Von Jean-Christophe Duméril, Dozent & Berater am IAP Institut für Angewandte Psychologie
«Agilität ist wieder so ein Management-Hype. Doch Agilität ist wie Kopfweh: Es vergeht wieder!» Solche oder ähnliche Sprüche kommen mir hie und da zu Ohren. Ich kann diese Ansicht gut verstehen. In der Management-Welt jagt ein Trend den anderen. Management-Ratgeber füllen meterlange Bibliotheksregale. Beim Lesen eines solchen Werkes entsteht oft der Eindruck, dass der Autor sich ein Denkmal setzen möchte, dass alter Wein in neue Schläuche gefüllt wird. Der Leser soll die bisherigen Methoden vergessen. Denn ab heute funktioniert alles anders.
Aus der Not entstanden
Aus meiner Sicht unterscheidet sich das Thema Agilität von vielen Management-Hypes: Agile Konzepte für Unternehmen sind nicht von einer Person «erfunden» worden. Denn Agilität ist primär eine Geisteshaltung. Agile Ansätze sind aus einer Not bzw. aus einer Ernüchterung entstanden. Nach der Jahrtausendwende platzte die Dotcom-Blase. Einst gefeierte Unternehmen standen plötzlich vor dem Bankrott. Wie konnte es sein, dass Top-Unternehmen mit Top-Mitarbeitenden, einer soliden Struktur und einer ausgezeichneten finanziellen Basis immer wieder grosse IT-Projekte zum Scheitern gebracht oder wichtige Neuerungen verschlafen hatten (z.B. Nokia das Smartphone, Kodak die Digitalkamera)? So fingen viele Ingenieure und Manager an zu zweifeln und die traditionellen Entwicklungsmethoden zu hinterfragen.
Planung war gestern
Klassische Wasserfallmethoden prägten schon lange das projektmethodische Denken und sind auch heute noch weit verbreitet. Dabei wird ein Schritt nach dem anderen gemacht: Erst eine sorgfältige Planung, dann der Prototyp, anschliessend die Entwicklung, das Testen und erst am Schluss das Produzieren eines Produktes… Dieses strikte Vorgehen hat viele Firmen etliche Jahre erfolgreich und professioneller gemacht, indem sie gezwungen wurden zuerst zu «denken» bzw. zu planen und erst dann zu handeln.
Doch das Internet, die galoppierende Digitalisierung und nicht zuletzt die ganze Globalisierung machten langfristiges Planen zunehmend schwieriger. Es gab immer mehr Unsicherheiten, Informationslücken, neue Einflussfaktoren. Nicht selten war ein Produkt durch die lange Projektdauer schon veraltet, bevor es fertig entwickelt war. Einst gefeierte Top-Unternehmer schätzten Trends falsch ein. Und in vielen Fällen wäre das nicht passiert, wenn jene Top-Manager zum Beispiel ihren Mitarbeitenden an der Front besser zugehört oder Kunden stärker in die Produktentwicklung eingebunden hätten. Schon nach dem Platzen der Dotcom-Blase wurde im IT-Bereich erkannt, dass neue Ansätze her mussten. Projektteams mussten wendiger und flexibler werden.
Das agile Manifest
2001 entstand das sogenannte «Agile Manifest», eine öffentliche Absichtserklärung bezüglich agilen Prinzipien und Vorgehensweisen in der Software-Entwicklung. Es wurde von 17 unabhängigen Software-Entwicklern in Utah in einem Ski-Ressort auf 2500 Meter entworfen und lieferte einen wichtigen Grundstein für moderne Software-Entwicklungsmethoden wie beispielsweise SCRUM oder Extreme Programming. Agile Konzepte sind also primär in der IT-Ecke entstanden. Als Ingenieur habe ich diesen profunden Wandel persönlich miterlebt.
