„Es ist paradox: die journalistische Berichterstattung trägt wesentlich zur Stigmatisierung psychisch Kranker bei; dennoch braucht es eine Sensibilisierung durch Medienarbeit.“ (Vinzenz Wyss)
Im April 2014 hat die Schweiz die UNO-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet. Sie soll allen Menschen, die in irgendeiner Form beeinträchtigt sind, die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen. Hinzu kommen neue Kindes- und Erwachsenenschutzrechte. Dies ist ein Paradigmenwechsel. Zukünftig werden betroffene Menschen mitbestimmen, wo sie sich die notwendige Unterstützung holen.
Journalistik-Professor Vinzenz Wyss beschäftigt sich am IAM mit der Frage, wie journalistische Medien funktionieren und wie sie Realität konstruieren. Die Solodaris Stiftung wollte von ihm wissen, welche Möglichkeiten die Medien haben, die Teilhabe zu fördern, wie gut sie dieser Erwartung gerecht werden und wie die Medienberichterstattung die öffentliche Wahrnehmung von psychischen Erkrankungen beeinflusst.
Teilen Sie den Eindruck, dass in den Medien psychische Erkrankungen oft mit Straftaten in Verbindung gebracht werden und also eben gerade nicht zur Inklusion beitragen?
Man kann selbstverständlich nicht alle Medien in einen Topf werfen; auch da gibt es solche die reflektierter und solche die bloss reflexartig über das gesellschaftlich relevante Problem der psychischen Erkrankungen berichten. Generell muss man aber schon feststellen, dass in der journalistischen Berichterstattung das Thema am häufigsten im Zusammenhang mit Straftaten, Verbrechen oder Gewalt vorkommt. Das ist nicht unproblematisch, weil wir auch wissen, dass der Journalismus die meistgenutzte Quelle der Information über psychische Erkrankungen ist.
Wie kann man so einen Zusammenhang feststellen?
Zu den Routinen der – übrigens zunehmenden – medialen Berichterstattung über psychische Erkrankungen gibt es seit mehr als einem Jahrzehnt aufschlussreiche medienwissenschaftliche Studien. Man geht davon aus, dass eine beharrlich negative und stigmatisierende Berichterstattung wesentlich dazu beiträgt, wie Menschen psychische Erkrankung wahrnehmen. An unserem Institut für Angewandte Medienwissenschaft der ZHAW in Winterthur konnten meine Kollegen Angelica Hüsser und Michael Schanne in einer breit angelegten Zeitungsanalyse etwa feststellen, dass nicht nur die Gewalt von psychisch Kranken vergleichsweise häufig thematisiert wurde, sondern auch die zerstörende Kraft der psychiatrischen Institutionen. Die Psychiatrie wird in den Medien als Einbahnstrasse inszeniert.
Würden Sie diese Einbahnstrasse auch als ein weiteres Indiz für ein Ausgrenzen verstehen?
Genau. Nicht untypisch dafür ist ein Meldung wie diese: Nachdem der Täter sein Opfer getötet, aufgeschlitzt und Teile von ihm gegessen haben soll, wird er aufgrund des Gutachtens nicht wegen Mordes angeklagt, sondern wegen einer Geisteskrankheit in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen. Das meine ich mit Endstation. Gerade Psychosen werden in den Medien gerne als “dämonisch” dargestellt. Es ist weniger die Rede davon, dass erkrankten Menschen auch geholfen werden kann, dass auch sie ein „normales“ Leben führen können. Nein, es ist eben beispielsweise der grausame Fritzl aus Österreich oder der psychisch kranke Co-Pilot von Germanwings, welche in die Schlagzeilen kommen. Und im Tötungsdelikt von Rupperswil fragen die Medien bei jeder Gelegenheit, ob es sich hier nicht um einen geisteskranken Täter handeln müsse.
Sie thematisieren also eigentlich das, was von der Norm abweicht?
Tatsächlich sollten wir vom Journalismus nicht etwas erwarten, was dessen Logik widerspricht. Journalismus thematisiert nicht das „Normale“, sondern das, was eben davon abweicht, was uns irritiert, was eine erwartete soziale Ordnung stört oder stören könnte. Diese Logik des Journalismus ist für die Gesellschaft insgesamt schon funktional; sie lässt uns über das öffentlich debattieren, wo es eben Konflikte auszutragen gilt. Und weil uns diese mediale Freiheit zur medialen Irritation so wichtig ist, nehmen wir halt auch Stigmatisierungen in Kauf, wenn beispielsweise ein Politiker wie Geri Müller mit seinen privaten, digitalen Kurz-Liebesbriefen an eine angeblich psychisch labile Frau bereits die Empörung der Medien der Leute von Seldwyla evoziert.
Es scheint, als gelte das Abweichen vom Normalen als „medienwirksam“ und vielleicht auch als absatzsteigernd?
