Täuscht es oder ebbt das Lamento in den Medien tatsächlich ab? Jedenfalls scheint das Thema nicht unbedingt als Füller für das sich nähernde Sommerloch gesetzt.
Kräftige Zunahme der Erwerbsbevölkerung absehbar
Das könnte u.a. mit den neusten Bevölkerungsprognosen des Bundesamtes für Statistik (BFS)* zusammenhängen. Nebst der allgemein prognostizierten, je nach Kanton unterschiedlichen Bevölkerungszunahme, interessiert hier vor allem die erwartete Zunahme der Erwerbsbevölkerung im Alter zwischen 20 und 64 Jahren um sage und schreibe 8 Prozent. Noch etwas grösser ist das vorausgesagte Wachstum bei den Jüngeren, nämlich 13 Prozent. Wo bleibt da der bis anhin als Horror-Szenario zelebrierte demographische Knick bei der Erwerbsbevölkerung? (Diese Frage ist übrigens gesondert von den Problemen der Finanzierung der Sozialwerke der Altersvorsorge zu betrachten, wo es dann schon anders aussieht.)
Künftig kaum Mangel, eher Überfluss an Arbeitskräften
Es sei die Prognose gewagt, dass angesichts dieses wahrscheinlichen Wachstums der Erwerbsbevölkerung, der allgemein zu erwartenden wirtschaftlichen Entwicklung und der bevorstehenden digitalen Transformation nicht etwa ein Mangel, sondern vielmehr ein Überfluss an Arbeitskräften zu bewältigen sein wird. Und zwar auch an gut Qualifizierten, ja selbst in den MINT-Qualifikationen kann damit gerechnet werden, dass ausreichend Ausgebildete zur Verfügung stehen. Wo es nach wie vor Probleme geben könnte ist in unattraktiven Branchen mit schwierigen Arbeitsbedingungen.
Medienhype und Arbeitsmarktrealität schon lange zwei verschiedene Dinge
Aber auch bis anhin war die Situation keineswegs so dramatisch, wie von einer erregten HR-Community und den Medien dargestellt. Die Preisentwicklung in Märkten sagt doch Entscheidendes über das Verhältnis von Angebot und Nachfrage. Und hier zeigt es sich, dass die Reallöhne seit Mitte der 90er-Jahre nur noch schwach zulegen – jedenfalls weit weniger als die Produktivität – und dass der Anteil der wenig Qualifizierten und des sogenannten Mittelstands an der Lohnsumme tendenziell insgesamt rückläufig ist. Wie immer man den Mittelstand soziologisch definiert, er umfasst die Fachkräfte. Wären diese aber tatsächlich knapp, würde deren Preis steigen und nicht stabil bleiben oder gar sinken. Dass diese Entwicklung auch in Zukunft anhält, ergibt sich aus Verlautbarungen der Notenbanken, welche europaweit, auch in der Schweiz, eine hohe Zahl von Arbeitssuchenden und Überkapazitäten in den Unternehmen feststellen. Wären grössere Arbeitsmarktsegmente tatsächlich ausgetrocknet, würde sich eine Lohn-Preis-Spirale in Gang setzen, womit in absehbarer Zeit jedoch niemand rechnet. Auch für Deutschland hegten Experten des Instituts für Wirtschaftsforschung bereits mitten im deutschen Boom Zweifel am Mangel an Fachkräften (Studie von November 2010). In Branchen mit unattraktiven Arbeitsbedingungen wird es allerdings immer Probleme geben, geeignete qualifizierte und vor allem motivierte Arbeitskräfte zu finden.
Das untrügliche Gespür der Menschen für diese Realität zeigt sich in den Sorgenbarometern, wo die Arbeitslosigkeit seit Jahren oben steht. Ferner dürfte die Tendenz zum Offshoring von qualifizierten Tätigkeiten an Standorte mit bedeutend tieferen Arbeitskosten und gleichwohl hohem Ausbildungsniveau die Zahl qualifizierter Arbeitsplätze weiter senken. Dieselbe Wirkung ist von der zunehmenden Informatisierung auch von qualifiziertem Know-how zu erwarten.
*BfS, Zukünftige Bevölkerungsentwicklung, Szenarien zur Bevölkerungsentwicklung der Kantone 2015-2045, Neuchâtel 2015 (erschienen am 22.6.2015)