Seit über 15 Jahren erfolgreich
Bei agilen Konzepten weichen befehlsfokussierte und zielorientierte Hierarchien einer unterstützenden und fördernden Vorstellung von Führung. Kern der Organisation sind kleine, interdisziplinäre und sich weitgehend selbstorganisierende Teams, welche nur sehr wenige «Befehle von oben» benötigen. Der Erfolg gibt agil arbeitenden IT-Firmen offenbar recht. Und dies seit über 15 Jahren. So gesehen ist Agilität keine «Eintagsfliege». Auch finden agile Konzepte heute zunehmend in nicht-IT bzw. nicht-technischen Unternehmungen Einzug. Agilität ist also nicht nur etwas für introvertierte, kommunikationskarge und zurückgezogene «Nerds». Sie ist auch immer häufiger Erfolgsfaktor für andere Branchen und Industriezweige.
Agilität befriedigt menschliche Bedürfnisse
Was unterscheidet Agilität von anderen Trends? Wie kommt es, dass agile Konzepte so lange anhalten und ein Ende sich nicht abzeichnet? In meinen Augen basiert der Erfolg zum grossen Teil darauf, dass agile Konzepte viele urmenschliche Bedürfnisse von Mitarbeitenden befriedigen und der Erfolg von Agilität somit psychologisch begründbar ist. Hier 6 wichtige Aspekte dazu:
1) Sinn: Der Sinn der Arbeit oder eines Projektes rückt bei agilen Ansätzen wieder stärker ins Zentrum: Es findet u.a. eine explizite Auseinandersetzung mit Sinn und Unsinn von Projektinhalten statt (z.B. Funktionen eines Gerätes).
2) Verantwortung: Die Verantwortung und ein Grossteil der Entscheidungen werden stärker an das Team zurückgegeben. Dies ist auch durchaus legitim: Ein Team-Mitglied «an der Front», welches üblicherweise viel enger mit dem Endnutzer in Kontakt ist, kennt die Bedürfnisse des Kunden oft viel besser als ein strategisch agierender Topmanager.
3) Orientierung: Der Mensch will wissen, wo er steht und wohin die Reise geht. Die Visualisierung des Projektstandes, als wichtiges Element agiler Methodik, rückt stark ins Zentrum.
4) Erfolge: Zu grosse und diffuse Ziele oder erdrückende Hürden wirken lähmend. Das Herunterbrechen komplexer Vorhaben in sogenannte «Baby Steps» ermöglicht regelmässige, sichtbare Fortschritte. Nichts beflügelt mehr, nichts gibt mehr Sicherheit als kleine und wiederkehrende Erfolgserlebnisse.
5) Kommunikation: Die einseitige Optimierung der Effizienz und der «schriftlichen Verbindlichkeit» in Unternehmungen hat dazu geführt, dass Mitarbeitende zunehmend vereinsamen. Der Mensch ist ein soziales Wesen. In agilen Organisationen wird weniger befohlen, weniger dokumentiert, dafür mehr kommuniziert. Bei Agilität und der damit einhergehenden stärkeren Notwendigkeit von Austausch und Vernetzung wird so das Urbedürfnis des Menschen nach Zugehörigkeit befriedigt.
6) Hohe Lernkurve durch Feedback: Retrospektiven und kurze Feedback-Schlaufen sind bei agilen Konzepten eingebaut. Dies erleichtert schnelles Lernen und führt nicht selten zu einem «Flow»-Zustand bei Team-Mitgliedern.
Agilität: Kein Universal-Heilmittel
So wenig der Befehl “Sei spontan!” bei einer schüchternen Person zur gewünschten Entspannung führt, so wenig lässt sich ein «Mindset-Shift» zur Agilität hin erzwingen. Auch ist Agilität kein Universal-Heilmittel. Ich kenne Firmen, bei welchen zum Beispiel ein autoritärer Patron das Traditionsunternehmen mit eiserner Hand führt. Solche Firmen haben versucht, agile Methoden wie SCRUM einzuführen und waren ganz erstaunt, dass die erhofften Verbesserungen ausblieben, weil die gewählte Methode nicht zur Kultur der Firma passte. Nicht jede Unternehmung will agil sein. Auch ist nicht jede Unternehmung für Agilität gleich gut geeignet. Zudem muss innerhalb einer Unternehmung sorgfältig analysiert werden, in welchem Bereich und in welcher Tiefe Agilität überhaupt Sinn macht.
