Bauteile wiederverwenden und CO2-Emissionen reduzieren

Aus alt mach neu: Beim sogenannten zirkulären Bauen werden durch Abbruch scheinbar nutzlos gewordene Bauteile in Neubauten wiederverwendet, um damit neue Räume zu erschaffen. Wie dieses Prinzip beim Bauen angewendet werden kann, zeigen Andreas Sonderegger und Eva Stricker in ihrem Gastbeitrag.

Das Bauen mit wiederverwendeten Bauteilen wird in der europäischen Architekturszene derzeit heiss diskutiert. Ausgediente Bauelemente, die aber noch jahrzehntelang halten, werden so nicht zerstört, sondern für neue Bauten wiederverwendet. Das spart Ressourcen und reduziert den Energieverbrauch sowie die Treibhausgasemissionen in der Erstellungsphase von Bauten. Mit der Aufstockung des Kopfbaus der Halle118 hat man auch mitten in Winterthur ein Gebäude realisiert, das mehrheitlich aus wiederverwendeten Teilen gebaut ist. Gegenüber einer herkömmlichen Bauweise liessen sich so die CO2-Äquivalente um 59 Prozent reduzieren. Dieses einmalige Pilotprojekt wird seit 2018 vom ZHAW-Institut Konstruktives Entwerfen wissenschaftlich begleitet und ausgewertet. Die ausführliche Dokumentation und Analyse des Fallbeispiels verfolgt das Ziel, die gewonnenen Erkenntnisse breit zugänglich und nutzbar zu machen und auf diesem Weg wirksame Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit für eine sowohl ökologisch als auch architektonisch nachhaltige Baukultur zu leisten.

Ein 1:1-Modell veranschaulicht den Aufbau der Fassade beim Projekt «K.118». (Bild: Jusuf Supuk)

Treiber und Bremser des Bauens mit wiederverwendeten Bauteilen

Während noch vor wenigen Jahren das Wiederverwenden von Bauteilen an der Realität scheiterte, scheint die noch ungewohnte neue Praktik heute plötzlich im Rahmen des Möglichen zu liegen. Sie passt zum Zeitalter der Digitalisierung. Denn diese macht es erst möglich, Baubestände rasch und detailliert aufzunehmen, zu katalogisieren und die daraus resultierenden gewaltigen Datenmengen effizient zu verwalten und nutzbar zu machen. Dazu braucht es die passenden Akteur:innen: Künftige Planergenerationen sind Digital Natives, die es gewöhnt sind, diese Daten zu bewirtschaften, kreativ zu verwenden und in 3D-Modelle umzusetzen.

Die entwerferischen Potenziale des Bauens mit wiederverwendeten Bauteilen sind entgegen gewissen Vorurteilen unermesslich vielfältig. Dieses Entwerfen führt zu einer anderen Art von Architektur, aber sicherlich nicht zu einer Verarmung der architektonischen Disziplin. Es kann sich auf den Erfindungsreichtum eher beflügelnd auswirken, wie verschiedene Entwurfsprojekte von ZHAW-Studierenden gezeigt haben. Selbst bei der Verwendung von identischen Bauteilsammlungen für eng definierte Entwurfsaufgaben weist das Spektrum von konzeptuellen und konstruktiven Lösungsansätzen eine überraschende Bandbreite auf.

In der harten Baurealität noch schwer umzusetzen

Ermutigend ist der Blick auf die rechtliche Situation des Bauens mit wiederverwendeten Bauteilen. Sie präsentiert sich beispielsweise im Haftungsrecht und der Produktegarantie verblüffend klar. Unerwartet zahlreich sind jedoch die praktischen Hürden, die es in der baulichen Umsetzung zu überwinden gilt. Denn was aus materieller Umsicht Sinn macht und sich von der Energiebilanz her geradezu aufdrängt, trifft auf eine Baurealität, die darauf kaum vorbereitet ist. Das gilt für alle Bau- und Planungsprozesse, die völlig neu zu denken und organisieren sind. Rasch stellen sich auch ökonomische Fragen: Wer kommt für den anfallenden Mehraufwand an Planung, Logistik und Lagerhaltung auf? Wer trägt die dadurch entstehenden Risiken?

Angebot auf Gebäudehülle und Ausbau konzentriert

Der Markt für wiederverwendete Bauteile ist hierzulande noch bescheiden. Trotz Fortschritten verläuft die entsprechende Entwicklung eher beschaulich. In Belgien gibt es heute bereits zahlreiche auf Wiederverwendung spezialisierte Lieferant:innen. Aber auch dort fällt auf, dass sich das Angebot an Bauteilen auf Gebäudehülle und Ausbau konzentriert. Für einen grossen Teil der bestehenden Bausubstanz kommt die Bauteilwiederverwendung nur eingeschränkt in Betracht. Insbesondere massive Primärstrukturen, die den Löwenanteil an der Baumasse ausmachen, lassen sich kaum zerstörungsfrei dekonstruieren. Folglich werden diese in Recyclingprozessen zu Rohstoffen zerlegt und aufbereitet. Innenausbauten, Holz- und Stahlbaustrukturen eignen sich besser zur Wiederverwendung, aber auch nur, wenn sich die Verbindungen der Bauteile beschädigungsfrei demontieren lassen. Das ist oftmals nicht der Fall.

Beim Projekt «K.118» am Lagerplatz in Winterthur bilden gebrauchte Stahlträger die primäre Tragstruktur. (Bild: Baubüro in situ)

«Autophag» entwerfen lernen

Der Blick auf die praktischen Probleme der Umsetzung lässt den Respekt vor den Pionier:innen der Disziplin wachsen. Häufig finden sich bei den Pionierbauten Planer:innen, Ausführende und Bauträgerschaft in Personalunion. Damit in Zukunft nicht nur Philanthropen am Werk sind, braucht es sicherlich regulatorische Anreizsysteme. Noch dringlicher ist aber ein Bewusstseinswandel bei den Akteur:innen. Es ist kein Zufall, dass eine Grösse im Immobilienmarkt wie die SBB ihren gesamten Infrastruktur- und Baubestand inventarisieren lässt, um ihn zu bewirtschaften, denn bei vielen Betriebseinrichtungen der Bahn ist eine Wiederverwendung auch aus ökonomischen Gründen interessant. Umdenken sollten aber insbesondere auch die Architekturschaffenden. In Anlehnung an den Begriff der Autophagozythose, dem Prozess der Wiederverwertung von eigenen Bestandteilen innerhalb von Zellen, müssten sie gewissermassen «autophag» zu entwerfen lernen. Denn wer wüsste besser, wo Bauteile zur praktischen Wiederverwendung frei werden, als jene, die Ersatzneubauten planen? Und warum liegt es nicht auf der Hand, vor Ort abgebautes Material gleich wieder in den Neubau einzuplanen? Wenn wir solchen Fragen ernsthaft auf den Grund zu gehen versuchen, werden sich die Konturen eines künftigen Berufsbilds abzeichnen, welches sich von den heute gängigen Mustern fundamental unterscheidet.

Andreas Sonderegger ist Co-Leiter des ZHAW-Instituts Konstruktives Entwerfen (IKE) am Departement für Architektur, Gestaltung und Bauingenieurwesen. Eva Stricker ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am IKE. Seit 2018 untersuchen sie am IKE das architektonische und baukulturelle Potenzial, das die Wiederverwendung von Bauteilen freisetzt. Die Ergebnisse aus Forschung und Lehre wurden zusammen mit individuellen Beiträgen im Buch Bauteile wiederverwenden. Ein Kompendium zum zirkulären Bauen (Park Books, 2021) veröffentlicht.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert