Jean-Christophe, du hast dich ursprünglich zum Ingenieur ausbilden lassen. Was hat dich dazu bewogen, dich aus einem eher technologischen Arbeitsbereich in ein psychologisches Arbeitsfeld zu entwickeln?

Während des Studiums dachte ich, ich würde nun mein Leben lang als Vollblut-Ingenieur arbeiten. Doch ich habe sehr schnell realisiert, dass Menschen für den Erfolg eines Vorhabens oder eines Projektes mindestens so wichtig sind, wie die Technik. Salopp gesagt: Man kann mit Technik vieles, ja fast alles machen. Aber der Punkt, an dem Projekte glücken oder scheitern, ist fast immer der Faktor «Mensch». Das habe ich schon in meinem ersten Jahr als angestellter Ingenieur gemerkt. Ich war damals für ein Grossunternehmen tätig. In unserem Team gab es eher junge Kolleginnen und Kollegen und einen älteren Kollegen, der oft Wutausbrüche hatte. Da er für mein Projekt wichtig war, ging ich auf ihn zu, habe mehrmals mit ihm Kaffee getrunken, geredet, ihn kennengelernt. Dabei öffnete er sich mir gegenüber, und wir haben immer gut zusammengearbeitet. Erst später habe ich erfahren, dass viele Kollegen nicht gut mit ihm arbeiten konnten. Das Erstaunliche an solchen Situationen ist, dass eigentlich alles da ist: Man hat gute Leute, man hat das nötige Wissen im Team, und dennoch harzt es. Es geht oft nur darum, die Fronten abzubauen; Meine Passion für das Zwischenmenschliche hat sich dann immer weiterentwickelt.

Du hast auch geographisch Grenzen überwunden. In welche Länder hat dich das Arbeitsleben geführt?

Ich habe zum Beispiel für ein französisches Unternehmen gearbeitet, das eine Tochtergesellschaft in der Schweiz hatte. Die (Firmen-)Kulturunterschiede waren erheblich, und das führte manchmal zu Missverständnissen aber auch zu lustigen Situationen. Meine Zweisprachigkeit hat da sehr geholfen. Ich hatte später auch längere Projekte in Amerika, in asiatischen Ländern, in vielen europäischen Ländern und sogar im Vatikan. Und immer wieder habe ich gemerkt, dass sich die Kulturen und Werte der Menschen stärker unterscheiden als auf den ersten Blick sichtbar. Das finde ich auch das Schöne an dieser Vielfalt. Ich habe mich dann immer wieder gefragt, wie ich andere Menschen im positiven Sinne «knacken» kann. In Italien sind zum Beispiel viele erst einmal sehr nervös und reagieren emotional, wenn man mit einem Anliegen kommt. Doch wenn man sie ernst nimmt und zuhört, dann wendet sich alles plötzlich, und sie werden hilfsbereit und unterstützend.

Deine berufliche Laufbahn führte dich anschliessend auch in ein Ingenieur-Büro und später in eine Consulting-Firma. Heute bist du Dozent und Berater am IAP. Was machst du hier genau und wo siehst du den «roten Faden» in deiner Entwicklung?

Am IAP bin ich einerseits Dozent für Leadership-, Change Management- und Agilitäts-Themen. Dazu bin ich Berater und begleite Firmen in Umstrukturierungen, Neufindungen von Führungskonzepten und auch in anderen Projekten mit Organisationsentwicklungscharakter. Auch hier geht es oft ums Brückenschlagen. Nehmen wir ein Beispiel aus der Industrie: Da sind Mitarbeitende, die sich von der Geschäftsleitung nicht verstanden fühlen, und ein CEO der den Eindruck hat, seine Mitarbeitenden hören ihm nicht zu und er hätte somit den «Laden» nicht im Griff. Das führt dazu, dass der CEO noch rigider führt, die Belegschaft hingegen noch stärkeren Widerstand zeigt. Häufig liegt das Problem aber an ganz einfachen kleinen Dingen, die es zu identifizieren gilt, zum Beispiel, dass der CTO viel zu «technisch» kommuniziert und der CEO mit dieser Flut an Details keine Chance hat, sich einen Überblick zu verschaffen. Für mich ist die «Flughöhe» oft eine passende Metapher, die vieles veranschaulicht: Der CEO sitzt als Pilot auf 10’000 Metern Höhe. Er sieht nicht jedes Detail, hat dafür aber idealerweise die Flugrichtung im Griff und kennt die Grosswetterlage. Der Mitarbeitende «unten» sieht Aspekte, die der CEO «oben» nicht wahrnehmen kann. Beide haben einen ganz eigenen Fokus. Für uns am IAP gilt es dann ebenfalls, die Flughöhen anzupassen, um mit jedem auf Augenhöhe zu kommunizieren und Lösungen zu finden, sowohl in den Beratungen, wie auch in den Kursen. Dabei helfen mir meine 16 Jahre Führungserfahrung aus der Privatwirtschaft sehr.