Seriöse Abklärungen gegen Stolperfallen
Agilität kann zwar viele Vorteile bringen. Überhöhte Erwartungen können aber ebenso schädlich sein wie falsche Anwendungen. Und es gibt viele psychologische Denkfallen, wie zum Beispiel «mit Agilität müssen wir nicht mehr führen» oder «mit Agilität werden unsere Produkte billiger». Nach meiner Erfahrung gibt es jedoch ein paar Schlüsselaspekte, welche die Erfolgschancen auf dem Weg zur agilen Organisation massiv erhöhen:
Analyse des Status Quo: Lassen Sie eine sorgfältige Analyse ihres Unternehmens, ihrer Werte, ihrer Führungskultur, ihrer aktuellen Strategie, ihrer Stärken und Schwächen machen und nehmen Sie die Resultate ernst.
Klärung der Ziele: Klären Sie sorgfältig ab, welche Vorteile Sie sich von Agilität erhoffen.
Abwägen von Bereitschaft und Aufwand: Klären Sie die Bereitschaft der Unternehmung, der Führungskräfte, der Mitarbeitenden, etwas zu ändern. Welchen «Preis» ist Ihr Unternehmen bereit zu bezahlen?
Festlegen der Agilitätsform: Es gibt viele Formen der Agilität. Deshalb gilt es abzuklären, welche Form von Agilität am besten zur Unternehmung passt. Oft gilt: Probieren geht über Studieren!
Wichtig ist eine Begleitung durch erfahrene, aussenstehende bzw. «neutrale» Personen. Diese Begleitung sollte andauern, bis der neue Mindset verankert und die ersten Früchte von Agilität geerntet werden können. Danach wird Agilität meistens zum Selbstläufer.
Die meisten wollen nicht zurück
Die Einführung von Agilität in einer Organisation ist ein nicht zu unterschätzendes Change-Projekt. Dieses entspricht oft einem tiefgreifenden «Mindset-Shift» bzw. einem Kulturwechsel und benötigt Zeit. Denn Gras wächst bekanntlich nicht schneller, wenn man daran zieht. Konnte Agilität in einem Pilotbereich oder -projekt erfolgreich implementiert werden, beobachte ich oft, dass die Begeisterung gross und eine Rückkehr zu «alten Zeiten» von den meisten nicht gewünscht wird.
Über den Autor
Jean-Christophe Duméril ist Dozent und Berater am IAP Institut für Angewandte Psychologie. Er studierte an der ETH Zürich Elektrotechnik, machte später ein EMBA in Betriebswirtschaft und bildete sich in diversen Bereichen wie Leadership, Change Management und Erwachsenenbildung weiter. Christoph Duméril verfügt über 16 Jahre Führungserfahrung in diversen Positionen. Bevor er als Dozent und Berater ans IAP kam, arbeitete er 12 Jahre in Dienstleistungs- und Industrieunternehmen, 8 Jahre in der internationalen Unternehmensberatung und rund zwei Jahre als Studiengangleiter, Führungstrainer und Coach an einer Kaderschule. Am IAP unterstützt er heute Unternehmen auf dem Weg zur agilen Organisation.
Weiterbildungskurs «Auf dem Weg zur Agilen Organisation»
Die Komplexität und das Tempo in der Arbeitswelt nehmen laufend zu. Dieser Zustand wird durch das Akronym VUCA beschrieben, das für Volatility, Uncertainty, Complexity und Ambiguity steht. Im Weiterbildungskurs «Auf dem Weg zur agilen Organisation I» setzen sich die Teilnehmenden mit diesen veränderten Umweltanforderungen auseinander und entwickeln organisatorische Lösungen. Eine zentrale Antwort auf VUCA ist die Agilität. Deshalb lernen die Teilnehmenden in diesem Kurs Einsatzbereiche von Agilität kennen, setzen sich mit den Vor- und Nachteilen, Chancen und Risiken sowie Grenzen von Agilität auseinander und reflektieren diese für ihre eigene Organisation. Ausserdem erfahren sie, was sich durch eine zunehmende Agilität für sie als Führungsperson oder Beratende verändert und wie sie damit umgehen können. Wer die agile Organisation anhand eines Real-Cases umsetzen möchte, lernt im Folgekurs «Auf dem Weg zur agilen Organisation II» wie die Konzepte auf die reale Situation angewendet werden können.