Partizipative Gesundheitsforschung am WIG

Von Irene Kobler

Partizipative Forschungsansätze halten in jüngster Zeit im gesamten deutschsprachigen Raum vermehrt Einzug. Im Forschungsalltag fällt auf, dass bei Ausschreibungen immer häufiger partizipative Ansätze gewünscht werden. Aber was ist partizipative Gesundheitsforschung (PGF) überhaupt?

PGF ist eine Forschungshaltung, die in jeder Forschungsdisziplin anwendbar ist. Sie schöpft aus einem breiten Spektrum partizipativer Ansätze und Methoden aus der Sozialforschung, die sich für eine demokratische und inklusive Gesellschaft einsetzen. Dazu gehören beispielsweise die «community-based participatory methods» oder «emanzipatorische Forschungsansätze» (Wright et al., 2021).

Dieser wissenschaftliche Ansatz, der bereits seit den 1980er Jahren angewendet wird, versteht die Durchführung von Forschung als Co-Produktion aller beteiligten Stakeholder. Besonders viel Wert wird darauf gelegt, dass neben den Wissenschaftler:innen auch diejenigen Menschen, deren Arbeits- oder Lebenswelt untersucht wird, maximalen Einfluss auf den gesamten Forschungsprozess nehmen können. In der Gesundheitsforschung sind das beispielsweise Patient:innen, Angehörige, Entscheidungsträger oder Gesundheitsfachpersonen. Die Erforschten werden als Forschungspartner:innen auf Augenhöhe mit einbezogen und die Kernelemente des Forschungsvorhabens von der Definition des Forschungsgegenstandes über die Methodenwahl, Datensammlung und Datenauswertung bis hin zur Interpretation der Ergebnisse gemeinsam definiert. Neben der partnerschaftlichen Organisation steht die kontinuierliche Reflexion der Machtverhältnisse der beteiligten Akteure im Zentrum (Wright et al., 2021; PartNet, 2015).

Warum ist PGF wichtig?

PGF ist ein wertvoller Ansatz, um die Gesundheitsversorgung zu verbessern. Durch die Beteiligung der Erforschten an der Forschungsagenda werden Themen und Fragen identifiziert, die für die Betroffenen besonders relevant sind. Zusätzlich führt die Integration der Zielgruppen in den Forschungsprozess zu handlungspraktischen Resultaten. Ebenso trägt die partizipative Forschung dazu bei, Vorurteile gegenüber der Forschung bei denjenigen, die Gegenstand der Untersuchung sind, abzubauen und Veränderungen in Gang zu setzen.

Wann ist ein Forschungsprojekt partizipativ?

Um diese Frage zu beantworten, liegt eine Vielzahl unterschiedlicher Stufenmodelle vor (z.B. A. Rudqvist & P. Woodford-Berger, 1996; Arnstein, 1969; Wright et al., 2013). Mir selbst bietet bislang das klar strukturierte Stufenmodell von Wright (Abb. 1) die beste Unterstützung.

Das Modell kann während des gesamten Forschungsprozesses regelmässig beigezogen werden, um den Grad der Partizipation zu reflektieren. Partizipation beginnt, wenn die beforschten Menschen einen aktiven Einfluss auf ein Forschungsprojekt haben und dieser formal definiert ist. Wie in Abbildung 1 dargestellt ist formale Partizipation erst durch die Mitbestimmung, die Vergabe von Entscheidungskompetenzen und Entscheidungsmacht erfüllt (Stufen 6 bis 8). Dabei bedeutet Mitbestimmung beispielsweise, dass ein Forschungsvorhaben nicht allein von der Forschungsorganisation entwickelt wird, sondern gemeinsam mit den Erforschten ausgearbeitet wird. Eine Stufe weiter im Partizipationsprozess ist die Übergabe der Entscheidungsmacht. Hierbei wird den beforschten Gruppen die Leitung bestimmter Arbeitspakte übertragen, wie beispielsweise die Datenerhebung oder die Rekrutierungsstrategie. Ab Stufe 8 bestimmen die Vertreter:innen der beforschten Gruppe alle wesentlichen Bestandteile des Forschungsprojekts mit (Wright 2013).

