Wie überstehen Organisationen herausfordernde Zeiten? Formen der Selbstorganisation wie Holakratie scheinen die Lösung zu sein. Doch was steckt dahinter? Welche Rolle hat Führung in solch neuen Organisationsformen und inwiefern stehen Kultur, Struktur und Zusammenarbeit in Beziehung? Erhalten Sie in diesem Beitrag Antworten und anschauliche Impulse aus Forschung und Praxis.
Autorin: Sonja Stöckli
Bild: Adobe Stock
In traditionellen Organisationsformen müssen Führungspersonen viele Entscheidungen treffen und kommen dadurch häufig an ihre Grenzen. Die bisherigen Kompetenzen und Routinen von Organisationen eignen sich nicht optimal, um rasch und kontextbezogen zu handeln. Das war in der Vergangenheit unproblematisch. Heute können neue Ansätze der Zusammenarbeit für die aktuellen Herausforderungen unserer Zeit besser geeignet sein. Nebst der Beschleunigung kommt ein hohes Ausmass an Komplexität innerhalb und ausserhalb grösserer Organisationen hinzu: Politische Konflikte, globale Lieferketten, Klimaveränderung, Energie- und Gesundheitskrisen, künstliche Intelligenz u.v.m. Einzelne Menschen können diese Menge an Komplexität nicht überblicken und aussteuern. Trifft Beschleunigung auf Komplexität, entsteht eine unberechenbare, dynamische Umwelt, die eine Unmenge an offenen Fragen aufwirft und Entscheidungen erfordert.
In traditionellen Strukturen sind Mitarbeitende oft unzufrieden – Holakratie bietet mehr Selbststeuerung
Eine breite Menge an wissenschaftlich fundierten Daten zeigt auf, dass Mitarbeitende in einer klassischen Unternehmensform häufig unzufrieden sind. Oft genannte Gründe aus einer Umfrage des Gallup Engagement Index aus dem Jahr 2020 in Deutschland sind: Unternehmenskultur, vorherrschender Führungsstil sowie mangelnde Gestaltungsfreiheit. Diesen Aspekten kann Holakratie entgegenwirken.
«Es braucht mehr als eine Veränderung von Abläufen und Prozessen.»
Antwort aus einem Forschungsinterview
Der grosse Unterschied zwischen traditionellen Organisationsstrukturen und Selbstorganisationen besteht darin, dass sich letztere darauf fokussiert, Mitarbeitenden und Teams mehr Möglichkeit zur Selbststeuerung einzuräumen. Daraus einhergehend wird Autorität dezentralisiert. Dazu zählen beispielsweise Fragen zur strategischen Ausrichtung einer Unternehmung oder wie anhand relevanter Kennzahlen der operative Fortschritt geprüft werden kann. Die Ausführung der Arbeit und die Führungsaspekte sind damit nicht länger getrennte, sondern verbundene Handlungen. Dort, wo Wissen vorhanden ist, finden Wertschöpfung und Führung statt. Daraus resultieren die Entscheidungsfindung und die kollektive Gestaltung der lokalen Aufbauorganisation.
«Die Bildung und Kultivierung selbstorganisierter Arbeitsweisen sind bei weitem keine Selbstläufer. Vielmehr erfordern die Einführung dieser Strukturen und Arbeitsprinzipien eine sorgfältige Planung und Begleitung. Es ist wichtig, dass die Mitarbeitenden die erforderlichen Fähigkeiten und die richtige Unterstützung haben, um erfolgreich in einer selbstorganisierten Umgebung arbeiten zu können. Dies betrifft weniger Formalismen, die kognitiv schnell erfasst und erlernt werden können, als vielmehr die Haltung und den Umgang untereinander, ergo die Kultur.»
Dominik Grolimund, Jeanette Herzog, Andreas Hertel
Was braucht es für eine erfolgreiche Umsetzung?
Mindestens ebenso wichtig wie die Selbstorganisation als strukturelle Basis für die Zusammenarbeit sind die Menschen, die das Konzept energetisieren und zum Leben erwecken. Denn Holakratie ist keineswegs die Heilung für sämtliche Probleme einer Organisation. Sie bietet der Organisation allerdings dynamikrobuste Ansätze, um mit neu auftretenden Problemstellungen effektiver umzugehen. Es geht um einen direkten Umgang mit Komplexität und Dynamik, indem Verantwortlichkeiten und Entscheidungskompetenzen entlang definierter Rollen breiter verteilt werden. Dabei werden klassisch-hierarchische Führungspersonen entlastet und Mitarbeitende erleben mehr Verantwortung und Gestaltungsspielraum. Holakratie ist eine Herausforderung, eine Weiterentwicklung, eine Chance, jedoch keine Lösung.
In einer qualitativen Forschungsarbeit am Departement Angewandte Psychologie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften wurden die wesentlichen Faktoren für die Übertragung von Holakratie in die Praxis untersucht. Dabei wurden qualitative Interviews mit Beratenden im Bereich Holakratie / Selbstorganisation durchgeführt und Erfolgsfaktoren erfragt. Die Ergebnisse sind in das Buch «Selbstorganisation mit Holakratie…eine Frage der Kultur!» eingeflossen (vgl. Box weiter unten).
