In seinem aktuellen Buch «Führen in der Arbeitswelt 4.0» beschäftigt sich Christoph Negri mit den neuen Herausforderungen von Führungskräften. Im folgenden Interview spricht er über das Buch, die grundlegenden Veränderungen im Führungsverständnis und ein neues Denken.
Interview: Joy Bolli, Redaktorin ZHAW Angewandte Psychologie
Christoph Negri, in deinem Buch «Führen in der Arbeitswelt 4.0» schreibst du, dass die Rolle und das Verständnis von Arbeit und Mensch auf dem Prüfstand stehen. Muss der Mensch Angst haben vor der Arbeitswelt 4.0?
Nein, das wäre übertrieben. Was wir aber definitiv beobachten können ist, wie schnell sich die Dinge in den letzten Jahren verändert haben und wie rasant sie sich weiterhin verändern. Vieles bleibt zwar im Kern gleich, doch die Herangehensweise verändert sich. Ein Beispiel ist das Informations-Management, das ja immer noch zu den wichtigen Führungsaufgaben gehört. Früher gab es die typische Informationspyramide: Führungspersonen bekamen Informationen als erste und gaben diese gebündelt und gezielt an ihre Mitarbeitenden weiter. Das ist heutzutage absolut unmöglich. In manchen Fällen ist es sogar so, dass die Mitarbeitenden mehr Informationen haben als ihre Vorgesetzten. Führungskräfte müssen lernen mit dieser Komplexität umzugehen. Es ist eine Form der «Machtlosigkeit», die speziell für macht-orientierte Führungspersonen schwierig einzuordnen ist. Wenn mir Macht wichtig ist und ich aus diesem Motiv heraus führen möchte, dann ist das ein wesentlicher Punkt, mit dem ich mich unweigerlich beschäftigen muss. Das ist eine der grössten Herausforderungen für die Führung 4.0. Führungskräfte haben zwar immer noch viel Verantwortung. Doch sie sind nicht mehr so «allmächtig», wie sie es in der Vergangenheit waren. Dieses Beispiel ist übertragbar auf Projektleiter und auch auf jede Mitarbeiterin und jeden Mitarbeiter. Wissen ist für jedermann schnell abgreifbar: in kleinen Lernvideos, Tutorials, Blogs, Podcasts, gratis und ständig aktualisiert. Die Dynamik ist vielseitiger, intensiver, schneller. Zusätzlich findet eine enorme Vernetzung nach allen Seiten statt. Mit solchen Veränderungen müssen wir umgehen lernen.
Wie kann man das lernen?
Für Vorgesetzte ist es wichtig, ein Grundverständnis dafür zu bekommen, dass sie zwar zuständig und verantwortlich sind und noch immer steuern und lenken müssen. Doch die Verantwortung wird etwas mehr «aufgeteilt» als es früher der Fall war. Ich habe einerseits nicht mehr die Übersicht über alles, kann also nicht mehr durch die Fabrik laufen und schauen, was passiert hier und da und dort. Andererseits hört dadurch aber auch der «Kontrollwahn» auf. Den muss man in unserer dynamischen Welt loslassen.
Und dann gibt es wiederum Bereiche, in denen man mehr Kontrolle bekommt, zum Beispiel durch Big Data und HR Analytics….
Genau. Das ist wahrscheinlich das aktuell heikelste Thema. Man kann zwar unheimlich viel mit Daten machen. Doch in der Zwischenzeit wissen wir alle, dass wir in einer daten-getriebenen Welt leben. Auf die neue Arbeitswelt übertragen heisst das: Jede Person muss sich bewusst sein, dass sie über den eigenen Email-Verkehr, über das eigene Verhalten – zum Beispiel in den Sozialen Medien, aber auch generell online – sehr genau analysiert werden kann. In unserem Kulturkreis, also in Deutschland und der Schweiz, wissen die grossen Firmen zwar um diese Möglichkeiten, doch sie setzen sie noch vorsichtig und mit Bedacht ein. Wir sind eher verhalten im Umgang mit HR-Daten. Natürlich ist es aber generell möglich – speziell mit neueren Tools, wie zum Beispiel Yammer. Mit solchen Tools kann man problemlos Verhalten analysieren. Es braucht deshalb eine Auseinandersetzung mit dem Thema. Nicht nur Vorgesetzte müssen sich bewusst Fragen dazu stellen. Auch die Geschäftsleitung eines Unternehmens und in einem gewissen Grad auch der Staat. Es braucht eine Auseinandersetzung auf allen Ebenen. Man kann die Verantwortung nicht einfach auf eine Einzelperson, wie zum Beispiel die Führungsperson verlagern. Die gesamte Organisation muss einen Rahmen setzen und Richtlinien andenken.
Dein Buch heisst: «Führen in der Arbeitswelt 4.0». Was macht die «Führungsperson 4.0» aus?