Und das ist beim Thema psychische Erkrankung nicht anders. Journalismus berichtet kaum aus dem alltäglichen Leben von psychisch Kranken, sondern eben eher im Zusammenhang mit kriminellen Handlungen oder sozial abweichendem Verhalten. Die Winterthurer Studie zeigt zudem, dass Personen und nicht Prozesse, Probleme und nicht Lösungen medial in den Vordergrund gerückt werden. So spielen wissenschaftliche Begriffe, Erkenntnisse oder Einordnungen in der Berichterstattung nur am Rande eine Rolle. Journalismus reduziert Komplexität, vereinfacht im Dienste der erwarteten Publikumsorientierung.
Dies ist natürlich ein Problem, wenn Journalisten bei sensiblen und komplexen Themen auf triviales Alltagswissen zurückgreifen. Psychisch Erkrankte werden gemäss weiterer Studien in den Medien oft als kindische, nicht weiter kontrollierte und deshalb einer fortwährenden Aufsicht bedürftige Menschen umschrieben. Erinnern Sie sich an die so genannte „Zuger Sex-Affäre“? Auch da spielte das unterkomplexe Narrativ der Verrücktheit aus einer anderen Welt in einer sehr komplexen – übrigens privaten – Geschichte eine starke Rolle. Ein Journalist der Zuger Zeitung masste sich sogar an, öffentlich auf Twitter raus zu posaunen, Jolanda Spiess-Hegglin sei „einfach nur krank, was sie jeden Tag beweise.“ Viel journalistische Aufklärung ist da nicht zu erwarten.
Aber bestünde nicht gerade die Aufgabe des Journalismus darin, dem Thema „psychische Erkrankungen“ sensibler zu begegnen? Braucht es da besondere Talente dazu?
Journalismus ist selten eine Angelegenheit eines Einzelnen. Vielmehr haben wir es mit einer Berufskultur zu tun, welche halt eben solche Regeln und Routinen ausgeprägt hat. Diese können ja auch – wie eben gesagt – funktional sein. Etwa dann, wenn es im Politjournalismus darum geht, die Aufmerksamkeit auf tatsächliche Missstände zu lenken oder eben in der Gesellschaft einen öffentlichen Diskurs über ungeklärte, wichtige Fragen anzustossen. Trotzdem haben Sie natürlich recht, wenn Sie vom Journalismus, seinen Organisationen und letztlich von den Journalisten erwarten, dass diese die Folgen ihres Handelns beachten. Wenn also Journalisten über psychisch erkrankte Menschen berichten, so sollten sie eben das gängige Muster reflexiv als solches erkennen, und beispielsweise dafür sensibilisiert sein, dass Skurrilität auch Stigmatisierung nach sich ziehen kann. Es ist eben meistens nicht alles so eindeutig, wie es der Journalismus gerne haben möchte. Guter Journalismus zeichnet sich dadurch aus, dass er eben auch verantwortungsvoll mit Ungewissheit umgeht und diese transparent macht.
Oder dass er auch mal schweigt, wenn es nichts zu sagen gibt?
Genau, denn gerade bei der verallgemeinernden Berichterstattung über Straftaten im Zusammenhang mit psychischer Erkrankung kann eine solche Stigmatisierung nämlich auch zur Folge haben, dass beim Publikum des Journalismus Unsicherheit und Ängste geschürt werden; und diese können wiederum zu einer verstärkten Isolation der „doppelt“ betroffenen Opfer führen und damit eher zur Exklusion. Da muss bei den Journalisten schon eine Verantwortungsethik eingefordert werden, also ein Handeln, das auch dessen Folgen verantwortungsvoll reflektiert und eben nicht einfach reflexartig schreibt, was vermeintlich zu sein scheint.
Gibt es dafür auch Regeln im Sinn einer Berufsethik?
Es gibt im so genannten Journalistenkodex, über welchen der Schweizer Presserat wacht, tatsächlich solche Regeln, die darauf hinweisen, dass Journalisten gegenüber Personen, die sich in einer Notlage befinden oder die unter dem Schock eines Ereignisses stehen sowie bei Trauernden besonders zurückhaltend sein sollen. Und es gibt etwa extra eine Richtlinie, welche bei Suizidfällen – Gerade auch wegen möglicher Nachahmungen – grösste Zurückhaltung fordert. Ich denke aber, dass es im Falle der zunehmenden Berichterstattung über psychische Erkrankungen tatsächlich auch an Wissen mangelt. Es müsste also auch darum gehen, sich diesbezüglich empirisch gesichertes Wissen anzueignen, bevor man mit Alltagswissen drauflos schreibt. Es ist sicher nicht falsch, Journalisten immer wieder – vielleicht auch durch adäquate Massnahmen in der Öffentlichkeitsarbeit – auf die Vielschichtigkeit dieses Problems hinzuweisen und mit ihnen zusammen trotzdem interessante Geschichten zu finden, die letztlich einer besseren Verständigung und hoffentlich auch Inklusion dienen.
Erstveröffentlichung:
Orginaltext im Solidaris-Newsletter vom Januar 2016