Von Ellen Gundrum, Birgit Werkmann-Karcher und Christoph Negri
Bei der Einreise stehen wir an der US-Immigration stundenlang Schlange. Es scheint, als hätte sich die Geschwindigkeit, für die das Silicon Valley bekannt und gefürchtet ist, noch nicht bis hierher durchgesetzt. Auf dem Weg mit dem Mietwagen in die Stadt vermissen wir die gelben Taxis. Die «Yellow Cabs», einst Wahrzeichen und Inbegriff amerikanischer Städte, gibt es hier scheinbar nicht mehr. Dafür fallen uns viele asiatische Limousinen in unauffälligen Farben auf, die dezent auf der Front- und Heckscheibe das Uber-Logo tragen.
Unsere Air-B&B-Wohnung liegt in Russian Hill, einem eher ruhigen Wohnviertel von San Francisco. Gebucht haben wir online, mit unserem Vermieter kommunizieren wir ausschliesslich virtuell über die Plattform. Für die Eingangstür zur Wohnung brauchen wir keinen Schlüssel, sondern einen Nummerncode. Der Hauscode und die überdimensionierte Küchenelektronik scheinen allerdings die einzige moderne Technologie in unserem temporären Zuhause zu sein. Obwohl es in San Francisco häufig windig und kalt ist, sind die Fenster «Südstaaten-Klassiker» mit Null Wärme- und Schall-Isolation. Die Heizung funktioniert nur hopp oder top, also Kühlschrank oder Sauna. Die traditionsreichen Cable Cars vor der Tür rattern uns zuverlässig aus dem Schlaf. Einkaufen gehen wir zum «Chinesen» an der Ecke, der selbst für Schweizer Verhältnisse sehr teuer ist. Nicht zu übersehen ist, dass Fitness, vornehmlich Joggen und Yoga, zum kalifornischen Lebensstil gehört.
Schon sehr früh morgens, vor 6.30 Uhr, treffen wir auf viele sportliche Nachbarn, die leichtfüssig die steilen Hügel der Stadt erklimmen oder mit der Matte unterm Arm zum Yoga-Studio unterwegs sind. Wir beschliessen es ihnen gleich zu tun und uns an wenigstens drei Morgen in der Woche mit eineinhalb Stunden Yoga für die gut gefüllten Arbeitstage zu stärken. Auf geht’s.
Konkrete Fragen, die uns bewegen, sind: Welche technologischen Entwicklungen und neuen Geschäftsmodelle verändern die Art und Weise wie wir zukünftig lernen, lehren, arbeiten und zusammenarbeiten – und wie schnell wird das geschehen? Wenn Technologie der Treiber für eine bessere (Arbeits-)Welt sein soll, ist das im «Tal der Pioniere» bereits spürbar? Komplexe Fragen, auf die wir in nur einer Woche aber keine Antworten erwarten. Also streben wir einen ersten Eindruck an, den es in Zukunft zu validieren oder zu verwerfen gilt.
Bildung für alle
Wir beginnen mit der Frage: Wie werden wir lernen und lehren? Sicher wird dies «digitaler» sein, doch wie sieht das digitale Lernen der Zukunft genau aus? Bei einem Plattformanbieter für Lernlösungen hören wir von der Vision: Bildung soll künftig für alle auf der Welt kostenfrei zugänglich sein. Wir fragen uns, wie das als Geschäftsmodell funktionieren kann und erfahren, dass viele Angebote zunächst gratis sind, und Kosten erst entstehen, wenn Teilnehmende einen formalen Abschluss anstreben. Inhalte und Abschlüsse kommen von renommierten Hochschulen, welche die Qualität der Angebote sicherstellen. Dabei erscheint die enorme Reichweite, mit der Wissen über die Plattform verbreitet werden kann, gleichermassen interessant für bildungshungrige Weltbürgerinnen und -bürger genauso wie für Hochschulen. Doch wie wirken Lernen und Lehren auf Distanz auf den Lern- und Transfererfolg?
Wir sprechen mit einem Absolventen und erfahren, dass der subjektive Lernerfolg von der Fachperson abhängt, die das Lernen begleitet. So wird zum Beispiel der Lernerfolg und die Qualität des Kurses hoch eingestuft, wenn Dozierende oder Tutoren es schaffen, interessante und involvierende Lernaufgaben zu formulieren und gehaltvolles, individuelles Feedback zu geben. Teilen sie hingegen Lernaufgaben zu, ohne die Lernenden einzubeziehen und fallen die Peer-Feedbacks wenig gehaltvoll aus, leidet die Freude am Kurs, genau wie der Lernerfolg. Diese Erkenntnis ist für uns nicht neu. Vielmehr bestärkt sie uns in unserer Überzeugung, dass Online-Lernen dann attraktiv sein kann, wenn es die Reichweite und zeitliche Unabhängigkeit vergrössert, gleichzeitig aber auch die individuelle Sichtbarkeit und das Wahrgenommenwerden des Lernenden durch einen kompetenten Lernbegleitenden realisiert wird. Persönliche Betroffenheit zu erzeugen, scheint in reinen Online-Formaten anspruchsvoller als in Blended-Learning-Formaten. Das wird auch in Zukunft ein unverzichtbarer Erfolgsfaktor des individuellen Lernens bleiben.
