei Verteilungsentscheidungen, zum Beispiel bei Ergebnis, Vorgehen und zwischenmenschlichen Interaktionen im Prozess, bedeutsam sind für Arbeitszufriedenheit und Committment. Wird Ungerechtigkeit erlebt, folgen laut Greenberg oft Rückzug bis hin zu destruktiven Ausgleichsaktionen – nichts von all dem, was man mit einer neuen Art der Leistungssteuerung erreichen möchte. Nach Cropanzano, Bowen und Gilliland wird Fairness in einer Beurteilung dann erlebt, wenn
- die Kriterien und Leistungsstandards frühzeitig offengelegt werden,
- ausserhalb der Jahresgespräche Leistungsfeedbacks vermittelt werden,
- sich das Feedback auf zulässige Evidenz bezieht, d.h. auf Arbeitsleistung,
- Mitarbeiterpartizipation durch das Darlegen der eigenen Sichtweise ermöglicht wird,
- das Urteil evidenzbasiert ist, d.h. wenn man auf der Basis gesammelter Daten und genauer Standards zu Entscheidungen kommt und diese frei von mikropolitischen Taktiken fällt.
Diese Hinweise können als Anhaltspunkt für die Gestaltung neuer Varianten von Bewertung gelten.
Lernen durch Feedback: Da der Trend in der Leistungssteuerung sehr stark auf Entwicklung und Lernen setzt, sind die Bedingungen für lern- und leistungsförderndes Feedback wichtig. Hier geben DeNisi und Kluger mehr Aufschluss. Ihnen zufolge kann Feedback dann vor allem lernförderlich wirken, wenn es
- einen deutlichen Bezug zur Aufgabenebene aufweist (tun, handeln),
- sich nicht an die Persönlichkeit adressiert (sein oder nicht sein),
- positive Vergleiche mit eigenem, früheren Leistungsverhalten zieht, aber,
- keinen Vergleich mit Leistungen anderer,
- klare Verbesserungsvorschläge beinhaltet und von Zielsetzungen begleitet wird.
In beiden Themenfeldern finden sich Empfehlungen, die in den neueren Praktiken der Leistungssteuerung eingelöst sind: Feedbacks werden häufiger gegeben. Der kürzere informellere Charakter der Feedbackgespräche, die anstelle des Jahresgesprächs gesetzt werden, fördert und fordert das Thematisieren der Aufgabenebene. Das erschwert eine auf die Persönlichkeit bezogene verallgemeinernde Leistungsbilanz oder macht sie schlicht überflüssig. Bleibt einzig die Frage nach der Gesamtbeurteilung und deren Zustandekommen. Dafür wird folgendes empfohlen: ein frühzeitiges Offenlegen der Kriterien, die Sichtweise des Mitarbeitenden aufnehmen und auf der Basis von gesammelter Evidenz zum Entscheid kommen.
Das Leistungsgespräch per se ist also noch kein Dinosaurier in unserer Arbeitswelt. Es ist aber sinnvoll, sich in dessen Gestaltung den Anforderungen der Zeit zu stellen. Die oben genannten Veränderungen stellen allerdings eine grosse Herausforderung an Beobachtungs-, Lenkungs- und Beratungsfähigkeit der Führungskräfte. Es setzt einerseits zeitliche Ressourcen voraus, andererseits eine solide Befähigung durch Training, drittens ein Bewusstsein über eine sich im Selbstverständnis verändernde Führungsrolle. All dies sind Aspekte, die in der Anpassung oder Revolution der Leistungssteuerung mitgedacht und beachtet werden sollten.
Leserfrage
Welche Praxis erleben Sie heute? Wer oder was hilft Ihnen, Ihre Leistung zu erkennen und einzuschätzen?
Birgit Werkmann-Karcher ist Dozentin und Beraterin am IAP Institut für Angewandte Psychologie der ZHAW. Sie leitet den Bereich Human Resources, Development & Sportpsychologie und ist auf Arbeitswelt 4.0, die Entwicklung von Teams und HR-Beratung spezialisiert.