Die moderne Führungsperson gewichtet die Dinge anders. Ich musste zum Beispiel schon früher als Führungsperson nicht nur informieren, sondern auch kommunizieren. Das konnte ich früher aber stärker steuern, denn es gab nur «Face-to-Face» oder höchstens Email-Kommunikation. Die fortschreitende Digitalisierung und vor allem die Sozialen Medien haben die Dynamiken verändert. Führungskräfte müssen Medienkompetenzen in den neuen Medien aufbauen und gleichzeitig die Fähigkeit vertiefen, Face-to-Face zu kommunizieren. Ein anderer Punkt ist die Selbstführung. Die wird für alle Arbeitnehmenden wichtiger. Jeder kennt zum Beispiel die Diskussionen um «on/off», also wie lange und wo ich online bin. Das ist eine reine Selbststeuerungsaufgabe, die aber immer wichtiger wird.
Für viele Menschen ist das schon ein grosses Problem in sich.
Das ist ein Riesenproblem. Aber diese neuen Kompetenzen sind nun gefordert. Deshalb sind sie auch ein Herzstück unserer Weiterbildungen. Arbeitnehmende müssen ihren Weg finden, und sie sollten unterstützend begleitet werden, denn ich denke nicht, dass sich das einfach regulieren lässt. Man kann auch nicht davon ausgehen, dass das alle einfach können. Auch volkswirtschaftlich ist dieses Thema in seiner Tragweite schon erkannt.
Wir können also nicht davon ausgehen, dass die neuen Generationen diese Medienkompetenzen automatisch mitbringen?
Nein, das glaube ich nicht. Jüngere Menschen werden genauso verführt von der Anziehungskraft des Netzes. Sie haben vielleicht mehr Erfahrung in bestimmten Anwendungen. Aber die Tools ändern sich konstant, sie müssen also auch ständig alles neu lernen und können sich nicht auf bestehendem Wissen ausruhen.
Sollten Führungskräfte Komplexität reduzieren?
Unsere Welt ist komplex geworden, daher kann man Komplexität nicht einfach reduzieren. Man muss schauen, wie man die Dinge strukturieren und in den Alltag einbetten, wo man sich abgrenzen und wo man loslassen kann. Keiner darf sich einfach der Illusion hingeben, als Führungsperson alles im Griff haben zu können. Wenn ich als Führungsperson das in der Vergangenheit so verfolgt und gelebt habe, dann stehe ich vor einer grossen Veränderungsaufgabe. Hier kommt die Psychologie ins Spiel, denn es geht um Selbstkompetenz, um den Umgang mit Werten und Grundeinstellungen. Es geht um die Frage, wie Menschen sind, wie sie sich verhalten, ob sie eher selbst-engagiert sind oder nicht. Am Ende ist es für uns alle einfach eine Realität: Wir sind nicht mehr die Experten für alles. Wir müssen uns eingestehen, dass wir auch einmal etwas nicht wissen.
Warum ist dieses Eingeständnis so schwierig für Führungskräfte?
Das ist eine interessante Frage. Neben dem Machtaspekt gibt es auch die Erwartungshaltung der Mitarbeitenden. Diese verlangen meist immer noch, dass die Vorgesetzten als Vorbilder funktionieren und eben mehr wissen als sie selbst. Die Realität der neuen digitalisierten Arbeitswelt und die alten Wertesysteme kommen so gesehen etwas in Clinch.
Was heisst das für «Mitarbeiter 4.0»?
Bei den Mitarbeitenden geht es in gewisser Weise um die gleichen Themen, aber mit einer anderen Gewichtung. Gefragt ist in der Arbeitswelt 4.0 nicht nur Selbstführung, sondern auch Selbstreflexion. Es braucht also mehr Verständnis für Menschen, für ihre Fähigkeiten und ihre Grenzen.
Zur Person
Christoph Negri leitet das IAP Institut für Angewandte Psychologie. Er arbeitet als Dozent, hält Beratungsmandate für verschiedene Profit- und Non-Profit-Organisationen inne und berät diverse Schweizer Spitzensportlerinnen und Spitzensportler. Sein aktuelles Buch “Führen in der Arbeitswelt 4.0” ist im Springer-Verlag erhältlich.
«Der Digitale Wandel am IAP»
Das IAP beschäftigt sich intensiv mit den Auswirkungen der zunehmenden Digitalisierung auf das Lernen, Kommunizieren und Arbeiten. Die Ergebnisse wurden auch in folgenden Weiterbildungsangeboten eingeflochten:
CAS Psychologie in der Arbeitswelt 4.0
WBK Auf dem Weg zur Agilen Organisation I & II
Ein interessanter Beitrag. Vor allem soziale und kommunikative Kompetenzen und die emotionale Intelligenz als Ganzes werden in der Arbeitwelt 4.0 noch wichtiger werden. Hinzu kommt eine positives Menschenbild und die konsequente Bereitschaft von Führungskräften, Mitarbeitende zu fördern und zu respektieren und vor allem auch Talente zu erkennen und zu fördern.