Pressemeldungen über einen geplanten Stellenabbau, wie im Anfang dieses Jahrs bei Novartis oder Rieter, führen jeweils zu einem kurzen Aufschrei. Derartige Meldungen machen eins deutlich: Mitarbeitende sind für Unternehmen in erster Linie ein Kostenfaktor. Der finanzielle Erfolg des Unternehmens steht im Vordergrund. Dass die Mitarbeitenden jedoch einer der wichtigsten Faktoren in der Wertschöpfungskette eines Unternehmens sind, wird dann häufig ignoriert. Das Freisetzen von Mitarbeitenden bedeutet immer auch, vorhandenes Human Capital zu vernichten. Human Capital, welches die Mitarbeitenden als erworbenes Wissen, vorhandene Kompetenzen und Erfahrungen aus dem Unternehmen heraustragen.
Heute besteht in der Arbeitswelt eine zunehmende Unsicherheit im Hinblick darauf, welche Auswirkungen die Digitalisierung, der Fachkräftemangel oder andere Trends haben werden. Wie viele Mitarbeitende weiterhin eine berufliche Perspektive innerhalb eines Unternehmens haben und im Arbeitsprozess verbleiben können, ist aktuell für viele Unternehmen nicht klar zu definieren.
Prof. Dr. Andrea Müller und Kuno Ledergerber vom Zentrum für Human Capital Management der ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften beschäftigen sich seit Jahren mit den Trends am Arbeitsmarkt und damit, wie Unternehmen diesen proaktiv begegnen können. Wiederholt stellten sie fest, dass Massnahmen zum Erhalt der Arbeitsmarktfähigkeit eher Lippenbekenntnisse bleiben, anstatt konzeptionell durchdacht und umgesetzt zu werden.
Der Outplacement-Spezialist Dr. Nadig + Partner stellte einen anonymisierten Datensatz von 510 Klienten[1] der Jahre 2015–2018 für eine Analyse zur Verfügung. Diese Daten ermöglichten es Andrea Müller und Kuno Ledergerber Hypothesen über den Arbeitsmarkt zu prüfen. So zeigte sich, dass vor allem 51–55-Jährige im Tertiärsektor von einer Freisetzung betroffen sind. Der Trennungsgrund sind dabei vor allem unternehmensinterne Reorganisationen. Geschlechtsspezifische Unterschiede zeigten sich statistisch signifikant bezüglich RAV-Bezug, Suchdauer und Salär-Entwicklung. Männer, die im Sekundärsektor freigesetzt werden, beziehen signifikant länger RAV und suchen länger, bis sie eine neue Arbeitsstelle finden. Männer in der Altersgruppe von 51–55 Jahren erhalten nach erfolgreicher Stellensuche signifikant häufiger einen geringen Lohn als bei ihrem vorherigen Arbeitgeber.
Die Daten zeigten zudem, dass eine neue Arbeitsstelle grundsätzlich in der gleichen Branche und der gleichen Funktion gesucht wird. Interessante, statistisch signifikante Unterschiede zeigten sich auch bezüglich des Ausbildungsniveaus. So finden Fachhochschul-Absolventen und Klienten mit abgeschlossener Lehre und Weiterbildung schneller eine neue Arbeitsstelle als Universitäts-Absolventen. Letztere wechseln häufiger vom KMU zu einem Grossunternehmen.
Was machen diese Ergebnisse deutlich? Besonders zwei Ergebnisse scheinen offensichtlich. Einerseits ist es für Männer der Altersgruppe Anfang 50 besonders schwer, sich kontinuierlich in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Andererseits können sich Arbeitnehmende mit einem Universitätsabschluss nicht darauf verlassen, mit ihrem Abschluss eine Garantie auf Arbeitsmarktfähigkeit zu erlangen.
Doch wer ist dafür zuständig, die Arbeitsmarktfähigkeit der Mitarbeitenden (bis zur Pensionierung) zu erhalten? Die Unternehmen? Die Mitarbeitenden selbst? Es dürfte im Interesse beider sein, doch ernsthaft darum zu kümmern, scheinen sich weder die Unternehmen noch die Mitarbeitenden. Es ist daher dringend notwendig ein Bewusstsein zu schaffen, dass sowohl Unternehmen als auch Mitarbeitende in der Pflicht sind, ihr Human Capital und damit ihre Arbeitsmarktfähigkeit zu mehren.
In Unternehmen gilt es vor allem, Lösungen für die Personalentwicklung, individuell abgestimmt auf die Mitarbeitenden zu forcieren sowie Massnahmen zu definieren, um die Mitarbeitenden weiterzuentwickeln und arbeitsmarktfähig zu halten. Neue Arbeitsmethoden, die sich in Folge der Digitalisierung etablieren, bieten hier wertvolle Hilfen an. So ermöglicht zum Beispiel agiles Arbeiten und damit oft verbunden bereichsübergreifende Projektarbeit ein Überdenken von Berufsbildern und starren Stellenprofilen hin zu Rollendefinitionen, die besondere Kompetenzen der Mitarbeitenden besser in den Wertschöpfungsprozess einbinden können. Mitarbeitende sind angehalten zu reflektieren, welche Kompetenzen sie mitbringen, welche ihrer Kompetenzen sie gerne einsetzen und welche ihrer Kompetenzen der Arbeitsmarkt zukünftig überhaupt braucht.
Brigitte Reemts und Dr. Petra Bitzer-Gross, welche für Dr. Nadig + Partner Unternehmen in Fragen der Freisetzung beraten und Mitarbeitende bei der beruflichen Standortbestimmung und Neuorientierung begleiten, sind sich einig: «Viele unserer Klienten wünschen sich, sie hätten bereits 10 Jahre vor der Freisetzung eine Standortbestimmung gemacht».
[1] Beschreibung der Stichprobe: 28 % Frauen, 72 % Männer; Branchenverteilung: 8 % Primär-, 25 % Sekundär-, 53 % Tertiärsektor, 14 % ohne Angabe; Altersverteilung: 10 % bis 40, 13 % 41-55, 21 % 46-50, 27 % 51-55, 15 % ab 56 Jahre, 15 % ohne Angabe; Ausbildungsabschluss: 38 % Universität, 19 % Fachhochschule, 21 % Lehre und Weiterbildung, 8 % Berufslehre, 14 % ohne Angabe; RAV-Bezug: 40 % ja, 48 % nein, 12 % ohne Angabe