Ein Megatrend – und (noch) keiner macht mit

von Claudia Sedioli, Dozentin Berufspraxis und Marius Born, Dozent für visuelles Storytelling am IAM

Virtual Reality, Augmented Reality, 360°-Videos, interaktive Datenvisualisierungen – Technologie ist der grosse Treiber des visuellen Storytellings. Entsprechend grosses Potenzial wird den neuen Formaten attestiert. Renommierte internationale Medienhäuser produzieren immer wieder aufsehenerregende Multimediastories, die Preise einheimsen und das Publikum begeistern. Doch wie wenden schweizerische Redaktionen und Abteilungen der Unternehmenskommunikation die neuen Technologien an? Nur sehr zurückhaltend – so das Fazit der «IAM live»-Veranstaltung vom 3. Mai 2017 in Winterthur.

Exponentiell ist es, das Wachstum, das laut IAM-Dozent Marius Born für die Umsatzentwicklung von Virtual Reality (VR) und Augmented Reality (AR) vorausgesagt wird. «Vielleicht sprechen wir bald von a-Commerce statt von e-Commerce», so Born. Im Fokus des diesjährigen IAM live stand das Visuelle Storytelling. Und dafür ist Technologie der grosse Treiber – in ihrem Inpulsreferat waren sich die beiden IAM-Dozenten Marius Born (für den Fachbereich Visuelle Kommunikation verantwortlich) und Prof. Dr. Wibke Weber, die Visuelles Storytelling, Bildsemiotik, Infografiken und Datenvisualisierungen lehrt, einig: Live- und 360°-Videos, VR, AR und Datenvisualisierungen, animiert, interaktiv und immersiv – so werden heute Geschichten erzählt.

Marius Born während seiner Präsentation am IAM live 2017 (Photo: Manuel Bauer)

Show, don’t tell
Ohne Bilder, genauer gesagt Bewegtbilder, geht nichts mehr. Oder wie Wibke Weber es ausdrückte: «Bilder bewegen Kommunikation, sie verändern und steuern Kommunikation». Doch erst mit der Digitalisierung, dem Internet, mit Mobilekommunikation und Social Media zeige sich, wie prägend Bilder in unserer täglichen Kommunikation sind.  Neben VR und AR sorgen 360°-Videos und Erklärvideos, Infografiken oder Datenvisualisierungen für Aufmerksamkeit der Benutzer – oder besser: für deren totales Erlebnis. Storyliving ist das neue Storytelling: immersiv, interaktiv und datenbasiert.
Im Zuge von Open und Big Data, so legte Wibke Weber dar, haben Datenvisualisierungen eine steile Karriere hingelegt. Sie zeigen Geschichten, die sich hinter den Datensätzen verbergen, oft bieten sie dem Betrachter einen persönlichen Zugang, der durch personalisierte Abfragen erzeugt werden kann. So etwa, ein Beispiel aus der Unternehmenskommunikation, im interaktiven Regierungsbericht «Gesund durchs Leben» der Deutschen Bundesregierung, der von der Zürcher Agentur Interactive Things produziert wurde. Im Bericht können User beispielsweise auf Daten zur Lebenserwartung in ihrer eigenen Wohngemeinde zugreifen. Auch im Journalismus liefern Datenvisualisierungen attraktive Formate, die die Benutzer zum Entdecken und Erforschen einladen: Die Darstellung «Bauland. So wird die Schweiz zersiedelt» von SRF Schweizer Radio und Fernsehen erlaubt es, die Zersiedelung der eigenen Wohngemeinde auf einer Zeitachse mitzuerleben.

«Story is King»
Aller Technologie-Euphorie zum Trotz: Ohne gute Story kein gutes Storytelling. Das betont auch IAM-Referent Marius Born: «Ohne spannende Schauplätze, die wechselnde Perspektiven bieten, ist beispielsweise 360° sinnlos. Story is King». Und Wibke Weber macht klar, dass narrative Immersion per se nichts Neues ist: «Es ist das Eintauchen in eine Geschichte – etwas das auch beim Lesen, Zuhören oder Zuschauen geschieht.»