Mehr Technologie im HR
Weiter geht es mit der Frage: Wie wandelt sich der Bereich Human Resources in einer zunehmend digitalen Arbeitswelt? Im Gespräch mit HR-Experten erfahren wir, was HR in Zukunft erfolgreich machen kann. Es sind dies: «out-of-the-box» denken, das Kerngeschäft der Organisation erfassen und einen nachvollziehbaren Geschäftserfolg realisieren. Soweit also nichts Neues, vielmehr sind dies seit langem an die Adresse des HR formulierte Ansprüche. Neu ist hingegen, dass HR vermehrt von technologischen Lösungen assistiert und geleitet wird. Dabei geht es nicht nur darum, Prozesse zu automatisieren und damit effizienter zu machen. Es geht auch darum, mit Hilfe von künstlicher Intelligenz schneller und auf einer umfassenden Informationsgrundlage zu besseren Entscheidungen und Lösungen zu gelangen. Ein Beispiel dafür sind neue, technologiebasierte Ansätze, die in Selektionsprozessen bereits angewendet werden: zum Beispiel die automatisierte Stimmanalyse in auch schon teilweise automatisierten Selektionsgesprächen; oder Algorithmen, die datenbasiert auf persönliche Eigenschaften von Interessenten/-innen rückschliessen. Dabei haben wir aber auch kritische Stimmen gehört, die Zweifel an der Qualität einer auf Algorithmen basierten Selektion hegen. Der Grund: Dem menschlichen Urteilsvermögen, das in der Intuition verankert ist, wird eine andere, vergleichsweise originellere und mutigere Entscheidungsqualität zugeschrieben als sie Algorithmen erzeugen können, die auf der Basis einer Rechenregel vergleichsweise invariabel Datensätze analysieren. Folgt man Forschern wie z.B. Gerd Gigerenzer, finden sich ja tatsächlich Belege für die erstaunlich hohe Qualität intuitiver Urteile. Trotz sehr hoher Technikaffinität und täglicher Reifung der Künstlichen Intelligenz für Selektionsprozesse, gibt es auch im Silicon Valley noch Fachpersonen, die überzeugt sind, dass der Mensch am Ende doch zu besseren, die Komplexität des gesamten Kontextes miteinbeziehenden Entscheidungen kommen kann. Wie gross diese Gruppe hingegen ist, wissen wir nicht. In jedem Fall ist es nötig, dass HR-Fachpersonen zukünftig eine hohe Digital- und Technologie-Affinität mitbringen und verstehen, was hinter den Programmen steckt.
Natürlich wollen wir auch mehr darüber erfahren, wie im Tal der technologischen Innovationen gearbeitet und zusammengearbeitet wird. In allen Gesprächen erfahren wir, dass agile Methoden wie «Scrum» oder «Design Thinking» zum Alltag bei der Projekt- und Innovationsarbeit gehören. Teams arbeiten schnell und in kurzen Arbeits- und Innovationszyklen. Dabei lernen wir, dass es auf dem Weg zum Erfolg auch darum geht, schnell und kostengünstig in kleinen Projektschritten zu scheitern, um sich auf dieser Erkenntnis-Grundlage während des Prozesses fortwährend neu und besser auszurichten. Von einigen der schillernden Pioniere im Silicon Valley ist bekannt, dass sie vor dem grossen Durchbruch mehrmals als Unternehmer gescheitert sind. Dennoch glauben wir nicht daran, dass Scheitern, wie oftmals propagiert, «erwünscht» ist. Vielmehr nehmen wir wahr, dass Scheitern im Tal der unbegrenzten Möglichkeiten weit verbreitet ist und sehr häufig mit einer menschlichen und existenziellen Tragödie einhergeht.
Netzwerken ist alles!
Was wir schnell gelernt haben: Fast all unsere Gesprächspartner sind «always on» und erwarten das auch von uns. Das realisieren wir, wenn zum Beispiel Termine oder Treffpunkte kurzfristig via LinkedIn oder Whatsapp umgebucht werden und ebenso kurzfristig interessante Einladungen hereinschneien. Zwei Stunden nicht online zu sein, hat zur Folge, dass wir einen Treffpunkt oder eine vielversprechende Einladung, die bereits drei Stunden später stattfindet, verpassen. Damit einher geht eine grosse Bereitschaft zur Vernetzung von Menschen, die möglicherweise ähnliche Interessen haben und sich gegenseitig jetzt oder in Zukunft helfen könnten. Wir werden häufig in Windeseile mit Personen verbunden, meist über LinkedIn, mit denen wir auch noch reden sollten, um mit unserem Projekt weiterzukommen. Ebenso gross haben wir die Bereitschaft erlebt, sich tatsächlich also «analog» mit uns zu treffen, Zeit aufzubringen mit ungewissem Nutzen. Warum? – fragen wir uns, wo doch Zeit hier ein ganz besonders knappes Gut zu sein scheint. Uns geht Peter Blaus «Austauschtheorie» als mögliche Erklärung durch den Kopf. Demnach treibt uns alle in unseren Interaktionen das Prinzip der Reziprozität an – gebe ich dir, gibst du mir ebenfalls, irgendwann einmal. Verhaltensökonomisch betrachtet macht es also Sinn, Zeit in Gefälligkeiten wie zum Beispiel Gespräche zu investieren, weil dadurch ein Netz von erwartbaren Gegenleistungen gewoben wird. Solche Netze sind hilfreich, in Phasen der Ideenentwicklung sind sie vermutlich unverzichtbar. Netzwerken ist alles! – Das nehmen wir auch im informellem Rahmen war: In Cafés lauschen wir zahlreichen Gesprächen an Nebentischen, die alle nach demselben Schema verlaufen: Ideen werden geschildert, Träume skizziert, und immer geht es um das ganz grosse Business, die grosse Geschäftsidee, die noch gesucht oder schon getestet werden soll. Man trifft sich, stellt sich vor, erzählt von seinem Projekt, wird gefragt, worin genau die Geschäftsidee besteht und wie weit man in der Realisierung gekommen ist. Dann folgt die Vernetzung: «he definitely can give you access to…», «you should talk to him». Manchmal auch «you should talk to her». Als das Treffen nach kurzer Zeit zu Ende geht, versichert man sich: «I will be absolutely happy to meet again, anytime! We will stay in contact.» Und weiter geht`s, vielleicht zum nächsten Treffen. Eben: Netzwerken ist alles! – Es verspricht die Chance, dass sich irgendwann einer der Kontakte als Helfer, Türöffner, Partner, Investor, oder ähnliches erweisen wird. Wir sind beindruckt, weil wir diese Bereitschaft zum Einfädeln und Wahrnehmen von Kontakten, zum Weitervermitteln im eigenen Netzwerk mit ungewissem Ausgang in unserer Arbeitswelt zuhause nur wenig kennen.
Was bleibt nach einer Woche in der Bay Area und im Tal der unbegrenzten Möglichkeiten? Wir nehmen zwei Welten wahr: Eine Welt der Zukunft – progressiv, von Leistung, Technologie und der Suche nach der besseren Idee getrieben, extrem projekt- und zukunftsfokussiert, eine Welt, in der uns Vergangenes fast wie Ballast vorkommt und die manchmal den Eindruck erweckt, dass sie die Gegenwart auch schon hinter sich gelassen hat. Eine Welt, die global ausgerichtet ist. Und eine Welt der Gegenwart – in der Menschen jeden Tag versuchen, die Probleme zu lösen, die gerade anstehen, in der es scheinbar wenig Raum für Zukunft gibt, weil alle Ressourcen dafür benötigt werden, heute durchzukommen. Eine Welt in der sich nicht wenige Menschen mit mehreren Jobs über Wasser halten oder auf der Strasse leben, weil sie sich keine Wohnung und schon gar keine medizinische Versorgung leisten können. Eine Welt in der die öffentliche Infrastruktur alles andere als modern ist. Eine Welt, in der viel Energie verschwendet wird, weil das Bewusstsein oder die Mittel für ressourcenschonende Investitionen fehlen. Eine Welt in der Bildung sehr teuer und für viele unbezahlbar ist.
Wir sind mit vielen Fragen angereist. Wir nehmen viele Anregungen und Ansätze für mögliche Antworten und Ideen, wie wir in Zukunft lernen und arbeiten, mit. Dabei drängt sich immer wieder die Frage auf: Wie können wir es besser machen, wenn es darum geht, Erfahrungen aus der Vergangenheit, Arbeits- und Lebensrealitäten der Gegenwart und Herausforderungen der Zukunft zu verbinden anstatt sie von einander abzutrennen?
Ellen Gundrum ist Trainerin und Leiterin der Stabsstelle Strategische Marktbearbeitung am IAP Institut für Angewandte Psychologie. Seit 2015 leitet sie ein Projekt, dass sich mit dem digitalen Wandel in der Arbeitswelt, Weiterbildung und Beratung befasst und diesen Wandel am IAP fördert und begleitet.
Birgit Werkmann-Karcher ist Dozentin und Beraterin am IAP Institut für Angewandte Psychologie der ZHAW. Sie leitet den Bereich Human Resources, Development & Sportpsychologie und ist auf Arbeitswelt 4.0, die Entwicklung von Teams und HR-Beratung spezialisiert.
Christoph Negri leitet das IAP Institut für Angewandte Psychologie. Er arbeitet als Dozent, hält Beratungsmandate für verschiedene Profit- und Non-Profit-Organisationen inne und berät diverse Schweizer Spitzensportlerinnen und Spitzensportler. Seit 2015 führt er am IAP verstärkt neue Entwicklungen im Bereich Lernen und Lehren ein und treibt den digitalen Wandel in Weiterbildung und Dienstleistung voran.