WANN, WENN NICHT JETZT?

Oft wissen sie einfach nicht, wie sie sich entscheiden sollen. Manchmal entscheiden sie sich bewusst, schaffen es aber nicht, die Vorsätze umzusetzen: Menschen mit einer Erledigungsblockade. Ergotherapeutin Ruth Joss unterstützt sie dabei, den Alltag zu bewältigen.

VON RITA ZIEGLER

Vieles hielt mich davon ab, diesen Text zu Papier zubringen. Dies, obwohl ich mir fest vorgenommen hatte, mich gleich nach den Gesprächen hinter den  Computer zu klemmen. Da waren plötzlich E-Mails, die ich noch schreiben wollte, um meinen Kopf frei zu haben, ein unaufgeräumtes Büro, das mich vom Denken abhielt, die Bitte eines Kollegen, sein Manuskript zu lektorieren. Mehrfach steckte ich mir Deadlines, um sie dann wieder zu verpassen. Was ich im Kleinen erlebte, kennt Daniel seit fünfzehn Jahren. Er versucht, dagegen anzukämpfen – tagtäglich. Bisher meist vergebens. Auslöser war die Trennung seiner Eltern, vermutet er, dann das Ende der eigenen Beziehung, das ihn aus der Bahn warf. Cannabis und später auch Alkohol verstärkten seine Tendenz, sich gegen Konventionen aufzulehnen und alles auf den letzten Drücker zu erledigen. Seinen Lehrabschluss habe er nur geschafft, weil sein Vater ihm notfallmässig eine Lernquarantäne verordnet habe. Doch um seine Rechnungen und die Steuererklärung, um den Haushalt und die Wäsche musste er sich irgendwann selbst kümmern. Daran scheiterte er. Immer wieder. Obwohl er problemlos dazu fähig gewesen wäre. Kleider versperrten ihm den Weg zum Bett, Pendenzen türmten sich auf dem Schreibtisch. Die Post öffnete er oft gar nicht mehr aus Angst vor noch mehr Problemen, noch mehr Gewissensbissen. Der Schuldenberg wuchs und parallel dazu die Länge des Betreibungsauszugs.

DIESMAL WIRD ALLES ANDERS!
Heute ist Daniel 31 und sitzt – nach längerer Pause – wieder in der Praxis von Ruth Joss. Die Ergotherapeutin hat sich auf die Behandlung von Prokrastinierern spezialisiert; Menschen mit einer Erledigungsblockade, wie sie das Phänomen nennt. Statt nach Ursachen zu forschen, bietet sie das, was zu den Kernanliegen der Ergotherapie zählt: handlungsorientierte, alltagspraktische Hilfe. «Für meine Patienten personifiziere ich Entschlossenheit, Selbstdisziplin und Übersicht», sagt sie und ist sich nicht zu schade, mit ihnen auch mal einen Stapel Post zu sortieren, wenn sich die Belastung dadurch verringert und der Alltag wenigstens vorübergehend wieder funktioniert. Vier Boxen kommen jeweils zum Einsatz, beschriftet mit «dringend», «bald», «hat Zeit» und «Altpapier». Von Hängeregisterkästen hält Joss ebenfalls grosse Stücke: «Darin lassen sich Dokumente rasch vorsortieren. Denn liegt das Papier erst einmal waagrecht, wachsen die Stapel unkontrolliert.»
Längere Unterbrüche zwischen den Therapiestunden sind bei Menschen mit Erledigungsblockade keine Seltenheit. Auch Daniel ist nach einigen Sitzungen jeweils plötzlich abgetaucht. Aus Scham, Resignation – er weiss es selbst nicht genau. Doch die nächste Krise kam und mit ihr die Entscheidung, in die Praxis an der Hodlerstrasse in Bern zurückzukehren: selbstreflektiert, einsichtig und motiviert, sein Leben endlich in die Hand zu nehmen. So auch heute, mit einem Unterschied: Daniel hat einen stationären Entzug gemacht und lebt nun in einer Institution für betreutes Wohnen. Seine Rechnungen zahlt der Sozialdienst, was ihn sichtlich erleichtert. Ruth Joss geht mit ihm einen Fragebogen durch, um seinen Leidensdruck in verschiedenen Lebensbereichen zu erfassen. Damit kann sie herausfiltern, wo der grösste Handlungsbedarf besteht, und zugleich die Fortschritte messen. Tatsächlich sind Daniels Werte überall besser als beim letzten Mal. Er lacht, als er die Höhe seiner Papierstapel angeben soll: «Davon gibt’s gerade keine.» Nun will er Schritt für Schritt ins Arbeitsleben zurückzufinden, abstinent bleiben und seinen Schuldenberg abtragen. Er überlegt, ob er einen Beistand suchen soll. Denn noch einmal so tief fallen will er auf keinen Fall.

QUASI EIN DOPPELLEBEN
Erledigungsblockaden sind verbreitet. Rund 20 Prozent der Bevölkerung leiden daran, wobei es unterschiedliche Ausprägungen gibt: von milden Formen, die keine gravierenden Probleme mit sich bringen, bis hin zu Messie-Syndrom oder Verwahrlosung. Ob jemand Hilfe benötigt, hängt vom Leidensdruck ab, aber auch von den Konsequenzen. Dazu gehören Depressionen oder Panikattacken ebenso wie vegetative Symptome oder Herz-Kreislauf-Beschwerden. Auf sozialer Ebene quält der Vertrauensverlust bei Bezugspersonen, im finanziellen Bereich die Schuldenlast oder der Jobverlust. Da ihre Schwierigkeiten so absurd wirken, versuchen die Betroffenen, ihr Problem bestmöglich zu verbergen. Manche führen quasi ein Doppelleben: Im Beruf erfolgreich, fühlen sie sich angesichts der zu Hause anstehenden Aufgaben wie gelähmt. Ersatzhandlungen oder kompensatorisches Verhalten, um dem Problem auszuweichen, sind typisch: Das kann telefonieren, ausgehen oder gamen sein, aber auch putzen oder exzessiver Sport.
Ausweichstrategien kennt auch Natalie. Sie arbeitet als Grafikerin Teilzeit in einem Verlag und hätte daneben Zeit und etliche Ideen für private Projekte. Stattdessen raucht sie Zigarette um Zigarette, starrt Löcher in die Luft und grübelt. «Es ist unerträglich», sagt sie, wippt dabei unablässig mit dem Fuss und krallt die Finger in die verschränkten Unterarme. «Manchmal putze ich die Fenster, um mich etwas aktiv zu fühlen.»

VIELES GEWOLLT, NICHTS GESCHAFFT
Eigentlich bezahlt Natalie einen Arbeitsplatz in einem Gemeinschaftsatelier. Hingegangen ist sie seit Monaten nicht mehr. «Die Geschäftigkeit der anderen gibt mir noch mehr das Gefühl, nichts auf die Reihe zu kriegen.» Natürlich fragen die Kollegen nach, weshalb sie nie auftauche. Dann flüchtet sie sich in Ausreden oder beantwortet die SMS einfach nicht mehr. Vor Kurzem hat sich die 29-Jährige entschlossen, eine ADHS-Abklärung zu machen, obwohl sie sich lange dagegen gewehrt hat. Nun hat sie die Diagnose schwarz auf weiss und versucht, mithilfe der Ergotherapeutin herauszufinden, wie sie sich ihr Leben damit am besten einrichtet. Wie lassen sich die negativen Auswirkungen in Schach halten? Wie kann sie ihr Selbstwertgefühl wieder aufbauen nach all den Jahren, die von Misserfolgen und Ablehnung geprägt waren?
Dass Erledigungsblockaden häufig mit ADHS einhergehen, beobachtet Ruth Joss schon länger: «Menschen mit ADHS sind oft kreativ und vielseitig interessiert. Sie haben tausend grossartige Ideen und berücksichtigen in ihren Überlegungen unzählige Aspekte. Doch ihre Entscheidungsschwäche kommt ihnen in die Quere.» Viele sind verunsichert, schaffen es nicht, Prioritäten zu setzen. Denn sich auf etwas festzulegen, bedeutet auch, gegen etwas anderes zu entscheiden und damit vielleicht Erwartungen zu enttäuschen. So nehmen sich die Betroffenen unrealistisch viel vor und setzen am Schluss nichts um.
Auch bei Natalie ist die Verunsicherung spürbar. Und Angst. Angst, nicht mithalten zu können mit Bekannten, die in verschiedener Hinsicht Erfolg haben; Angst, negative Gefühle auf sich zu ziehen; Angst, zu versagen. Seit Langem hat sie ein Grafikprojekt auf dem Tisch, das sie in zwei Tagen abgeben muss. Bisher hat sie nichts gemacht, jetzt drängt die Zeit. Doch da ist noch die Verabredung mit einer Freundin, die sie lange nicht gesehen hat. Ob sie das Treffen absagen soll, um zu arbeiten? Und wenn sie sich dann trotzdem nicht aufrafft? Ruth Joss schlägt ihr eine kurze Übung vor, um die Gefühle im Inneren besser wahrzunehmen. Denn dort, ist die Therapeutin überzeugt, ist Natalies Entscheidung längst gefällt.

DEN BERG BEZWINGEN
Fünf Minuten später ist klar, dass das Absagen der Verabredung keine Option ist. Ziel ist es folglich, die Arbeit daneben zu erledigen – und zwar rechtzeitig. Den Rest der Therapiesitzung nutzen die beiden Frauen, um die Zeit bis zur Projektabgabe zu strukturieren. «Oft steht zwischen meinen Patienten und ihrem Ziel ein riesiger Berg, der zur Blockade führt», erklärt Joss. «In der Therapie geht es darum, die Gefühle darunter zu erkennen und sie zu verändern. Danach gliedern wir das, was es zu erledigen gilt, in Einzelschritte.» Dazu lässt die Ergotherapeutin ihre Patienten bisweilen Post-its beschriften. Diese werden in einer sinnvollen Reihenfolge aufeinandergeklebt und dann eins nach dem anderen abgearbeitet. Was eben unüberwindbar schien, ist plötzlich überschaubar und zu schaffen.
Natalie soll als Erstes einen groben Arbeitsentwurf machen, den sie Ruth Joss noch am selben Abend zuschicken wird. Mit solchen «Kontrollen», aber auch mit Nachfragen oder Erinnerungen per SMS, hat die Therapeutin gute Erfahrungen gemacht. Am Anfang sind sie meist engmaschig nötig, mit der Zeit nur noch hie und da. Wichtig sei es, von Anfang an Erfolgserlebnisse zu schaffen und diese zu feiern. Dafür müsse man sich zuerst klar werden, was man sich vornehmen will, und es dann auch verwirklichen. In Joss’ Kurzformel ausgedrückt: «Erfolg bedeutet, Vorsätze umzusetzen.» //


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