Deine Spezialisierung liegt bei agilen Organisationen. Was ist mit «agil» eigentlich genau gemeint?

Das Wort «agil» ist leider etwas überstrapaziert. Tatsächlich hat sich aber in den letzten Jahrzehnten sehr viel verändert: Bis in die 80er-Jahre hinein hatten viele Organisationen eine «Hands-On»-Einstellung. Einfach gesagt baute man Prototypen, und wenn sie liefen, baute man sie nach und verkaufte sie. Das führte nicht selten zu fehleranfälligen Produkten, die anschliessend mit viel Aufwand «zurecht-verbessert» werden mussten. In den 80er-Jahren lernte man viel von der japanischen Autoindustrie, die den Fokus u.a. stark auf umfassende Vorabklärungen und ausgereifte Konzepte setzte. «Erst planen, dann handeln» war die Devise, und das brachte viele Firmen zu neuem Aufschwung. Heute funktioniert dieser Ansatz oft nur noch bedingt: Durch die Globalisierung, die günstige Mobilität und das Internet ist die Welt schneller geworden. Der Einfluss physikalischer Grenzen sinkt. Wertschöpfungsketten werden zeitlich und geografisch aufgeteilt. Die Digitalisierung treibt die «Entmaterialisierung» voran und öffnet neue Kommunikationswege. Ich kann heute ein Taxi-ähnliches Unternehmen führen, ohne ein einziges Auto zu besitzen. Ich kann aus einem Studentenzimmer in Winterthur mit einem Laptop eine Radiostation betreiben, die auch in Brasilien zu hören ist. Die ganze Welt ist zusammengerückt. Das öffnet auf der einen Seite neue Türen, macht aber auf der anderen Seite alles sehr viel komplexer und auch instabiler. Wenn ich Rucksackhersteller in der Schweiz bin und in Amerika ein Terrorist eine Bombe auf der Strasse zündet, die in einem Rucksack versteckt war, hat das unter Umständen sofort Einfluss auf den globalen Aktienmarkt, aber auch auf meine Firma in Winterthur. Aufgrund der vielen direkten globalen Einflüsse ist es heute fast nicht mehr möglich, auf ein oder zwei Jahre hinaus etwas sicher zu planen. Wenn ich ein Produkt entwickle, arbeitet vielleicht gerade jetzt jemand in Indien auch an so einem Produkt und ist zwei Wochen schneller am Markt als ich. Wer macht das Rennen? Der Zeitdruck ist enorm. Aus dieser Not heraus ist im Jahr 2001 in den USA das «Agile Manifest» entstanden, wo der moderne Begriff Agilität (neu) definiert wurde. Agilität – im organisationstechnischen Sinn – ist eine Form, die Anpassungsfähigkeit zeitlich und inhaltlich zu erhöhen. Doch für mich, wohlverstanden, nicht die Einzige.

Was genau unterscheidet denn eine «normale» von einer «agilen» Organisation?

Ein für mich zentraler Aspekt agiler Methoden ist das Erzeugen brauchbarer Resultate mit klarem Mehrwert in kurzen Zeitabständen, genannt «Iterationen». Das heisst, man bricht ein langfristiges Ziel in erste Teilziele herunter und fragt sich: Was machen wir zuerst? Man erarbeitet zum Beispiel innert 2-3 Wochen eine einfache Erstversion, die in sich bereits abgeschlossen ist und idealerweise bereits an den Markt gebracht werden kann. Der Vorteil: Man kann etwas Konkretes mit dem Kunden besprechen, mit jeder Iteration schnell scheitern und schnell lernen. Da jeweils ein brauchbares (Zwischen-)Resultat vorliegt, kann man das Projekt zudem nach jeder Iteration quasi «ohne Verlust» stoppen und die Kosten so im Griff behalten. Neben agilen Methoden gibt es auch agile Organisationsaspekte. Ein Merkmal davon sind veränderte Führungsstrukturen. Es gibt heute sehr viel mehr interdisziplinäre Mitarbeitende, die mehr Verantwortung übernehmen wollen und Mühe mit klassischen «top-down»-Führungsstrukturen haben. Mehr mitbestimmen, schneller lernen, besser mit Unsicherheit umgehen – all das sind Elemente, die letztlich auch stark einem Bedürfnis des Menschen entsprechen. Agilität ist primär eine Geisteshaltung, welche mit der Firmenkultur kompatibel sein muss. Dieser Aspekt wird aus meiner Erfahrung von vielen Organisationen unterschätzt.

Du machst heute am IAP Führungsentwicklung, berätst Unternehmen und arbeitest als Dozent. Doch du hast noch ganz andere Talente. Warum bist du nicht in den kreativen Bereich gegangen?

(Schmunzelt) Ich hatte schon immer zwei Herzen in meiner Brust: Das eine schlägt fürs Filmemachen, und nährt eher eine künstlerische Ader. Das andere schlägt fürs analytische und wissenschaftliche Denken. Ich habe mich aber für ein Ingenieur-Studium an der ETH entschieden. Das Studium hat mich auch sehr begeistert. Doch daneben blieb die kreative Seite in mir wach. Hin und wieder habe sie auch ausgekostet, und ich hatte das Glück, dass ich immer wieder in professionellen Bereichen mitarbeiten durfte. Ich war zum Beispiel 10 Jahre lang am Opernhaus auf der Bühne, zuerst im Kinderchor, dann in einer kleinen interdisziplinären Gruppe, bei welcher ich Einsätze als Statist-, Ballett- und Pantomime-Tänzer hatte. Ich drehe gerne Filme und habe auch schon Beiträge erstellt, die am Schweizer Fernsehen, auf ARTE oder ZDF gezeigt wurden. Und lange habe ich auch meine Stimme als Synchronsprecher für Werbefilme am Schweizer Fernsehen eingesetzt. Mein Bruder ist voll in Richtung Kunst gegangen. Er ist Choreograph geworden und arbeitet manchmal auch an der ZHdK, also im selben Gebäude, in dem auch das IAP ist. So bleibe ich mit der Künstler-Welt in Kontakt.

Nun bist du schon ein Jahr am IAP. Gibt es Dinge, die in deiner Tätigkeit neu für dich sind?

An Fachbüchern mitzuwirken, ist für mich totales Neuland. Doch gerade weil es neu für mich ist, gefällt es mir besonders gut. Ich geniesse es auch, dass man hier am IAP so breit an ein Thema herangehen kann. Ausserdem haben wir durch die vielen hochspezialisierten Beraterinnen und Berater hier einen riesigen Pool an Wissen, das wir einsetzen können, um für den Kunden etwas zu bewegen. Auch das ist für mich sehr bereichernd.


Jean-Christophe Duméril ist Dozent und Berater am IAP Institut für Angewandte Psychologie. Er studierte an der ETH Zürich Elektrotechnik, machte später ein EMBA in Betriebswirtschaft und bildete sich in diversen Bereichen wie Leadership, Change Management und Erwachsenenbildung weiter. Christoph Duméril verfügt über 16 Jahre Führungserfahrung in diversen Positionen. Bevor er als Dozent und Berater ans IAP kam, arbeitete er 12 Jahre in Dienstleistungs- und Industrieunternehmen, 8 Jahre in der internationalen Unternehmensberatung und rund zwei Jahre als Studiengangleiter, Führungstrainer und Coach an einer Kaderschule. Am IAP unterstützt er heute Unternehmen auf dem Weg zur agilen Organisation.


Weiterbildungskurs «Auf dem Weg zur Agilen Organisation»
Die Komplexität und das Tempo in der Arbeitswelt nehmen laufend zu. Dieser Zustand wird durch das Akronym VUCA beschrieben, das für Volatility, Uncertainty, Complexity und Ambiguity steht. Im Weiterbildungskurs «Auf dem Weg zur agilen Organisation I» setzen sich die Teilnehmenden mit diesen veränderten Umweltanforderungen auseinander und entwickeln organisatorische Lösungen. Eine zentrale Antwort auf VUCA ist die Agilität. Deshalb lernen die Teilnehmenden in diesem Kurs Einsatzbereiche von Agilität kennen, setzen sich mit den Vor- und Nachteilen, Chancen und Risiken sowie Grenzen von Agilität auseinander und reflektieren diese für ihre eigene Organisation. Ausserdem erfahren sie, was sich durch eine zunehmende Agilität für sie als Führungsperson oder Beratende verändert und wie sie damit umgehen können. Wer die agile Organisation anhand eines Real-Cases umsetzen möchte, lernt im Folgekurs «Auf dem Weg zur agilen Organisation II» wie die Konzepte auf die reale Situation angewendet werden können. 


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