Folgende Bausteine sind wichtig bei diesem Prozess:
- Motivation
- Führung
- Ressourcen: Wissen, Geduld, Zeit
- Geld
Wenn sich eine Organisation dazu entschliesst, eine Transformation zur Holakratie durchzuführen, müssen Fragen nach der Motivation und den Erwartungen unbedingt geklärt und im Anschluss in die Organisation kommuniziert werden. Es braucht mehr als die Veränderung von Abläufen und Prozessen. Mitarbeitende sollen sich intensiver mit dem eigenen Verständnis von Sinnhaftigkeit, Macht sowie Kooperation auseinandersetzen.
Die Rolle der (dann meist noch klassisch-hierarchischen) Führung ist von großer Bedeutung. Die Führung fällt die Entscheidung zum Systemwechsel in Richtung Holakratie aus einer machtvollen Position heraus und vertritt damit den Veränderungsprozess gegenüber der Organisation. Diese Entscheidung soll klar und sichtbar nach aussen kommuniziert werden, beispielsweise an einer gemeinsamen Feier.
Ohne die nötigen Ressourcen, allen voran Zeit, Geld und Wissen gelingt die Einführung und Etablierung von Holakratie in der Praxis nicht. Alle drei Elemente sind eng aneinandergeknüpft. Wissen über Selbstorganisation, über holakratische Rollen, Routinen und Praktiken muss breit in der Organisation verteilt sein und angewandt werden, um bestehende Wissens- und Kompetenzgefälle zu überwinden. Fließen die Informationen zudem über die «alten» Informationswege der klassischen Organisation, werden diese hierarchischen Linien eher verstärkt als aufgelöst.
Ein möglicher Weg sind durchmischte Lerngruppen, die durchaus auch organisationsübergreifend sein können. Dabei werden unter anderem der Umgang mit Spannungen, Konflikt- und Feedbackkompetenzen oder Moderationskompetenzen (Facilitation) eingeübt. Zusätzlich zu Lernräumen braucht es Freiräume, damit sich die Menschen in der neuen Situation orientieren können.
Die Bedeutung einer erfahrenen Begleitung und positive Effekte
Für die Einführung der Holakratie ist ein strukturiertes Vorgehen essenziell. Einerseits wird diese Struktur durch das Konzept Holakratie zur Verfügung gestellt, andererseits sollte sie durch eine erfahrene Person begleitet werden. Diese Beratungsperson erarbeitet eine Transformationsarchitektur, bietet Schulungen und Workshops an, definiert Rollen und Verantwortlichkeiten und gestaltet Meetings sowie Prozesse neu. Zudem werden die Kreisstrukturen etabliert und kontinuierliches Feedback und Anpassungen gefördert.
Interne Organisationsentwicklung darf die Ansätze der Holakratie uneingeschränkt nutzen. Beratungen dazu bieten wir auch beim IAP an. Eine offizielle Unterstützung bei der Einführung von Holakratie bei externen Kund:innen darf hingegen nur durch zertifizierte Beratende erfolgen. So ergibt sich ein Geschäftsmodell aus Zertifizierungen und Beratung.
Positive Effekte von selbstorganisiertem Arbeiten zeigen Aspekte wie wertschätzende Offenheit, Reflexionsfähigkeit, Zugewandtheit und Vertrauen. Diese Qualitäten sind genau genommen bei jeglicher Zusammenarbeit nützlich, beispielsweise auch in klassischen Organisationen.
Kultiviert und gelebt werden kann eine Selbstorganisation mit Holakratie nur durch die Organisation selbst.
Weitere Informationen:
Das Buch «Selbstorganisation mit Holakratie…eine Frage der Kultur!» vermittelt Spielregeln der Holakratie und zeigt die hohe Relevanz von kulturellen Aspekten auf. Leser:innen erhalten einen spannenden Einblick in das Phänomen der Selbstorganisation und welche Bausteine für eine erfolgreiche Umsetzung in der Praxis relevant sind. Das Buch kann beim Springer Verlag erworben werden.
Zu den Autor:innen des Buches:
Dominik Grolimund ist Psychologe und Informatiker und arbeitet am Zentrum für Leadership, Coaching und Changemanagement als Berater (IAP/ZHAW). In seiner Arbeit begleitet er Einzelpersonen, Teams und Organisationen in Veränderungsprozessen.
Jeanette Herzog ist Arbeits- und Organisationspsychologin. Als systemische Organisations- und Teamentwicklerin legt sie ihren Fokus auf Kulturprozesse und Potentialentfaltung. Sie ist Geschäftsführerin der Unternehmensberatung Hejcon GmbH.
Andreas Hertel ist freier Transformationsbegleiter und Coach. Schwerpunkte seiner Arbeit sind wirksame Kooperation und Selbstorganisation, Führungs- und Strategieentwicklung sowie die potenzialfokussierte Entwicklung von Menschen, Teams und Organisationen.
Sonja Stöckli absolvierte bis Ende Mai 2024 ein Praktikum am Institut für
Angewandte Psychologie IAP am Zentrum Leadership, Coaching, Beratung sowie Changemanagement. Sie ist freiberufliche Radiomoderatorin und studiert Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Luzern.