Die vielen Effekte des Lockdowns

Die pandemiebedingten Einschränkungen haben die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen stark belastet. Betätigungen in der Familie wirken sich auf solche Situationen positiv aus. «Im gemeinsamen Tun entwickelt sich eine Magie, die stärkt», sagt Ergotherapeutin Beate Krieger.

VON EVELINE RUTZ

Geschlossene Läden, Schulen und Restaurants. Leere Strassen und aus dem Radio der Aufruf, Kontakte zu vermeiden. Mit dem Lockdown änderte sich im März 2020 der Alltag vieler Familien radikal. Von einem Tag auf den anderen verbrachten sie die meiste Zeit zu Hause. Sie arbeiteten und lernten online, erledigten Hausarbeiten und begegneten anderen Menschen vorwiegend übers Internet. «In dieser Ausnahmesituation haben psychische Belastungen bei Kindern und Jugendlichen zugenommen», sagt Julia Dratva, Forschungsleiterin am Public Health Institut der ZHAW.

«Die meisten Längsschnittstudien belegen eine signifikante Abnahme des Wohlbefindens in der anfänglichen Pandemiephase und eine Zunahme von Ängsten, depressiven Symptomen sowie Suizidgedanken.» Verschlechtert hat sich insbesondere der Zustand von Kindern, die schon vor der Pandemie eine psychiatrische Diagnose hatten. «Sie litten darunter, dass sie weniger Erfahrungen machen konnten, die ihnen Freude und Selbstwirksamkeit vermitteln», sagt Beate Krieger. Die Ergotherapeutin arbeitet mit Kindern und Jugendlichen im gemeindenahen Setting. Während der letzten zwei Jahre erhielt sie gehäuft Neuanmeldungen von der Kinder- und Jugendpsychiatrie. «Es bräuchte dringend mehr Therapieplätze», sagt sie.

Wie sich das Leben veränderte

Durch die pandemiebedingten Einschränkungen fielen stabilisierende Faktoren weg. Kinder und Jugendliche mussten auf Treffen mit Freundinnen und Freunden verzichten; sie waren sozial weniger stark eingebunden. Sie kamen zudem seltener dazu, sich zu bewegen. Wie Studien zeigen, spielte das Umfeld dabei eine wesentliche Rolle. Kinder, die Zugang zu einem Garten hatten, bewegten sich tendenziell mehr als Gleichaltrige, denen diese Möglichkeit fehlte. Jugendliche reduzierten ihre körperliche Aktivität stärker als Kleinkinder. «Diese haben ihrem Bewegungsdrang offenbar selbst in beengten Verhältnissen nachgegeben», sagt Julia Dratva, die mit Frank Wieber einen Literature Screening Report zu den Auswirkungen der coronabedingten Massnahmen herausgibt.

Sozioökonomische Unterschiede lassen sich ebenso bei der Ernährung und der Bildschirmzeit ausmachen. So deuten Erhebungen darauf hin, dass sozioökonomisch schlechter gestellte Gruppen häufiger zu Süssigkeiten griffen und sich weniger gesund ernährten. «Wir beobachten anhand der europäischen Literatur eine zunehmende soziale Schere», sagt Julia Dratva. Alles ist allem wurde während des Lockdowns allerdings mehr Obst und Gemüse gegessen; Convenience-Food kam insgesamt seltener auf den Tisch. Familien nahmen die Mahlzeiten häufiger gemeinsam ein. Die Bildschirmzeit hat in allen Altersgruppen zugenommen. Kinder nutzten den PC nicht nur für das Homeschooling. Da andere Freizeitaktivitäten wegfielen, konsumierten sie verstärkt soziale Medien, spielten Games oder sahen fern. Das Schlafverhalten der Heranwachsenden entwickelte sich positiv: Sie schliefen länger und zu anderen Zeiten. «Auch da lohnt es sich, genau hinzuschauen und die Lehren daraus zu ziehen», sagt die Wissenschaftlerin.