Abb. 1: Stufenmodell PGF, Wright (2013)

Das Stufenmodell unterstützt die Forschenden auch darin, «Scheinpartizipation» zu vermeiden. Bei «Scheinpartizipation» wird zwar Partizipation behauptet, in Wahrheit ist sie jedoch nicht vorhanden. Etwa wenn Patient:innen für eine Studie befragt werden und vom Forschungsteam behauptet wird, dass es sich dabei um ein partizipatives Forschungsprojekt handelt. Denn bei einer Befragung handelt es sich weder um eine Forschungspartnerschaft auf Augenhöhe, noch um aktive Mitbestimmung. Scheinpartizipation ist im Alltag gar nicht so selten, da in der Praxis die Möglichkeiten des Miteinbezugs aus unterschiedlichen Gründen, zum Beispiel aufgrund fehlender Ressourcen der Zielgruppe, eingeschränkt sein können.

Trotz ihrer aktuellen Beliebtheit und den genannten Vorteilen ist PGF nicht ohne Herausforderungen. Herausfordernd sind Machtungleichgewichte, unterschiedliche Erwartungen und die Notwendigkeit, die Integrität und Qualität der Forschung sicherzustellen.

Partizipative Forschung am WIG

Erfolgreich umgesetzte partizipative Forschungsprojekte finden sich auch am WIG. Beispielsweise wurde bei der Entwicklung der Wissensplattform für den Förderverein Kinder mit seltenen Krankheiten auf einen umfassenden partizipativen Ansatz gesetzt (siehe Blog KMSK und KMSK Neue Wissensplattform). Gemäss Schema von Wright 2013 ist dieses Projekt klar partizipativ, da bereits die Initiierung des Vorhabens unter Mitbestimmung der betroffenen Familien erfolgt ist. Somit ist es der Stufe 7 «Mitbestimmung» zuzuordnen. 

Darüber hinaus entwickeln wir vom Team Versorgungsforschung im Rahmen des interdepartementalen Schwerpunkts Angewandte Gerontologie der ZHAW aktuell ein Video zur Erklärung der Pflegefinanzierung. Dieses wird später in der Lehre und Weiterbildung eingesetzt. Um ein Erklärvideo zu erstellen, welches für die Zielgruppe – die Studierenden – den grösstmöglichen Nutzen bringt, haben wir von Beginn an eine Studentin ins Projekt einbezogen, welche eng mit uns zusammenarbeitet und Entscheidungen mit trifft. Dieses Projekt ist zwischen Stufe 6 und 7 auf dem Stufenmodell anzusiedeln, da der Einfluss der Studentin bei der Themenwahl etwas eingeschränkt war, die nachfolgenden Schritte jedoch partnerschaftlich konzipiert und durchgeführt werden. Mehr zu diesem Projekt: Erklärvideo Pflegefinanzierung | ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.

Irene Kobler ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Team Versorgungsforschung am WIG.

Literatur

A. Rudqvist & P. Woodford-Berger. (1996). Evaluation and Participation: Some Lessons. Dept for Evaluation and Internal audit.
Arnstein, S. (1969). A ladder of citizen participation (35 (4); Journal of the American Planning Association, S. 216–224).
PartNet. (2013). PartNet Definition – Partizipative Gesundheitsforschung. http://partnet-gesundheit.de/ueber-uns/partnet-definition/
Wright, M. T., Allweiss, T., & Schwersensky, N. (2021). Partizipative Gesundheitsforschung. https://doi.org/10.17623/BZGA:Q4-I085-2.0
Wright, M. T., Block, M., Kilian, H., & Lemmen, K. (2013). Förderung von Qualitätsentwicklung durch Partizipative Gesundheitsforschung. Prävention und Gesundheitsförderung, 8(3), 147–154. https://doi.org/10.1007/s11553-013-0396-z


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert