ZWISCHEN ÄRZTESCHAFT UND PFLEGETEAM

Sie leiten Visiten oder verordnen Laboruntersuchungen: Als klinische Fachspezialistinnen und -spezialisten übernehmen Pflegefachpersonen in Spitälern ärztliche Aufgaben. Das Rüstzeug dazu erhalten sie am Departement Gesundheit.

VON ANDREA SÖLDI

Ein 83-Jähriger klagt über Schmerzen im Oberbauch, die in letzter Zeit stärker geworden sind. Was könnte die Ursache sein? Welche bildgebenden Untersuchungen sind nötig und sinnvoll? Mit solchen Fragen haben sich die Studierenden des Weiterbildungslehrgangs «CAS Klinische Fachspezialistin / Klinischer Fachspezialist» bereits vor dem Kurstag Ende Februar befasst. Nun sitzen sie im Schulzimmer des ZHAW-Departements Gesundheit in Vierergruppen zusammen, diskutieren ihre Lösungsansätze und halten sie auf einem Flipchartbogen fest. «Mit einer Computertomografie kann man die Situation dank der Schnittbilder viel genauer beurteilen als mit einem Ultraschall», wirft Milica Trifkovic ein. Die Röntgenstrahlen und das Kontrastmittel der Computertomografie (CT) seien aber belastend für die Niere, hält ihre Kollegin entgegen. Zudem sei eine Ultraschalluntersuchung einfacher und günstiger.

Mit dem CAS bereiten sich Pflegefachpersonen auf ihre neuen Aufgaben als klinische Fachspezialisten vor. Die Funktion, die vor fünf Jahren am Kantonsspital Winterthur (KSW) eingeführt wurde, liegt im Graubereich zwischen dem ärztlichen und dem pflegerischen Sektor. Die Pflegefachpersonen mit erweiterten Aufgaben sind dem Ärzteteam zugeordnet, ihre Kompetenzen werden auf einem speziellen Delegationsformular definiert. Sie vertreten Ärztinnen und Ärzte auf der Station, indem sie zum Beispiel Visiten leiten, den Heilungsverlauf von Wunden einschätzen, Laboruntersuchungen und Medikamente verordnen sowie Austrittsberichte schreiben. Die Funktion der klinischen Fachspezialisten entspricht derjenigen von sogenannten Physician Assistants in den USA und Deutschland beziehungsweise Physician Associates in Grossbritannien. In den USA wurde sie bereits in den 1960er-Jahren eingeführt. In der Schweiz verfügen klinische Fachspezialisten bis anhin nicht zwingend über einen Masterabschluss und üben vorwiegend ärztlich delegierte Tätigkeiten aus. Das unterscheidet sie von Gesundheitsfachkräften in Advanced-Practice-Rollen, die grundsätzlich über mehr Autonomie verfügen. Der Übergang sei aber fliessend, sagt Anita Manser, Leiterin Weiterbildung des Instituts für Gesundheitswissenschaften an der ZHAW. Da beide Gruppen in der Schweiz bislang nicht separat abrechnen können, findet sie eine klare Abgrenzung nicht sonderlich relevant. «Im Fokus sollte stets das Wohl der Patienten stehen.»

Sicherheit kommt mit Erfahrung

Milica Trifkovic arbeitet bereits seit eineinhalb Jahren als klinische Fachspezialistin im KSW, abwechslungsweise auf der Traumatologie und der Orthopädie. «Am Anfang habe ich stets lange überlegt, bevor ich mich für eine Massnahme entschied», sagt die 28-Jährige. «Unterdessen fühle ich mich sehr sicher.» Bei Unklarheiten studiert sie die Fachliteratur und hält Rücksprache mit dem Oberarzt, dem sie direkt unterstellt ist. Sie habe gelernt, worauf man etwa bei einer Oberschenkelfraktur oder nach dem Einsatz einer Hüftprothese achten müsse. Dass in ihrem Fachgebiet ein Grossteil der Behandlungsverläufe nach einem bestimmten Schema gehandhabt wird, kommt der Pflegefachfrau mit Bachelorabschluss entgegen. Weitere Kenntnisse eignet sie sich derzeit in der Weiterbildung an der ZHAW an. Im Kurs «Bildgebende Diagnostik» an der ZHAW erörtert Joachim Hohmann unterdessen den Fall des Patienten mit Oberbauchschmerzen. Der leitende Arzt der Radiologie am KSW projiziert ein CT-Bild auf die Leinwand. Auf einer schwarzen, runden Fläche sind graue und weisse Strukturen sichtbar – Knochen und Organe. Die Gallenblase erscheint dunkelgrau, die Wand dicker als gewöhnlich. «Könnte es da einen Stein haben?», fragt Hohmann in die Runde. Bei Verdacht auf Gallensteine sowie Entzündungen der Gallenblase sei in der Regel der Ultraschall die Methode der Wahl, erklärt der Spezialist. Doch weil man bei einem 83-Jährigen auch an andere Ursachen wie etwa Tumoren denken müsse, habe man zuerst ein CT gemacht. Der Nutzen der Untersuchung überwiege in so einem Fall die Risiken der Strahlenbelastung.

Lehrgang stösst auf Interesse

Im Modul «Medizinische Grundlagen», zu dem die bildgebende Diagnostik gehört, wird vorwiegend gemäss dem Modell Flipped Classroom gearbeitet: Die Studierenden bereiten sich anhand von Fallbeispielen vor und befassen sich mit Fachliteratur. An den Kurstagen werden die Themen besprochen. «So können unterschiedliche Wissensstände teilweise ausgeglichen werden», erklärt Anita Manser. Denn Erfahrungen und Alter der Teilnehmenden seien sehr verschieden. Während einige bereits eine Zusatzausbildung wie etwa Intensivpflege oder Anästhesie genossen haben, verfügen andere über einen Bachelor- oder Masterabschluss. Die Inhalte können je nach Bedürfnissen und Lücken individuell zusammengestellt werden. Im zweiten Modul, in dem es um Gesprächsführung geht, kommen Schauspieler und Videoaufnahmen zum Einsatz. So üben die Studierenden den Umgang mit Patienten und ihren Angehörigen. Für diese Aufgabe sind sie im Spital meist hauptverantwortlich. «Punkto Kommunikation sind Pflegefachpersonen meist besser ausgebildet als Ärzte», hält Manser fest. Im dritten Modul befassen sich die Studierenden dann mit organisatorischen und administrativen Aspekten und arbeiten an einem selbst gewählten Projekt – etwa einer Rollenbeschreibung oder einem Merkblatt für ihre Funktion. Der Lehrgang wurde in enger Zusammenarbeit mit dem KSW erarbeitet. Ein Jahr sei aber zu kurz, um sämtliche nötigen Inhalte zu vermitteln, sagt Manser. Das Departement Gesundheit plant nun, das CAS zu einem Master of Advanced Studies auszubauen. Der aktuelle Lehrgang hat im September begonnen und wird bereits zum dritten Mal durchgeführt. Sämtliche 24 Plätze sind besetzt. Stammten zu Beginn die meisten Teilnehmenden aus Winterthur, so kommen sie heute aus allen deutschsprachigen Landesteilen an die ZHAW. Denn diverse Kliniken haben das Modell unterdessen übernommen. Das schweizweit bis jetzt einzigartige CAS sei deshalb sehr gefragt, sagt Manser. Die neue Funktion bedeute eine zusätzliche Entwicklungsmöglichkeit für Pflegende. «Sie steht nicht in Konkurrenz mit der Ausbildung zur Pflegeexpertin, sondern zieht Personen mit anderen Interessen an», entgegnet sie auf die verschiedentlich geäusserte Kritik, mit der Übernahme ärztlicher Aufgaben heize man den Personalmangel in Pflegeberufen zusätzlich an.

Konstanz wird geschätzt

Tatsächlich entsprang der Gedanke ursprünglich dem Bestreben, Assistenzärzte zu entlasten. Damit sich diese besser auf ihre Ausbildung, etwa im Operationssaal, konzentrieren können, begann man auf der Chirurgie des KSW vor fünf Jahren, mehr Aufgaben an Pflegefachleute zu übertragen. Gleichzeitig habe man die beruflichen Chancen von Pflegenden sowie die Prozesse auf den Abteilungen verbessern wollen, sagt Markus Wepf, Pflegeleiter des Departements Chirurgie. Unterdessen arbeiten im KSW 20 klinische Fachspezialistinnen und Fachspezialisten, vorwiegend auf der Chirurgie und Medizin, zwei davon aber auch auf dem Notfall. Ein grosser Vorteil sei die grössere Konstanz, sagt Wepf. «Assistenzärzte bleiben jeweils nur ein paar Monate an derselben Stelle und müssen sich immer wieder neu einarbeiten.» Einige Stationen wie etwa die Traumatologie werden heute hauptsächlich von den klinischen Fachspezialisten betreut. Vonseiten der Pflegeteams werde es geschätzt, dass man längerfristig die gleiche Ansprechperson habe. Aufgrund ihres fachlichen Hintergrunds kennen Fachspezialistinnen zudem die pflegerischen Arbeitsabläufe bestens. Die klinischen Fachspezialisten erhalten zu Beginn einen Lohn, der demjenigen von Pflegefachpersonen mit Bachelor entspricht. Später können sie eine Lohnklasse aufsteigen. Sie verdienen zwar weniger als Assistenzärzte, arbeiten dafür aber nur 42 Stunden pro Woche statt 50. Der Stellenplan sei bei der Einführung etwas aufgestockt worden, sagt Wepf. Unterdessen konnten einige Arztstellen abgebaut werden. Als Ausbildungsspital könne man aber nicht beliebig zurück fahren, betont der Pflegeleiter. «Es handelt sich nicht um ein Sparprojekt.» Regelmässig schauen sich auch Delegationen anderer Spitäler das Modell im KSW an. Und im Herbst ist ein Symposium geplant, an dem sich diverse Player austauschen können. «Es braucht viel Kommunikation sowie ein professionelles Change-Management, um die starren Rollenbilder zu überwinden», schildert Wepf die Erfahrungen mit der Einführung der neuen Funktion. Auch im Berner Inselspital arbeiten mittlerweile zwei klinische Fachspezialisten. Eine davon ist Joëlle Mory, die derzeit den Lehrgang an der ZHAW absolviert. Neben dem 100-Prozent-Pensum sei die Weiterbildung fordernd, sagt die 29-Jährige. «Sie ist aber auch sehr hilfreich.» Mory ist auf der Traumatologie und Orthopädie des Inselspitals unter anderem für den Eintrittsstatus bei geplanten Behandlungen zuständig und fingiert als wichtigste Ansprechperson für die Patienten. «Ich suchte eine neue Herausforderung und wollte weg von der Schichtarbeit und der Pflege am Bett», begründet Mory, wieso sie die Chance ergriffen hat. «Ich verstehe mich als Brückenbauerin, die versucht, zwischen Ärzteschaft und Pflegefachpersonen zu vermitteln.» //

«Vitamin G», Seite 28-30


KOMPETENZEN FÜR NEUE ROLLEN ERWERBEN

Das «Certificate of Advanced Studies (CAS) Klinische Fachspezialistin/Klinischer Fachspezialist» besteht aus drei Modulen mit je neun Pflichttagen. Im Modul I werden medizinische Grundlagen verschiedener Fachgebiete vermittelt. Neben dem obligatorischen Kurs Labordiagnostik können aus weiteren 15 Themen 7 ausgewählt werden. Das Modul II widmet sich der Kommunikation sowie der Koordination vom Eintritt bis zum Austritt. Im Modul III werden betriebliche, wirtschaftliche, organisatorische und administrative Aspekte thematisiert. Das CAS wird mit 15 ECTS-Punkten honoriert und dauert mindestens ein Jahr. Der Lehrgang wendet sich an ausgebildete Pflegefachpersonen und andere Berufsgruppen aus dem Gesundheitsbereich mit einem Bachelorabschluss. Andere Interessierte wie etwa Gesundheitsfachpersonen HF oder Praxiskoordinatorinnen können sich für eine Sur-Dossier-Aufnahme bewerben. In der Regel wird der Besuch vorgängiger Module verlangt. Die Belegung von Tageskursen und Einzelmodulen ist auch ohne Auflagen möglich.


WEITERE INFORMATIONEN

Magazin «Vitamin G – für Health Professionals mit Weitblick»


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