Gemeinsam tätig in der Familie

Beate Krieger, die am Institut für Ergotherapie unterrichtet, berichtet ebenfalls von positiven Veränderungen. «Viele Menschen hatten mehr Zeit für Begegnungen innerhalb der Familie», sagt sie. Sie haben zusammen gekocht, Hausarbeiten erledigt und gespielt. Sie haben dabei Emotionen geteilt und gemeinsam Sinnhaftigkeit erfahren. «Beim gemeinsamen Tun entwickelt sich eine Magie, die stärkt», sagt die Ergotherapeutin. Jüngere Kinder fühlen sich aufgehoben und lernen, indem sie die Eltern nachahmen. Jugendliche erleben dabei Selbstwirksamkeit. Wichtig ist es dabei, nicht anzuleiten, wie man beispielsweise den Boden aufnimmt, sondern gemeinsam Lösungen zu finden. Beate Krieger bezieht sich auf die Theorie «Co-Occupation»: «Eltern sollten zulassen, dass etwas weniger perfekt und effizient erledigt wird. Es geht um das gemeinsam erfahrene Tun.» Neben Beruf, Schule, ausserfamiliärer Betreuung und Hobbys habe dies leider immer weniger Platz. «Eltern machen unglaublich viel für ihre Kinder, aber wenig zusammen mit ihnen», so die ZHAW-Dozentin. Es sei für Eltern auch entlastend, wenn sie ihre Kinder vermehrt in die anfallenden Tätigkeiten einbeziehen.

Die Schule gibt eine Struktur

«Dass die Schulen im Mai 2020 wieder aufgingen, war extrem wichtig», sagt Julia Dratva. Damit hätten Kinder und Jugendliche wieder einen stabilen Tagesablauf gehabt, was die psychische Gesundheit positiv beeinflusse. Die Forscherin führt zudem ins Feld, dass Heranwachsende im schulischen Kontext wichtige Entwicklungsstufen durchlaufen. In der Schweiz war ihnen dies nach einem vergleichsweise kurzen Lockdown wieder möglich. «Andere Länder müssen mit stärkeren gesundheitlichen Konsequenzen rechnen.»

Wichtig sei es nun, über einen längeren Zeitraum zu analysieren, welche Effekte kurzfristiger und welche langfristiger Natur seien – ob Ängstlichkeit beispielsweise abnehme, wenn wieder mehr Normalität einkehre. Mit dem Krieg in der Ukraine drängten sich allerdings neue belastende Themen in den «normalen» Alltag.

Schulen tragen zur Früherkennung von psychischen Erkrankungen bei. «Lehrpersonen merken relativ früh, wenn sich ein Kind verändert», sagt Julia Dratva, die zu dem Thema eine Umfrage an den Winterthurer Schulen geleitet hat. Ein Drittel der befragten Lehrpersonen fühlt sich im Umgang mit belasteten Kindern kompetent oder sogar sehr kompetent. «Wer bereits mit psychisch belasteten Kindern zu tun hatte, stuft sich tendenziell kompetenter ein.» Als wenig erfahren schätzen sich 23 Prozent ein. Was einzelne Störungsbilder betrifft, bestehen punktuell Wissenslücken. Viele Lehrinnen und Lehrer wünschen sich mehr Tools, Lehrmittel sowie Unterstützung durch externe Fachpersonen. Die Departemente Gesundheit und Angewandte Psychologie der ZHAW haben geplant, Materialien für den schulischen Kontext zu erarbeiten. Unter dem Motto «Take Care» haben sie bereits Broschüren für Arztpraxen, Jugendliche und Eltern von sechs- bis zwölfjährigen Kindern herausgegeben. Die Familie sei für die meisten Kinder ein Ort, an dem sie sich sicher und geborgen fühlten, sagt Beate Krieger. Diese gelte es zu stärken. «Sich auf gemeinsame Tätigkeiten einzulassen, zweckfrei zu spielen oder helfend tätig zu sein, macht glücklich.» //

Vitamin G, S. 11


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