Beim Interventionsprogramm COPCA zur Behandlung neuromotorischer Einschränkungen bei Kleinkindern nehmen Eltern eine aktive Rolle ein. Damit dies trotz Sprachhürden und kulturellen Unterschieden auch bei Familien mit Migrationshintergrund gelingt, braucht es Offenheit und Wertschätzung, sagt COPCA-Coach Schirin Akhbari Ziegler.
von Tobias Hänni
Ab wann wird einem Kleinkind das Sitzen beigebracht? Das hängt ganz davon ab, in welchem Land es aufwächst. «Eine Mutter aus der Ukraine war fast ein wenig schockiert, als ich ihr dreimonatiges Baby in eine Sitzposition bringen wollte», erzählt Schirin Akhbari Ziegler. In der Schweiz gelte die Auffassung, dass man Babys das Sitzen relativ früh beibringen kann. Nicht so in der Ukraine. «Die Mutter hat in ihrer Heimat gelernt, dass man Kinder vor sechs Monaten auf keinen Fall hinsetzen darf, weil dies dem Rücken schade.»
Das Beispiel veranschaulicht die kulturellen Eigenheiten, denen die Expertin für pädiatrische Physiotherapie am ZHAW-Departement Gesundheit bei ihrer Arbeit mit Migrant:innen begegnet. Als selbständige Physiotherapeutin coacht Akhbari Ziegler Eltern von Säuglingen mit einer neuromotorischen Einschränkung. Dabei arbeitet sie nach dem Frühinterventionsprogramm «COPCA – Coping with and Caring for Infants with special Needs». Das Programm verfolgt einen familienzentrierten Ansatz: Die Eltern, teils auch die Geschwister, nehmen eine aktive Rolle in der Behandlung ein, motivieren das Kind zu Eigenaktivität und integrieren die Therapie in den Alltag.
Übersetzungstools haben Grenzen
«Die Kommunikation ist bei COPCA absolut zentral», sagt Akhbari Ziegler. Als Coach definiert sie mit den Eltern gemeinsam die Therapieziele und findet mit ihnen heraus, welche Vorgehensweise am besten passt. «Der Coach instruiert nicht einfach, sondern hört aktiv zu, stellt Fragen, gibt Feedbacks und hilfreiche Informationen.» Bei der Arbeit mit Migrant:innen stellen Sprachbarrieren denn auch eine der grössten Herausforderungen dar. «Wenn die Deutsch- oder Englischkenntnisse der Eltern nicht ausreichen, setze ich häufig ein Übersetzungsprogramm ein», sagt die Professorin. Programme wie Deepl oder Google Translate seien hilfreich, stiessen aber auch an ihre Grenzen. «Bei der ukrainischen Mutter wäre der Hinweis auf den wissenschaftlichen Stand zum Thema Sitzen zu komplex gewesen, um ihn mithilfe eines Tools zu vermitteln.» Gewisse Sprachen haben die Programme zudem gar nicht im Repertoire, wie Akhbari Ziegler beim Coaching einer äthiopischen Familie feststellen musste.
Neben der mündlichen Kommunikation nutzt sie deshalb häufig nonverbale Verständigungsmittel – Gesten, Bilder, Zeichnungen oder auch das Vorzeigen von Aktivitäten. Dolmetscher:innen hat sie dagegen bei COPCA noch nie beigezogen. «Bis jetzt konnte ich mit den Eltern die Sprachhürden immer überwinden.» Übersetzer:innen seien in der ambulanten Physiotherapie ohnehin eine Seltenheit, so Akhbari Ziegler. «Wenn überhaupt, kommen sie bei komplexen Fällen zum Einsatz – am runden Tisch mit der Kinderärztin, weiteren Fachpersonen und den Eltern.»