«Bilder bewegen Kommunikation, sie verändern und steuern Kommunikation.» Wibke Weber am IAM live 2017  (Photo: Manuel Bauer)

Ein Megatrend – und (noch) keiner macht mit?
Die erweiterten technischen Möglichkeiten bieten also sowohl der Organisationskommunikation als auch dem Journalismus ungeahnte Chancen fürs Storytelling. Doch wie werden 360°, VR, AR und Datenvisualisierungen in der Praxis verwendet?  Die Fachleute auf dem Podium, deren Diskussionen von der IAM-Dozentin Claudia Sedioli moderiert wurden, dämpften die Euphorie gehörig: Sara Maria Manzo, seit einem Jahr Online-Videochefin bei der NZZ, verfolgt vorerst eine Strategie ohne VR und AR: «Wenn es um Erlebniswelten geht, ist das Experimentieren mit VR und AR spannend. Im Journalismus wollen Sie aber in die meisten aktuellen Themen nicht eintauchen: Ich zum Beispiel will nicht in den Krieg nach Syrien! Vor allem Bewegtbilder haben eine immense Macht, sie gehen direkt ins Herz, da haben wir eine Verantwortung gegenüber dem User, die wir wahrnehmen sollen.»

Die Aula war fast bis auf den letzten Platz besetzt. (Photo: Manuel Bauer)

Die Brille stört
Benjamin Wiederkehr von der Zürcher Agentur Interactive Things, die auf visuelles und datengetriebenes Storytelling spezialisiert ist, hält vor allem die VR-Brille für ein grosses Hindernis: «Unsere Inhalte werden im Internet, auf dem Smartphone konsumiert, also im Kontext, in dem sich der User befindet». Timo Wäschle outete sich ebenfalls als VR-Skeptiker und wies darauf hin, dass die Brille über den Gamingbereich hinaus wenig Akzeptanz finde – und es einigen User nach einer VR-Reise mit der Datenbrille schlicht und einfach übel werde. Grundsätzlich plädierte er dafür, nicht von der Technologie, sondern vom inhaltlichen Ziel her zu konzipieren: Wenn eine komplexe Geschichte erklärt werden solle, wähle man einen Animationsfilm, wenn es darum gehe, viele Emotionen zu vermitteln, einen Realfilm.

Chancen auf Empathie und Unterhaltungswert
Mit 360°-Videos und Virtual Reality arbeitet hingegen der Vertreter des Kinderdorfs Pestalozzi, Remo Schläpfer, der dort den Bereich Medien und Kampagnen leitet. Seine Videos zeigen in der Rundumperspektive die Schulzimmer, die Dörfer, den Alltag der Kinder, für die sein Hilfswerk sich engagiert: «Das ist eine Technologie, die es erlaubt wie keine andere, Gefühle und Empathie zu wecken.» Chancen sieht auch der SRF-Datenjournalist Timo Grossenbacher: «Bei uns geht es vor allem darum, komplexe Sachverhalte so zu inszenieren, dass sie nicht nur interessant sind, sondern auch Spass machen.» Deshalb biete SRF den Usern möglichst einen individuellen Nutzen:  «Der personalisierte Zugang zu den Daten wird immer wichtiger». Während personalisierten Datenvisualisierungen einhellig eine grosse Zukunft vorhergesagt wird, waren die Podiumsgäste grundsätzlich zurückhaltend, was VR und AR angeht: Timo Wäschle sieht in den Anwendungen der neuen Technologien nicht zuletzt viel Effekthascherei, die nur kurze Aufmerksamkeitsspannen generiert.

Claudia Sedioli hat die Podiumsdiskussion am IAM live 2017 moderiert. (Photo: Manuel Bauer)

Auch für kleines Geld?
Wie kosten- und ressourcenintensiv sind die neuen Formate? Was kann sich eine Kommunikationsabteilung eines KMU oder eine Regionalzeitung für vergleichsweise kleines Geld leisten? In die Karten – respektive Offerten – liessen sich die Podiumsgäste nicht wirklich blicken. Während der NGO-Kampagnenleiter Remo Schläpfer von einem Freundschaftspreis profitiert haben will und nicht mehr als für einen klassischen Film ausgegeben habe, verspricht Corpmedia-Inhaber Timo Wäschle Return on Investment. Benjamin Wiederkehr wies auf die Möglichkeiten hin, mit Open-Source-Inhalten zu arbeiten und so Kosten zu sparen.

Podiumsrunde (v.l.): Timo Grossenbacher, Sara Maria Manzo, Timo Wäschle, Claudia Sedioli, Benjamin Wiederkehr, Remo Schläpfer (Photo: Manuel Bauer)

Glaubt man den Experten auf dem IAM-live-Podium, bleibt das exponentielle Wachstum zumindest für VR und AR in der Organisationskommunikation und im Journalismus Zukunftsmusik. Raffinierte Datenvisualisierungen, Erklärvideos und gezielt eingesetzte 360°-Videos sind jedoch bereits heute mehr als eine Verheissung. Sie machen Storyliving möglich, wo vorher Storytelling angesagt war.


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Schlagwörter: IAM live

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