Spielen ist nicht überall üblich
Rund die Hälfte der Eltern, die sie coacht, hat einen Migrationshintergrund. Das Coaching von Migrant:innen setze eine offene und wertschätzende Haltung gegenüber den Menschen und ihrer Kultur voraus, sagt die Leiterin des Schwerpunkts Pädiatrie im MSc Physiotherapie. «Es geht darum, ihnen als gleichwertige Partner:innen zu begegnen.» Dass das Coaching in der Regel bei der Familie zu Hause stattfindet, trage zur Zusammenarbeit auf Augenhöhe bei. «Ich bin als Gast bei den Familien, was zu einer ausgeglichenen Beziehung führt.» Ihr eigener Migrationshintergrund sei ebenfalls hilfreich, sagt Akhbari Ziegler, deren Vater aus dem Iran stammt. «Das öffnet häufig Türen.»
Beim Coaching von Migrant:innen berücksichtigt die Physiotherapeutin immer auch kulturspezifische Eigenheiten. «Die Behandlung soll an den Alltag der Familie und an bestehende Eltern-Kind-Interaktionen angepasst werden», erläutert sie. Und diese Interaktionen unterscheiden sich teilweise deutlich von dem, was man sich in der Schweiz gewohnt ist. «Hierzulande agieren Eltern häufig über das Spiel mit dem Kind. Das ist in gewissen Kulturkreisen völlig unüblich», so Akhbari Ziegler. Diese Erfahrung habe eine Kollegin mit einer muslimischen Familie gemacht. «Sie hat die Eltern gebeten, Spielzeuge von zu Hause mitzubringen – doch sie hatten keine.» Die Familie sei ausserdem stark patriarchalisch geprägt gewesen, was den Einbezug des Vaters erschwert habe. «Dass der Vater mit dem Baby spielt, passte nicht in dieses Familiensystem.» In solchen Fällen könne das Coaching auf andere Aktivitäten fokussieren, sagt Akhbari Ziegler, beispielsweise auf das gemeinsame Essen. «Und anstelle des Vaters können andere Familienmitglieder stärker einbezogen werden, etwa die älteren Kinder.»
Teilnehmer:innen aus der ganzen Welt
Nicht nur in der Arbeit mit den Familien, auch in der Ausbildung neuer COPCA-Coaches bewegt sich Schirin Akhbari Ziegler in einem kulturell diversen Umfeld: Für die Weiterbildung, die sie leitet, kommen pädiatrische Physio- und Ergotherapeut:innen aus der ganzen Welt ans ZHAW-Departement Gesundheit. «Bisherige Teilnehmende kamen aus Westeuropa, aber auch aus Brasilien, Israel und der Türkei. Und für den nächsten Kurs gibt es Interessent:innen aus Mexiko, Japan und Äthiopien.» Der Kurs wird hybrid durchgeführt. Es gibt Module vor Ort, daneben coachen die Teilnehmenden während der Weiterbildung Familien in ihrer Heimat. Die Videos, die sie davon im Kurs teilen, erlauben spannende Einblicke. «Das eine Video zeigt das Leben einer orthodoxen jüdischen Familie, im nächsten taucht man in den Alltag im brasilianischen Regenwald ein.» So entstehe in der Weiterbildung ein Austausch und dadurch ein besseres Verständnis zwischen den Kulturen.
Am Departement Gesundheit sollen künftig auch COPCA-Ausbildnerinnen trainiert werden, damit diese danach die Weiterbildung in ihrer Heimat anbieten können. Ob das Programm an die dortigen Gegebenheiten angepasst werden muss, soll eine Befragung jener Eltern zeigen, die in anderen Ländern daran teilgenommen haben. Die Auswertung der Befragung laufe derzeit noch, sagt Akhbari Ziegler. Was die Erwartungen der Eltern an das Coaching betrifft, zeigen erste Ergebnisse keine grossen Unterschiede zwischen den Ländern. «Denn die Sorgen und Bedürfnisse von Eltern, die ein Kind mit einer Einschränkung haben, sind universell.» //